abgespeckt
17. November 2003
35 Jahre nach den «Get Back»-Sessions rekonstruiert «Let It Be… Naked» die ursprüngliche, nicht fertig umgesetzte Grundidee des Albums, das in den Wirren der Beatles-Trennung von Phil Spector zum Missfallen vor allem von Paul McCartney stark verändert worden war.
Bewertung: * * * * * *


Die Entstehungsgeschichte ist hinlänglich bekannt, muss aber dennoch kurz rekapituliert werden. Während den «White Album»-Sessions im Herbst 1968 traten bei den Beatles erste Reibereien auf. Anfang Januar 1969 ging die Band für ein neues Projekt, eine Filmdokumentation, ins Studio. Allerdings nicht ins eigene Apple Studio oder die vertrauten EMI Studios an der Londoner Abbey Road, sondern in die Twickenham Film-Studios. In der ungewohnten Umgebungen nahmen die Streitereien überhand. So schrieb Paul McCartney beispielsweise George Harrison vor, wie er die Gitarre zu spielen habe, worauf dieser die Band vorübergehend verliess. «Wenn er bis Montag nicht zurück ist, nehmen wir Eric Clapton», soll JohnLennons Kommentar gelautet haben.

Nach dem Umzug in das Apple Studio ruhten die Streitigkeiten. Auf Initiative George Harrisons stiess Billy Preston als Keyboarder in die Band. Sein gefühlvolles Klavierspiel sollte die damals entstandenen Songs nachhaltig prägen. Während den rund einmonatigen Aufnahmen wollten die Beatles im Gegensatz zu den aufwändigen Produktionen ihrer vorherigen Alben zu ihren musikalischen Wurzeln zurückkehren. Sie spielten neben alten Rockstandards eigene, alte und neue Rock- und Bluessongs ein. Sogar von Konzerten war die Rede. Ein einziges fand statt, am 30. Januar 1969 zur Mittagszeit auf dem Dach des Apple-Gebaudes. Sowohl für das Album wie den Film «Let It Be» wurden Aufnahmen davon verwendet. Anfang Februar erhielt Toningenieur Glyn Johns den Auftrag, das «Get Back» betitelte Soundtrackalbum zum Film zusammenzustellen. Dieser produzierte ein Album mit 13 Songs, das Dialogfetzen aus dem Film enthielt. Allerdings hat keiner der Beatles seine Arbeit abgenommen.

Im Sommer 1969 haben die Beatles mit «Abbey Road» ihr letztes Album eingespielt. Derweil arbeitete Regisseur Michael Lindsay Hogg, der den Videoclip von «Hey Jude» und «Revolution» gedreht hatte, weiter am Film, der im Mai 1970 in die Kinos kam. Im Winter 1970 wurde deshalb der Produzent Phil Spector beauftragt, sich für ein Soundtrackalbum nochmals durch die «Get Back»-Sessions zu arbeiten und zum Kinostart des Filmes ein Soundtrackalbum zu produzieren.

McCartneys Schock
Spector jedoch überschritt seine Kompetenzen und arrangierte teilweise die Songs um und ergänzte sie mit seinem Wall of Sound. Paul McCartney ist bis heute schockiert über das Streicher- und Chor-Arrangement, das Spector «The Long And Winding Road» verpasst hat. Georges «I Me Mine» schnitt er neu zusammen. Und bei Johns «Across The Universe» verlangsamte er die Spuren und mischte einen Chor hinzu. Wie beim «Get Back» Album von Glyn Johns mischte er Gesprächsfetzen, die hauptsächlich vom letzten Konzert der Beatles, das sie am 30. Januar 1969 auf dem Dach des Apple Gebäudes gegeben hatten, stammten.

beatles get back mccartney cover 1967-1970
Für das Cover des geplanten Soundtrack-Albums «Get Back» posierten die Beatles 1969 exakt wie auf ihrem Debutalbum «Please Please Me». Die Fotos wurden 1973 für die Kompilationen «1962–1966» und «1967–1970» verwendet.


John Lennon hatte die Beatles im Herbst 1969 verlassen. Da er äusserst launisch war, hat er auf Druck seines Managers Allen B. Klein und von Paul McCartney darauf verzichtet, seinen Ausstieg öffentlich bekannt zu geben. Allerdings fehlte er bei den letzten Aufnahmen der Beatles im Januar 1970. Um durch die geschäftlichen Streitereien und musikalischen Differenzen nicht zermürbt zu werden, spielte der frisch mit Linda verheiratete Paul zuhause das Album «McCartney» ein. Obwohl er alles daran setzte, dass die Beatles als Band zusammenbleiben, benützte er schlussendlich frustriert über Phil Spectors eigenmächtige Entscheide die Veröffentlichung von «McCartney», um seinen Austritt bei den Beatles zu verkünden. Damit war die Band am Ende und versank die nächsten Jahre in juristische Streitigkeiten. Das Album «Let It Be» kam einen Monat nach «McCartney» im Mai 1970 in die Läden.

die Wiederaufnahme des Projekts
Jahrzehnte lang schleppten die Beatles den Frust und Groll aus den «Get Back»-Session mit sich. Paul wollte «Let It Be» möglichst im Urzustand veröffentlichen, George wollte wegen den Streitereien zwischen ihm und Paul eine Veröffentlichung des Filmes auf Video verhindern. Erst nachdem Ende der 80er-Jahre sämtliche Rechtsstreitigkeiten beigelegt waren und ein weiteres Projekt aus den letzten Tagen der Band, «The Long And Winding Road», aus dem die «Anthology» hervorgegangen war, war die Zeit reif für eine Neuauflage von «Let It Be».

2000 oder 2001 haben sich Paul und Michael Lindsay Hogg zufällig auf auf einem Flug getroffen. Sie sprachen darüber, dass der Film nicht auf Video erhältlich wäre. Im Hinblick auf eine künftige Veröffentlichung auf DVD diskutierten sie auch eine digitale Überarbeitung des Soundtracks. Paul ging mit der Idee zu den restlichen Beatles und Yoko Ono, die Johns Interessen vertritt. George stimmte zu, das Album in der ursprünglich gedachten Art neu zu veröffentlichen. Anfang 2002, nach dem Tod von George Harrison, fragte Apple Geschäftsführer Neil Aspinall den Produzenten Allan Rouse an, ob er die «Let It Be» Aufnahmen digital restaurieren wolle. Rouse sagte zu und bat seine beiden Produzentenkollegen Paul Hicks und Guy Massey um Hilfe. Das Trio arbeitete in den Abbey Road Studios. Paul Hicks hatte bereits für Paul McCartney gearbeitet.

Das Trio hörte sich im Archiv durch die 30 Tage Aufnahmesession aus dem Janaur 1969. «Es stellte sich heraus, dass Glyn und Phil das Skelett der Songs gebaut hatten. Wir haben zu weiten Teilen ihre Takes verwenden können», erzählt Allan Rouse in einem Interview. Da viele Songs live im Studio eingespielt worden waren, hatte das Trio viele klangliche Unreinheiten zu beheben. Bevor sie die analog aufgenommenen Songs digital neu abmischen konnten, mussten sie diese digital von Störgeräuschen reinigen. Bei einigen Songs mischten sie mehrere Versionen zusammen, um zu einem optimalen Ergebnis zu kommen. Deswegen ist es eigentlich falsch, bei «Let It Be… Naked» von einem Remix-Album zu sprechen. Der Begriff einer Rekonstruktion des ursprünglich gedachten Albums trifft es eher. Was auch mit einem Aufkleber auf der CD kommuniziert wurde.

die signifikantesten Änderungen

Die augefälligste Änderung ist die im Vergleich zum Originalalbum geänderte Songreihenfolge. Dabei wurden die Schnippsel «Dig It» und «Maggie Mae» weggelassen. Sie tauchen als Versatzstücke auf der Bonusdisc «Fly On The Wall» auf. Auch die bereits von Glyn John vorgesehenen Gesprächsfetzen haben auf «Let It Be… Naked» keinen Platz gefunden. «Diese kleinen Dinge waren auf einem Soundtrackalbum gut, so wie es («Get Back») von Glyn gewesen wäre. Aber sie passten nicht zu einem regulären Album», erläutert Allan Rouse. Phil Spectors Wall Of Sound wurde ebenfalls weggelassen. In allen Songs wurde der Leadgesang und die Schlagzeugspur bei der Neuabmischung in die Mitte des Stereospektrums gemischt.

der musikalische Striptease auf einen Blick

Get Back Single Version ohne die Coda und Dialogstücke.
Dig A Pony Digital restaurierte Version ohne Fehlstart und Dialogstücke vom Dachkonzert.
For You Blue Digital restaurierte Originalfassung mit einem von Phil Spector rausgeschnittenen akkustischen Gitarrensolo von George Harrison.
The Long And Winding Road Der letzte Take des Songs ohne Orchester und Chor, dafür mit mit E-Piano und Gitarre.
Two Of Us digital restaurierte Originalversion
I've Got A Feeling Neuer Mix aus den beiden Aufnahmen vom Dachkonzert vom 30. Januar 1969.
One After 909 Digital restaurierte Originalversion ohne das Ende mit «Danny Boy»
Don't Let Me Down Neuer, digital gemischter Song aus den beiden Versionen vom Dachkonzert vom 30. Januar 1969.
I Me Mine Digital restaurierte Originalfassung ohne Chor und Orchester.
Across The Universe Digital restaurierte Originalaufnahme von 1968 in der normalen Geschwindigkeit und ohne Maracas, Keyboards, Chor und Soundeffekte.
Let It Be Digital restaurierte Originalfassung (Take 27a) der Single und Albumversion ohne Chor und Orchester.
Neu hinzugefügt wurden George Harrisons Gitarrensolo aus dem Film und ein falsch gespielter Klavierakkord wurde korriegiert (beides aus Take 27 b).


«Let It Be… Naked» erschien als CD und LP. Beiden lag die rund zwanzigminütige Bonusdisc «Fly On The Wall» bei, die einen Eindruck in die Aufnahmesessions vermittelt. Sie enthält Auschnitte aus den zwei unveröffentlichten Songs «Because I Know You Love So» und «Fancy My Chances With You». Da weder der Film «Let It Be» noch die Versatzstücke von «Fly On The Wall» gesamthaft veröffentlicht wurden, aber auf Bootlegs längst erhältlich sind, besteht die Möglichkeit einer späteren Veröffentlichung.

Es ist gut, haben sich die Beatles auf das Experiment der Rekonstruktion eingelassen. Sowohl «Let It Be» als auch «Let It Be… Naked» gehören zu ihrem Katalog. Aufgrund ihres unterschiedlichen Konzeptes unterscheiden sich «Let It Be» als Soundtrackalbum und «Let It Be… Naked» als properes Studioalbum genug von einander, um als eigenständige Alben nebeneinander zu existieren. Spätestens mit digitalen Wiederveröffentlichung auf iTunes war der Schritt zur kommerziell geschehen.

Rezeption und Statistik
Es ist klar, dass Änderungen an Beatles-Songs, die zum geistigen Weltkulturerbe gehören, auf Ablehnung stossen. Wer etwas zu bemängeln hatte, kritisierte vor allem Pauls Ansinnen, der Welt zu zeigen, wie «Let It Be» ursprünglich gedacht war, als egoistisch und unnötig. So etwa Anthony De Curtis, der im Rolling Stone die klangliche Verbesserung anerkennt, aber mit dem Album nicht viel Anfangen kann und nur drei von fünf Sternen verleiht. Auch Pitchfork.com bezeichnete das Album, im Vergleich zu den «Anthology» Sessions, als nicht relevant im Katalog. Allmusic.com hingegen schreibt, dass «Let It Be… Naked» die Kraft des Originalalbums vergrössert und gibt vier von fünf Sternen.

In England platzierte sich das Album auf dem 7. Rang, in den USA auf dem 5. In Mexico erreichte «Let It Be… Naked» die Chartspitze. In Japan und Schweden erreichte das Album Rang 2, in Dänemark Platz 5, in Italien und Norwegen Rang 6, in Irland und Holland Platz 7, in Österreich, Holland und Kanada Platz 8 und in Argentinen Rang 9. In den Top 20 platzieren konnte sich «Let It Be… Naked» u.a. in Australien (Rang 11), Deutschland (Rang 13), Frankreich (Paltz 14) und in Südkorea mit einem 15. Rang. In der Schweiz gab es Platz 21.

beatles get back sessions 1969 mccartney bandleader
Besprechung im Kontrollraum während den «Get Back»-Sessions. Paul McCartney referiert, Ringo Starr (links), George Harrison (stehend) sowie die unzertrennlichen John Lennon und Yoko Ono hören zu. Gesehen ursprünglich im Hochformat von Ethan A. Russel. Es war Paul, der die treibende Kraft hinter «Let It Be… Naked» war.Foto: thebeatles.com


mccartney beatles let it be naked cover 2003

Tracklist
Get Back
Dig A Pony
For You Blue
The Long And Winding Road
Two Of Us
I've Got A Feeling
One After 909
Don't Let Me Down
I Me Mine
Across The Universe
Let It Be


Fly On The Wall - Bonus
Fragmente aus:
Sun King
Don't Let Me Down
One After 909
Because I Know You Love Me So
Don't Pass Me By
Taking A Trip To Carolina
John's Piano Piece
Child Of Nature
Back In The U.S.S.R
Every Little Thing
Don't Let Me Down
All Things Must Pass
John's Jam
She Came In Through The Bathroom Window
Paul's Bass Jam
Paul's Piano Piece
Get Back
Two Of Us
Maggie Mae
Fancy My Chances With You
Can You Dig It?
Get Back

 

 

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