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Zwischen Gedanken und Ausdruck
12. Dezember 2013
Lou Reed war der Eckstein der Rockmusik und ein bis zuletzt kommerziell verkannter Künstler. Zürcher Reminiszenzen zum Abschied  


Im Jahr 2000 spielte Lou Reed zum zweiten Mal im Landesmuseum bei Live At Sunset. Corinne Mauch, damalige Präsidentin der SP Zürich 6, führte Moritz Leuenberger (ebenfalls SP 6) zu seinem Platz in den hinteren Reihen auf der Tribüne. Die nachmalige Stadtpräsidentin und der Bundesrat erlebten mit dem Publikum einen locker ironischen Lou Reed. Reed hatte die Rockmusik immer als Kunst verstanden, nannte seine Songs «Rock Menuett» und führte sie als solche auf, ohne dabei verkopft zu wirken. Legendär wurden seine expliziten Texte, in einfacher Sprache verfasst und dennoch hochpoetisch. «Er lässt sich länger als andere auf düstere Gedanken ein. Er zieht dich mit hinein und holt dich wieder hinaus», beschrieb Fernando Saunders, seit den 80er-Jahren Reeds Bassist, die Wirkung der Songs. Beschrieben die Beatles die hellen Seiten des Aufbruchs der Sechziger-Jahre, gelten heute Lou Reed und seine damalige Band Velvet Underground als die Antipoden der Liverpooler, da Reed die dunkle Seite der 60er-Jahre beschrieb.

2004: stehende Ovationen im Kongresshaus
Das Publikum im Zürcher Kongresshaus erhob sich zu einer stehenden Ovation. Reed hatte mit der Rezitation von Edgar Allan Poes «The Raven» geendet. Es war die zweite Standing Ovation an diesem Abend, die erste hatte Cellistin Jane Scarpatoni für ihr feuriges Solo bei «Venus In Furs» erhalten. Trotz aller Ovationen irritierte Lou Reed letztendlich das Zürcher Publikum: Einerseits liess er seinen Tai Chi Meister Ren Guang Yi während seinen wichtigsten Songs vor der Band performen, andererseits sass einem Buddha gleich ein weissgekleidetes glatzköpfiges Etwas auf der Bühne und jammerte wie eine verstimmte Heulboje. Reed stellte das Es als Anthony Hegarty von Anthony and the Johnstons vor, der später im Jahrzehnt mit seiner Intersexualität zu einem Kritikerliebling werden sollte.

Die Irritation sollte zu Reeds künstlerischem Konzept gehören. Lewis Allan Reed wurde 2. März 1942 in New York geboren, er stammte aus der traditionellen jüdischen Familie Rabinowitz. In Wayne Wangs Episodenfilm «Blue In The Face» erzählt er, dass seine Erinnerungen erst mit 17 Jahren einsetzen würden. Ob skurrile Aussage oder tragische Realität, wusste am Ende nur er selber, die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Reed hatte die Schule gehasst und gegen die Lehrer und Eltern rebelliert. Diese liessen ihn psychiatrisch behandeln. Wegen angeblicher Homosexualität kriegte er Elektroschocks. Diese Urkatastrophe in Reeds Leben bewirkte genau das Gegenteil. Die Queer-Theorie besagt, dass die meisten Menschen erst durch ihre Lebensumstände homosexuell werden. Lou Reed kam psychisch verwundet aus der Therapie, voller Wut und Hass, nach und nach in den Rock’n’Roll, die Drogen sowie in den Sadomasochismus und die Homosexualität fliehend. Erst in den 80er-Jahren überwand Reed die selbstzerstörerischen Folgen der gutgemeinten Therapie.

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Lou Reed live in den 1980er-Jahren. Sein Markenzeichen war das schwarze T-Shirt.

Seinen Eltern hatte er die Qualen nie verziehen. Die gestörte Eltern-Kind-Beziehung thematisierte oft in seinen Songs in den 60er- und 70er-Jahren, beispielsweise in «Kill Your Sons» 1974. Auch sein Beziehungsleben war lange gestört, seine erste Ehe mit Betty Kronstadt zerbrach 1972. Von 1976–1978 lebte er mit dem Transvestiten Rachel zusammen. 1980 heiratete er Sylvia Morales, das Paar hatte sich in einem Sadomaso-Club kennengelernt. Sylvia begann sich um das Geschäft zu kümmern und unterstützte Reeds Drogentherapien. Nicht nur, aber auch an der Kinderfrage zerbrach die Ehe. Reed wollte keine, in «Beginning Of A Great Adventure» malte er sich das Vatersein aus. Ende der 80er-Jahre lernte er die Konzeptkünstlerin Laurie Anderson kennen und lieben, 2008 heiratete das Paar.

Drei Mentoren fürs Leben
Reed hatte drei Mentoren, den amerikanischen Dichter Delmore Schwartz, bei dem er an der Syracuse University Kurse in Creative Writing belegt hatte. Schwartz entdeckte Reeds literarisches Talent und führte ihn in die intellektuellen Zirkel New Yorks ein. Reed widmete ihm mehrere Songs, u.a. «European Son» und «The House». Andy Warhol war vom ersten Moment an, als er Velvet Underground gesehen hatte, von der Band fasziniert und engagierte sie für sein neues Multimediaprojekt Exploding Plastic Evitable. Zu «Venus In Furs» tanzten Warhols Tänzerinnen und Tänzer den Peitschentanz. Reed und Warhol verstanden sich auf Anhieb. Als Mentor förderte er Reed und war zugleich eifersüchtig auf ihn. Nach Warhols Tod veröffentlichte Reed mit John Cale das Gedenkalbum «Songs vor Drella» über das Leben Warhols. David Bowie schlussendlich überredete Reed Anfang der Siebziger Jahre, nach Europa zu übersiedeln und produzierte das Album «Transformer». Er formte aus Lou Reed, dem coolen Typen in der schwarzen Lederkleidung, die Glamrock Figur des Rock’n’Roll Animals.

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Andy Warhol und Lou Reed. Nach Warhols Tod nahmen Reed und John Cale das Album «Songs for Drella» über das Leben Warhols auf..

1996: der Unnahbare im Landesmuseum
Als Reed 1996 bei Live At Sunset im Hof des Landesmuseum spielte, hatte er sein aktuelles Album «Set The Twillight Reeling» im Gepäck. Für das Publikum unnahbar, spielte er die Songs seiner drei letzten Alben. «Mistrial», «Video Violence», «Satellite Of Love» und Walk On The Wild Side» waren die einzigen Songs, die er vor 1989 geschrieben hatte. Die Tour hiess «Hookywooky Tour», Tele Züri interviewte Reed. Der VJ fragte, was der Satz «I wanna hookywooky with you» bedeuten würde, er hätte den Begriff nicht im Wörterbuch gefunden. Reed, der Journalisten verachtete, lächelte und begann vom Wortklang zu schwärmen. Unbedarft hatte Tele Züri den unbekannten Reed präsentiert.

Ende der 70er-Jahre prangte auf jedem seiner Alben der Satz: «This is a stereo binaural sound recording». Beim binauralen System klingt die Musik nur in speziellen Kopfhörern perfekt. Trotz seiner starken Drogensucht trieb schon damals Reed die Frage um, wie es ihm möglich wäre, die Songs so klingen zu lassen, wie er sie zuvor in seinem Kopf gehört hatte. Erst 1997, beim Konzert am Meltdown Festival, bei dem er seine akkustische Gitarre und ein Aufnahmegerät direkt am Verstärker anschloss, hatte er es geschafft die Lücke zwischen Gedanken und Ausdruck zu schliessen. Das Konzert veröffentlichte er als «Perfect Night».

Traumaüberwindung
2008 führte Reed sein 1973er-Meisterwerk «Berlin» im Hallenstadion auf, rund 3000 Personen wohnten einem historischen Moment in der Rockgeschichte bei. Auf Geheiss seiner Plattenfirma musste Reed seinerzeit das Album kürzen, gekauft wurde es dennoch kaum, die Tragödie des Ehepaares Caroline und Jim ist noch heute schwer verdaulich. «Berlin» war Reeds künstlerisches Trauma: Je kommerzieller und schlechter er seiner Meinung nach schrieb, umso mehr verkaufte er, seine Meisterwerke jedoch blieben Ladenhüter. Der Nachfolger von «Berlin», «Sally Can’t Dance», erreichte die Topten. Das Album «Metal Machine Music», bestehend aus Gitarrenfeedbacks, war Reeds Antwort darauf. Dreieinhalb Jahrzehnte später hatte Lou Reed seinen Frust überwunden und führte «Berlin» auf einer Welttournee auf. Die gewaltigen Songs gewannen live noch an mehr Wucht. Es war der letzte Auftritt Reeds in Zürich. 2011 machte er mit der «From VU To Lulu» Tour in Crans Halt. Eine Ausstellung mit seinen New Yorker Fotos wurde 2012 in Basel gezeigt.

der Unbequeme wurde still
In den 2000er-Jahren gönnte sich Reed eine Art Ruhestand, betrieb Tai Chi und schrieb Meditationsmusik. Daneben frönte er der Kunst: Bei den Kurzfilmtagen in Nyon hatte 2010 sein Dokumentarfilm «Red Shirley» über seine 101-jährige Cousine Premiere. Der Literatur blieb Reed verbunden, für den Regisseur Robert Wilson verarbeitete er Edgar Allan Poes Texte und Frank Wedekinds «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» zu Theatern. Die Poe-Songs erschienen 2003 auf «The Raven», den Wedekind-Stoff nahm er zusammen mit Metallica auf Album «Lulu» (2011) auf. Die alten Themen und die harten Songs waren zurück, die selbst harte Jungs emotional aufwühlten: Während den Aufnahmen zu «Junior Dad» hatten sich sowohl Kirk Hammet als auch James Hetfield weinend in die Küche zurückgezogen.

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Lou Reed und Metallica 2011, manche nannten die Kombination Loutallica.

das Vermächtnis
Lou Reed sagte einmal von sich, dass New York seine DNS wäre, gleich nach derjenigen seiner Eltern. Nur zu einem Thema hatte er sich nicht geäussert, zu 9/11. Vielleicht hatte er in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zuvor schon alles den Neoliberalen gesagt. Literarisch eloquent äusserste sich Reed in seinem Alterswerk politisch. Das begann 1982 mit «The Day John Kennedy Died», setzte sich 1986 auf dem Album «Mistrial» in Kaskaden gegen Ronald Reagan fort und gipfelte 1989 in Leserbriefen und seinem Meisterwerk «New York». In der Form von gesungenen Kurzgeschichten schilderte er die Folgen neoliberaler Politik. 1996 schlussendlich veröffentlichte er den Song «Motherfucker». Rief man seine Webseite auf, sah man eine Klingel mit der Aufforderung für Sex mit den Eltern zu drücken. Tat man das, erschien der Songtext. Er ist Lou Reeds definitives Statement und zeitloser Kommentar gegenüber dem Neoliberalismus, falschem Marktglauben und verlogener Moral geworden.

Nach ersten Problemen 2009, hatte Lou Reed im Frühjahr 2013 eine Lebertransplantation. Trotz anfänglicher Besserung erholte er sich nicht. Lou Reed starb am 27. Oktober 2013 71-jährig.

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Laurie Anderson und Lou Reed.

Hören: Velvet Underground and Nico, Transformer, Berlin, Rock’n’Roll Animal, The Blue Mask, Mistrial, New York, Songs For Drella, Magic And Loss, Set The Twillight Reeling, Ecstasy, NYC Man, Animal Serenade, Lulu
Sehen: Live In Montreux 2000, Blue In The Face
Lesen: Pass Throu Fire, The Collected Lyrics


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Stefan Sagmeisters Poster zu Set The Twillight Reeling von 1996 zierte das Plakat der Sagmeister-Ausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich.







 




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