Die Achselhöhle
23. Oktober 2011
Die Abkürzung Loutallica hat sich schon vor Veröffentlichung des gemeinsamen Albums von Lou Reed und Metallica eingebürgert. Inspiriert durch die Werke des Schriftstellers Frank Wedekind, ist das anderthalbstündige Werk explizit, dunkel, wild, blutig, abstossend, heavy und anspruchsvoll. Die Beteiligten schwärmen von der Zusammenarbeit.
Bewertung: * * * * * 1/2


Es war David Fricke, Chefredakteur des amerikanischen Rolling Stone, der im Sommer das wohl bestgehütete musikalische Geheimnis des Jahres gelüftet hatte: Lou Reed und Metallica hatten zusammen ein Album eingespielt. Fricke war der erste Aussenstehende, der das Werk zu hören kriegte, und er beschrieb es nicht weniger als die Mischung von Reeds «Berlin» und Metallicas «Master Of Puppets». Ob Frickes euphorisches Urteil dem Urteil der Geschichte standhalten wird, wird sich weisen; «Berlin» ist Reeds lange Zeit verkanntes Meisterwerk über die Beziehung zweier Junkies aus dem Jahr 1973, «Master Of Puppets» gilt als das stilbildende Metall-Album der 80er-Jahre. Auf den ersten Blick erstaunt die Zusammenarbeit von Lou Reed und Metallica. Reed ist ein Soundfanatiker und Meister des gebändigten Krachs, der aus Protest gegen das kommerzielle Musikgeschäft 1974 mit «Metal Machine Music» ein ganzes Album mit Gitarrenfeedbacks veröffentlicht hatte. Unterdessen hat er die Rückkoppelungen derart im Griff, dass er sie wie im Song «Blind Rage» (2003) als Gitarrenstimme oder als Meditationen (2007, «Hudson River Wind Medidations») verwendet. Musikalisch benutze Metallica das Tempo und Soundvolumen, um ihre Songstrukturen zu erweitern. Metallica hat mit rund 100 Millionen verkauften Alben auch die breiten Massen erreicht, doch kaum jemand traut ihnen geistig anspruchsvolle Musik zu. Lou Reed und Metallica, ein auf den ersten Blick merkwürdiges Gespann. «Was soll merkwürdig sein an unserer Zusammenarbeit?», fragt Lou Reed rethorisch auf der gemeinsamen Webseite loureedmetallica.com. «Eine Zusammenarbeit von Cher und Metallica wäre merkwürdig», insistiert Lou, «wir sind die einleuchtende Kollaboration!»

Das Jubiläum
Im Oktober 2009 feierte die Rock’n’Roll Hall of Fame ihren 25. Geburtstag. Einige der wichtigsten Rockgrössen nahmen am Jubiläumsanlass teil und musizierten in teils interessanten neuen Verbindungen: Bruce Springsteen mit Billy Joel, U2 mit Mick Jagger, Ozzy Osbourne mit Metallica. «Zuoberst auf unserer Liste stand Lou Reed», erinnert sich Lars Ulrich, «er ist meiner Meinung nach eine Art Ein Mann Version von Metallica. Er hat immer sein Ding durchgezogen und sich während Jahrzehnten immer wieder neu erfunden und dabei nicht nur sich, sondern auch die Fans herausgefordert. » Beim Hall of Fame-Festakt ging man auf Nummer sicher und spielte die Velvet Underground Klassiker «Sweet Jane» und «White Light/White Heat». «Von diesem Auftritt an wussten wir, dass wir füreinander bestimmt waren», beschreibt Reed die Geburtsstunde von Loutallica. Gemeinsam verliessen sie den Madison Square Garden und Reed schlug vor, etwas gemeinsam zu machen. Lars Ulrich erinnert sich, dass es zwischen den Müllcontainern und den Parkplätzen gewesen war. Man vereinbarte, dass man nach Abschluss der «Death Magnetic Tour» von Metallica ins Studio gehen würde. Geplant war, einige von Reeds Songs neu einzuspielen. Songs, die Lars Ulrich als Lous verlorene Perlen bezeichnet, die nach Reeds Gefühl einen zweite Chance verdient hätten. «Zwei Wochen vor den Aufnahmen rief Lou an und sagte, hör zu, ich habe diese andere Idee…»

Die Auferstehung der alten Themen
Diese andere Idee war die Adaption von Frank Wedekinds Stoff über die Femme fatale Lulu. Frank Wedekind wurde 1864 in Hannover geboren. Aus Protest gegen das neu gegründete preussisch-deutsche Reich siedelte seine Familie in die Schweiz über, sein Vater kaufte das Schloss Lenzburg. Wedekind liess sich 1896 in München nieder, wo er 1918 starb. Mit seinen gesellschaftskritischen Stücken gehörte Wedekind zu den meistgespielten Dramatikern seiner Zeit. Und gleichzeitig zu den umstrittensten, in «Frühlingserwachen» und «Lulu» wandte er sich gegen schulische Dressur, bürgerliche Scheinheiligkeit und Prüderie. Aufgrund der sadomasochistischen Motive wurde «Frühlingserwachen» oft mit einem Aufführverbot belegt. Die sadomasochistischen Motive tauchen auch in Lou Reeds Musik auf, beispielsweise im Song «Venus In Furs» von 1966, der von Leopold Sacher Masoschs gleichnamigen Buch inspiriert worden war.

Massentauglich war Lou Reed auch nach den Velvet Underground selten, auch wenn seine besseren Alben mittlerweile Klassikerstatus haben. Für Reed enttäuschend war die Veröffentlichung von «Berlin», das in seinen Augen sein Meisterwerk war. Zunächst zwang ihn die Plattenfirma von einem Doppelalbum auf ein einzelnes zu reduzieren, danach war das explizite Album zu radikal. Die verprügelte Caroline, die sich im Drogenelend prostituiert und deswegen das Sorgerecht für die Kinder verliert und danach Suizid begeht, war der Kontrapunkt zur Flower Power Bewegung. Lou Reed war mehr als ein Vierteljahrhundert verbittert über die Missachtung von «Berlin». Erst 2006 führte er das gesamte Album live auf und ging auf Tour. 2008 führte er sein schwerverdauliches Werk im Zürcher Hallenstadion auf, und manch einer fragte sich, ob Lou Reed nochmals derart explizit werden würde.

Er wurde es: Zwar beginnt das Album und der Song «Brandenburg Gate» mit den Klängen einer akkustischen Gitarre, doch sobald Reed zu singen beginnt, wird jedem klar, was es geschlagen hat: «I would cut my legs and tits off / When I think of Boris Karloff and Kinski / In the dark of the moon». Die Referenz zum Albumcover mit der verstümmelten Schaufensterpuppe und der blutigen Schrift ist hergestellt. Die Texte von «Lulu» sind die krassesten von Lou Reed, der schon Manches in seinen Songs und auch im Leben ausgelotet hat. Zu den schon früher besungenen Drogen- und Sexeskapaden, beschreibt er nun die Spielarten des Sadomasochismus von Flagellation über Fisting bis hin zum Sex mit Exrementen.

Für «Lulu» liess sich Lou Reed von Wedekinds Dramen «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» inspirieren, welche die Geschichte der jungen, missbrauchten Tänzerin Lulu und ihrer Beziehungen erzählen. Es ist die Geschichte einer schönen Frau, die Männer in den Abgrund reisst, bis sie selber ruiniert ist. Seit ihrer Publikation Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Theaterstücke immer wieder Inspiration, beispielsweise für einen Stummfilm («Pandora‘s Box», 1929) oder eine Oper von Alban Berg. Die Lyrics und musikalische Landschaft hatte Lou Reed für eine Theateradaption von Robert Wilson skizziert, die Theaterversion wird im November in Paris aufgeführt werden. Zusammen mit seiner Frau, Laurie Anderson, erarbeitete Lou Reed die Psyche von Lulu. «Wir versuchten sie zum Leben zu erwecken, mit Rock. Es musste der härteste Power Rock sein, und so war die Lösung Metallica. Wir spielten zusammen und ich wusste, ein Traum wird wahr.»

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cover lulu

Tracklist:
Brandenburg Gate
The View
Pumping Blood
Mistress Dread
Iced Honey
Cheat On Me
Frustration
Little Dog
Dragon
Junior Dad




 

 

loureedmetallica

Lou Reed (vorne) und Metallica. Foto: Anton Corbijn, loureedmetallica.com
Ausserhalb der Komfortzone
Für Metallica wurde die Zuammenarbeit zur Horizonterweiterung, zum ersten Mal machten sie Musik zu Texten und nicht umgekehrt. «Wir waren sehr gespannt auf die Zusammenarbeit», ergänzt James Hetfield. «Nachdem wir die Skizze zu Lulu erhalten hatten, konnten sich Lars und ich darin verbeissen. Ich konnte meinen Sänger- und Lyrikerhut abziehen und mich voll auf die Musik konzentrieren.» «Lou verwendet andere Worte. James würde nie den Ausdruck Achselhöhle verwenden. Und nun ist es eine meiner liebsten Stellen auf dem Album», fügt Lars Ulrich an.

Die Aufnahmen fanden im Mai dieses Jahres im Studio von Metallica in San Raffael in Kalifornien statt. «Mit dem neuen Material konnten wir wirklich mit Lou zusammenarbeiten», erzählt Kirk Hammet. Er nennt es eine Übung in Spontaeität und Improvisation. «Es gab Momente, die konnten wir kein zweites Mal erzeugen.» Für Lulu mussten Metallica ihre Komfortzone verlassen. «Wir wurden in eine Situation ohne Strukturen gebracht. Wir mussten das Rad komplett neu erfinden», erinnert sich Lars Ulrich. «Wir versuchten über die Jahre in einigen Instrumentalstücken uns so weit wie möglich aus dem Fenster zu lehnen, aber nichts, was wir zuvor getan hatten, hat uns auf das vorbereitet, was mit Lou passieren sollte. Es war eine inuitive und impulsive Reise. Wir wussten längst nicht immer, wohin uns das führen würde, aber es war eine aufregende Zeit.» Als Lou mit dem Song «Junior Dad» begann, verliess Kirk Hammet auf einmal das Studio und zog sich in die Küche zurück. Für sich alleine, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten und er heulte. Hammets Vater war ein paar Wochen zuvor verstorben und die Sentimentalität in Reeds Song löste den Gefühlsausbruch aus. Doch nicht nur bei ihm, ein paar Minuten später kam James Hetfield in die Küche und begann ebenfalls zu weinen. Lou folgte ihm und meinte bloss über den Song: «That’s a good one, huh!».

Auf die Frage, ob «Lulu» eine Reise ins Herz der Dunkelheit ist, meint Reed, dass es eher eine Reise zur Erleuchtung wäre. Robert Trujillo präzisiert: «Es kann verstörend sein, gleichzeitig aber auch wunderschön.» Kirk Hammet stellt klar, dass «Lulu» weder ein Metallica Album noch ein Lou Reed Album ist. «Niemand in der Heavy Metal Welt hat je etwas vergleichbares gemacht.» «Lulu» setzt dort ein, wo «Berlin» aufgehört hat. «Es ist das beste, was ich je gemacht habe», markiert Lou. «Und ich spielte es mit der besten Band auf der Welt ein.»

Links: Lou Reed

Notenraster:
* Geld verschwendet
* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
* * * * gutes Album
* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk

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