In Media Veritas
Von Steinen und Käfern
6. September 2005
Vierzig Jahre nach Satisfaction und Yesterday veröffentlichen die Rolling Stones und Paul McCartney im Abstand von einer Woche ihre neuen Alben. Ob die Rangordnung im Rockolymp neu geschrieben werden muss, versucht der nach 1970 geborene Autor aus der Sicht der heute jungen Generation zu beantworten.

Schon kleine Kinder lernen in der Schule, dass Äpfel und Birnen unvergleichbar sind. Auch die Stones und Beatles lassen sich nicht vergleichen. Die Wurzel der Musik der Rolling Stones ist der amerikanische Rhythm & Blues, die Beatles war der Rock ‚n’ Roll von Elvis Presleys. Der Liverpooler Sound wurde als Skiffle und Mersey Beat bezeichnet. Die Beatles und die Stones gehörten zu den ersten Gruppen der so genannten britischen Invasion, welche die Rockmusik nach Amerika zurück brachte. Auch heutzutage läuft die Begegnung mit den Bands über die seit vier Jahrzehnten festgelegten Strickmuster. So lautet die klassische Frage der Rockszene noch immer Beatles oder Stones. Und die Medien lieben es, jeweils die nicht existierende Rivalität zwischen den Bands bzw. zwischen Mick Jagger und Paul McCartney zu zelebrieren. Selbst EMI Records, die mittlerweile die Rolling Stones und McCartney unter Vertrag hat, konnte der Versuchung nicht widerstehen, zu einer einzigen Listening Session einzuladen, bei der A Bigger Bang von den Stones und McCartneys Chaos And Creation In The Backyard vorgestellt wurden. Weshalb der Autor nun wider besseren Wissens Steine mit Käfern vergleicht, dies aber aus der Sicht des nach 1970 Geborenen.

Die Stones enttäuschen klassisch
Ihre beste Zeit hatten die Stones Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, in der Alben wie Let It Bleed, Sticky Fingers oder Exile On Main Street entstanden. Bewusst schürte das Rolling Stones Lager die Erwartungen hoch, ist doch A Bigger Bang mit über einer Stunde Spieldauer das längste Album seit dem 1972er-Exile On Main Street. Dass die Stones nicht nur die dienstälteste Rockband sind, sondern ein gut funktionierendes Grossunternehmen, belegt die Tatsache, dass ihre auf dem Bösebuben-Image aufgebaute Promotionskampagne eingeschlagen hat. Bereits anno 1991 warfen die Stones George Bush senior vor, den Golfkrieg bloss des Erdöls wegen geführt zu haben. Mick Jaggers heiligen Zorn auf sich gezogen hat nun George Bush junior mit seinem Irakkrieg. Im Song Sweet Neo Con wirft Jagger Bush vor, kein richtiger Christ und Patriot, sondern ein Heuchler und ein Sack Scheisse zu sein. Die ultrakonservativen und religiösen krochen Jagger auf den Leim und empörten sich entsprechend lauthals über den Song. Doch nehme Anstoss, wer sich daran stossen möchte, denn erstens kommt der Anti-Bushsong mindestens ein Jahr zu spät und zweitens leben die Herren Jagger und Richards seit bald drei Jahrzehnten mit ihren Steuertricks und exorbitant hohen Ticketpreisen – bis zu 500 Franken auf der aktuellen Tour – den von ihnen so kritisierten neoliberalen Geist vor. Passend, dass Jagger im Ausklang des Songs statt ein angewidertes Oh No ein müdes Yeah Yeah singt.

Das eigentliche Problem von A Bigger Bang ist nicht die mangelnde Glaubwürdigkeit der Band, sondern schlicht und einfach, dass die Stones auf die klassische Art versagen. Mit ihrer im Vergleich zur LP längeren Spielzeit verleitet die CD dazu, zu viel Material zu verwerten. Man nennt dies die CD-Falle, in welche die Stones munter musizierend getappt sind. Der Opener Rough Justice schraubt die Erwartungen derart hoch, dass sie von den wenigsten Songs erfüllt werden können. In Rain Fall Down ist die sexgeladene Luft des Rotlichtmillieus spürbar. Bei Back Of My Hand scheint Muddy Waters auferstanden zu sein, während die Disocnummer Laugh I Nearley Died in die Beine geht. Das von Keith Richards gesungene Infamy erinnert an Bob Dylan und ist ein letzter Höhepunkt auf dem Album. Der Rest, wie die Single Streets Of Love, ist B-Seiten würdig und taugt allenfalls noch in den Senderaster der Formatradios.

Per se ist A Bigger Bang weder ein gutes noch ein schlechtes Album, sondern bloss Mittelmass. Die Rolling Stones haben sich auf ihre musikalischen Stärken konzentriert, Mick Jagger und Keith Richards gaben sich auch beim Songwriting Mühe. Selbst, dass sie sich musikalisch nicht weiter ent-wickelt haben, ist nicht ein Nachteil. Bloss reicht heutzutage ein mittelmässiges Album nicht aus, um gegen die jungen Rockbands wie Franz Ferdinand oder The White Stripes bestehen zu können.

McCartney legt ein beatleswürdiges Album vor
Eine Erfahrung, die Paul McCartney bereits machen musste. Zwar ist er nach wie vor der erfolgreichste Popmusiker, und seine beiden letzten Alben Flaming Pie (1997) und Driving Rain (2001) verkauften sich im angelsächsischen Sprachraum ordentlich. Dennoch liegt sein letzter Millionenhit, Hope Of Deliverance, schon 12 Jahre zurück. Ursache des für seine Verhältnisse kommerziellen Misserfolges war nicht die Technobewegung sondern die Tatsache, dass McCartneys Alben der 80er- bis Mitte 90er Jahren zu berechenbar, ohne überraschende Ideen, geworden waren. Erst nach der Beatles Anthology kehrte er zum simplen Songwriting zurück und schrieb mit Calico Skies, Heaven On A Sunday, Spinning On An Axis oder Riding Into Jaipur Songs, die auch auf jedem Beatlesalbum ihren Platz gefunden hätten. Und live gab er dem Publikum, was es wollte, während seiner letztjährigen 04 Summer Tour bestand seine Setliste zu 80% aus Beatlessongs. Dass gerade dieser Overkill an Beatlesmaterial und McCartneys verletzte Eitelkeit, nicht mehr der grösste Hitlieferant zu sein, sich heilsam auf das neue Album auswirken sollten, war nicht zu erwarten.

Zumindest mit der Hittauglichkeit hapert es beim neuen Album. Dies liegt nicht an der Single Fine Line sondern am Produzenten Nigel Goodrich. Goodrich, bekannt für seine düsteren Klangbilder bei Radiohead, taugt nicht zu Hitsingles. Und doch ist die Wahl ein Glücksgriff, denn das Aufeinandertreffen von Radiohead und den Beatles ist ein stetiger Kampf zwischen der Sonne und den dunklen Wolken. Goodrich bewahrt McCartney davor, ins triviale und kitschige abzudriften, während McCartney mit seinen Melodiebögen Goodrichs Soundlandschaften konterkariert und die melancholische Stimmung zu durchbrechen vermag. Chaos And Creation ist ein Album geworden, das sich nicht mit einem Mal anhören erfassen lässt, zu breit ist Universum der verwendeten musikalischen Ideen. Ein ähnlich grosses Spektrum deckten die Beatles auf dem Weissen Album ab, einem Doppelalbum notabene.

Zu beginn der Sessions forderte Nigel Goodrich McCartney auf, seine Tourband zu entlassen, weshalb dieser nach seinen selbstbetitelten Alben von 1970 und 80 wieder alle Instrumente selbst spielt. Goodrich wollte mit dieser Massnahme McCartney aus den bekannten Gefilden führen. Lediglich der Ohrwurm Fine Line und die Ballade Jenny Wren, die McCartney als kleine Schwester von Blackbird bezeichnet, klingen für den Hörer vertraut. McCartney verwendet bei Jenny Wren das Fingerpicking Blackbirds und kombiniert es mit dem Cello aus Yesterday. Herausgekommen ist ein Song, der wie Eleanor Rigby unter die Haut geht. Das melancholische At The Mercy zeigt einen gereiften, nachdenklichen McCartney, der Ambient-Hiddentrack folgt dem bombastischen Anyway. Lautmalerisch sind das Xylophon und das Pianoriff in Riding To Vanity Fair. Die grösste Veränderung erfuhr Follow Me, letztes Jahr beim Zürcher Konzert ein sphärischer Song, das auf dem Album als simples Gitarrenstück daherkommt. Gespickt mit guten Ideen ist Promise To You Girl, während English Tea nicht bloss musikalisch daran erinnert, dass McCartney im nächsten Jahr 64 wird.

Nein, die Rolling Stones und die Beatles miteinander vergleichen sollte man nicht. Auch nicht, wenn man erst Mitte der 1970er-Jahre geboren ist und die goldene Zeit der Bands bloss aus den Erzählungen der Eltern kennt. Man belässt die Rangordnung im Rockolymp lieber, denn auch die neuen Alben lassen sich schwer miteinander vergleichen. A Bigger Bang ist ein klassisches Stones Album, das keine neue Pfade einschlägt und mehr vom Mythos denn von der Qualität lebt, während sich McCartney musikalisch weiter entwickelt hat. Mit Chaos And Creation legt er ein grandioses Album vor, das in derselben Liga wie Revolver und Sgt. Pepper spielt. Bleibt der Fairness wegen noch die Frage, ob McCartneys neues Opus sich mit Franz Ferdinand und den White Stripes messen lässt. Und auch diese Frage ist zu verneinen, den Kid A von Radiohead lässt sich genauso wenig mit Franz Ferdinand vergleichen, wie sich Beethovens 5. Symphonie mit A Kind Of Blue von Miles Davies messen lässt. Weshalb man auch als nach den Beatles geborener Journalist bloss das Spiel mit den Äpfeln und den Birnen, bzw. den Steinen und Käfern spielen kann.



Wie lässt sich das...

... mit dem vergleichen?