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Live in der Schüssel
4. Mai 1977
Zusammengestellt aus den Konzerten von 1964/65 und von George Martin 1977 stark überarbeitet, ist diese amerikanische Veröffentlichung neben den beiden später erschienenen «Live At The BBC»-Alben das bis heute einzige Livealbum der Beatles. Allerdings ist es – zu unrecht – nur in der Originalversion auf Schallplatte – antiquarisch – erhältlich.
Bewertung: * * * * 1/2


Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, dass die Beatles 1966, bereits vor dem Höhepunkt ihrer musikalischen Karriere, die Konzerte aufgegeben haben. Denn 2015 verdienen die meisten Musiker nur noch mit Konzerten Geld. Selbst Paul McCartney, der noch immer überdurchschnittliche Verkäufe erreicht, ist seit 2002 ständig on tour.Die Beatles hörten mit den Konzerten aus zwei Gründen auf, und die waren nicht die, die ein halbes Jahrhundert später kolportiert werden.

Natürlich haben die Beatles zwischen 1963 und 1966 kaum Urlaub genossen. Natürlich wurden sie 1966 im Bible-Belt der USA vom Ku-Klux-Klan an Leib und Leben bedroht, nachdem John Lennons Äusserung über das Christentum aus dem Zusammenhang gerissen drei Monate später für Schlagzeilen gesorgt hatte. Und natürlich wurden sie im selben Jahr auf den Philippinen beinahe von einem wütenden Mob gelyncht, weil sie aufgrund eines Misservständnisses in der Kommunikation einen Staatsempfang mit Diktator Marcos hatten schnöde sausen lassen. Doch die Gründe, dass die Beatles mit den Konzerten aufgehört hatten, waren rein technischer Natur. Einerseits wurden ihre Songs seit 1965 immer komplexer und waren damals live nicht reproduzierbar. Die ersten Synthesizer wurden erst gegen Ende der 60er-Jahre entwickelt. Andererseits konnten sich die Beatles wegen dem hysterischen Kreischen der Fans auf der Bühne gar nicht hören, da selbst die damals stärksten Verstärkeranlagen nicht gegen den Lärmpegel angekommen waren. Ringo Starr erinnert sich, dass er keine Ahnung hatte, was seine Kollegen gespielt hatten, sondern sich anhand ihres Arschwackeln an der Setliste orientiert hatte.

Dies ist auch der Grund, weshalb es heute weder auf CD noch digital legal ein Live-Album der Beatles gibt, das nicht aus unzähligen, Sendungen ohne Publikum in der BBC produziert worden war. Und es hatte trotz grosser Nachfrage auch bis 1977 gedauert hat, bis die Studiotechnik ein Livealbum in vernünftiger Qualität ermöglicht hatte. Da es nur antiquarisch auf Vinyl erhältlich ist, ist es auch nicht auf der offiziellen Webseite der Beatles, thebeatles.com, aufgeführt. Dies lässt Raum für eine sauber dokumentierte, digital restaurierte Veröffentlichung, wie sie bereits auf der «Anthology»-Serie zu hören ist.

Sieg über die Technik
Ursprünglich hätten 1964 die Konzerte im New Yorker Madison Square Garden aufgezeichnet werden sollen. Doch die Gewerkschaft AFM konnte dies verhindern. Ein halbes Jahr später, im August 1964, wollte Capitol Records das Konzert aus dem Hollywood Bowl für ein Livealbum verwenden. Doch die Aufnahmen entsprachen nicht den kommerziellen Anforderungen. Dasselbe Szenario spielte sich ein Jahr später ab. Einzig ein 48-sekündiger Auszug aus «Twist And Shout» vom 1964er-Konzert hatte Capitol für die Dokumentation «The Beatles’Story» verwendet.

«Ehrlich gesagt war ich nicht in der Stimmung, um ihre Konzerte aufzunehmen», schreibt George Martin in den Liner Notes des 1977 erschienen Albums. «Ich wusste, dass Liveaufnahmen nie die Qualität von Studioaufnahmen erreichen würden», so Martin weiter. «Aber wir dachten, dass wir es irgendwie hinkriegen würden.» Im Gegensatz zum Studio waren nur 3-Spur-Aufnahmen möglich, und da die Beatles keine Fold Back Lautsprecher hatten, konnten sie sich auf der Bühne nicht hören. «Selbst ein Jet wäre gegenüber den 17 000 kreischenden, jungen Stimmen im Lärm untergegangen.» Vor einem halben Jahrhundert waren zwar die Jets lauter, aber die Lautsprecher leiser.

Dass George Martin schlussendlich zustimmte, die alten Tonbänder zu überarbeiten, liegt nicht daran, dass ihn Bhaskar Menon, der damalige Präsident ihres amerikanischen Labels Capitol Records darum gebeten hatte, sondern die überschwängliche Energie, welche die Beatles live versprüht hatten. Zusammen mit seinem Ton-Ingenieur Geoff Emerick, der auf den meisten Beatles-Alben mitgewirkt hatte, transferierte Martin die 3-Spur-Originalaufnahmen auf damals gängige 16 Spuren. Dabei mussten sie mit einem umfunktionierten Staubsauger die Tonbandgeräte kühlen, damit sie sich nicht überhitzten. Martin und Emerick reinigten die Aufnahmen so gut es ging von allfälligen Störgeräuschen und vom obligaten Bandrauschen. Sie konnten aber das Kreischen des Publikums nicht herausmischen. Das stetige Kreischen bildet den Klangteppich auf dem Album, wodurch das Album zu einem einzigartigen Zeitdokument wird und sich so von den klaren Aufnahmen unterscheidet, die auf der« Anthology»-Serie in den 1990er-Jahren und auf den beiden BBC-Aufnahmen (1994/2013) veröffentlicht wurden.

beatles live at the hollywood bowl tickets
Billette, wohl in der heute verblassten Originalfarbe. – Foto: Collectors Weekly

Sie unterscheiden sich aber auch von dem im Vorjahr erschienenen Livealbum «Wings Over America» von Paul. McCartney hatte Wochen damit verbracht, die Liveaufnahmen seiner neuen Band zu überarbeiten. Wie Schlagzeuger Joe English bemerkte, ging es nicht darum, Spielfehler der Band auszumerzen, sondern die Publikumsgeräusche hinauszumischen. In den 70er-Jahren hatte das Publikum nicht mehr hysterisch gekreischt, aber ziemlich falsch die Songs mitgesungen. Während «Wings Over America» zu einem der erfolgreichsten Livealben der 70er-Jahre wurde, ist «The Beatles At The Hollywood Bowl» heute fast in Vergesssenheit geraten.

repräsentative Songauswahl
John Lennon war in den 70er-Jahren überzeugt davon, dass die Beatles ihre besten Leistungen nicht nach dem Ende ihrer Konzerttätigkeit im Studio mit Meisterwerken wie «Sgt. Pepper», dem «White Album» oder «Abbey Road» erbracht hatten, sondern am Anfang ihrer Karriere als Jugendliche als Liveband in den Nachtclubs der Hamburger Reperbahn 1961/1962. Während der 1966er-Tour kriegten die Beatles genug vom Touren. Als Paul 1969 während den «Get Back»-Sessions, die zum Album «Let It Be» führten, Club-Konzerte vorschlug, zerbrach die Band. Mitte der 70er-Jahre sah die Welt anders aus. John Lennon hatte per Brief vorgeschlagen, dass das Album «The Beatles Live The Hollywood Bowl» heissen sollte. Dass sein Vorschlag nicht berücksichtig wurde, sorgte zu keinen weiteren Dissonanzen.

George Martin verwendete für das Album fast ausschliesslich die Aufnahmen vom 30. August 1965, da er die Aufnahmen vom 29. August für unbrauchbar befand. Im Rahmen der Restauration besserte er unklare Stellen mit Aufnahmen vom 29. August aus. Da für das Album Konzerte aus zwei Jahren verwendet, aber kein Doppelalbum veröffentlicht wurde, mussten einige Songs weggelassen werden. 1964 wurden «Twist And Shout», «You Can't Do That», «Can't Buy Me Love», «If I Fell», «I Want To Hold Your Hand» und «A Hard Day's Night» weg. Von den 65er-Konzerten wurden «I Feel Fine», «Everybody's Trying To Be My Baby», «Baby's In Black», «I Wanna Be Your Man» und «I'm Down» weggelassen, dafür aber «Can't Buy Me Love» und «A Hard Day's Night» verwendet.

Da Beatles-Konzerte um eine halbe Stunde gedauert haben, entspricht die Laufzeit des Albums einem Konzert. «Baby's In Black» wurde 1996 als B-Seite der zweiten «Anthology»-Single «Real Love» verwendet. «I Want To Hold Your Hand» verwendeten George und Giles Martin für den Soundtrack der Cirque du Soleil Show «Love» und das entsprechende Remix-Soundtrack-Album 2006. Entgegen den Linernotes auf dem Album stammen «Ticket To Ride» und «Help!» vom Konzert am 29. August 1965 und «Dizzy Miss Lizzy» ist ein Mix aus beiden 65er-Konzerten.

Das Album zeigt schön, dass die Beatles sich in den frühen 60er-Jahren als Single-Band verstanden. So ist «She's A Woman» die B-Seite der Single «I Feel Fine» Zudem streckten sie ihr Liveprogramm nach wie vor mit Coverversionen wie «Boys», «Twist And Shout», «Long Tall Sall»y oder« Dizzy Miss Lizz»y. Ihre Konzerte waren, wie George Martin in den Linernotes schreibt, nicht nur die Stimme der Beatles, sondern der Ausdruck der jungen Leute der Welt. Und am Ende schreibt er gegen eine Widervereinigung der Beatles an, weil es nie mehr dasselbe wie zuvor sein würde. «Die Jungs haben in ihrer Art alles für die Beatles gegeben und heutzutage haben sie sich zu Individuen entwickelt».

In den USA erschien das Album in einem Klappcover. Die Tickets waren blau und grün abgedruckt. In Europa wurde das Album in einer gewöhnlichen Hülle auf dem Billiglabel von EMI Records, Music For Pleasures MFP, veröffentlicht.

Rezeption und Statistik
In Japan und England erreichte «Live At The Hollywood Bowl» die Chartspitze, in den USA Rang 2. Weitere Topten Platzierungen kamen in Österreich (Rang 3), Norwegen (Rang 4) und Kanada (Platz 8) hinzu. In der BRD klassierte sich «Live At The Hollywood Bowl» auf dem 10. Platz, in Australien auf Rang 12, in Schweden 17 und Neu Seeland auf Rang 18. In den USA und Kanada gab es eine Platinschallplatte, in Frankreich und England Gold.

paul mccartney beatles shea stadium waving live
Paul winkt dem Publikum im Shea Stadium in San Francisco zu. 1965 war es das grösste Konzert der Geschichte.. George Harrison dreht dem Fotografen den Rücken zu, John Lennon ist im Hintergrund erkennbar. – Foto: thebeatles.com



beatles live at the hollywood bowl 1977 george martin live

Tracklist
Twist And Shout *
She's A Woman *
Dizzy Miss Lizzy *
Ticket To Ride *
Can't Buy Me Love *
Things We Said Today
Roll Over Beethoven
Boys
A Hard Day's Night *
Help! *
All My Loving
She Loves You
Long Tall Sally

alle Songs wurden am am 23. August 1964 aufgenommen, ausser
* die am 30. August 1965 aufgenommen wurden.

beatles live at the hollywood bowl 1977 european release

Das Cover der auf dem Billig-Label Music For Pleasure MFP von EMI Records in Europa vertriebene Version.

Promotionbeatles live at the hollywood bowl 1964 poster

Plakat für das Konzert der Beatles vom 23. August 1964 im Hollywood Bowl in Los Angeles (oben), jenes vom 29. August 1965 (Mitte) und eines einer Gedenkveranstaltung von 2014 (unten).


beatles live at the hollywood bowl poster 1965

beatles live at the hollywood bowl anniversary 2014


 

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