Herbstlaub im Frühling

«Das letzte Mal, als ich hier durchgefahren bin, war es eine Woche oder zehn Tage vor Weihnachten. Was für ein Zufall, heute ist es eine Woche vor Ostern», dachte ich. Konnte das Zufall sein? Ich bremste meine Schussfahrt, um auf den Weg oberhalb des Schwimmbades einzubiegen. Mein Blick glitt über die noch nackten Obstbäume und die Spielwiese des Bades mit zugedecktem Beachvolleyballfeld. Der Rebhügel dahinter strotze in der warmen Märzsonne vor jugendlichem Grün. Die Reben waren so nackt wie die Obstbäume darunter. Innerhalb einer Woche war es an den sonnigen Stellen vom Hochwinter zum Frühsommer geworden – gestern hatte ich zum ersten Mal im Jahr bloss mit Shorts bekleidet Balkonien mit einem gutem Buch genossen. Auch die Natur quittierte den lang ersehnten Frühlingsanfang mit sattem Grün. Ich war auf Sonntagsfahrt ins Kloster Fahr, um dort im Klostergarten bei einem Einsiedler-Bier und einem geräuchten Schüblig, anschliessendem Kaffee, Nussgipfel und Zigarillo meine literarischen Notizen zu sortieren und vielleicht gar einen neuen Text zu schreiben, auf dem Rückweg am Limmatufer in der Wiese zu liegen, mich entspannen und dem fliessenden Wasser zuzusehen. In zwei Monaten würde das Schwimmbad geöffnet werden und in zwei weiteren Monaten würde ich mich ohne Angst zu haben, gleich im Wasser tiefgefroren zu werden, mich in selbiges begeben, um ein vor der Sommerhitze zu fliehen. Bis dahin blieb mir die Blustfahrt durch die Engstringer Häuser und Wiesen, bevor beim Samichlausweg die Strasse über die Autobahn ins Kloster Fahr abbiegt – nicht ohne eine sensationelle Aussicht auf den Bogen des Gubrists, Höngger-, Käfer- und Zürichbergs, der darunter liegende Stadt und bei guten Bedingugen die Alpen zu bieten.

Ich fuhr in das Wäldchen, worin mir die Sonne nicht mehr ins Gesicht schien. Vor mir erblickte ich ein spazierendes Ehepaar, das mir entgegen kam. Ich fuhr auf der Linken. In meinem Ohr rauschte der Fahrtwind. Da war noch ein anderes Geräusch, das an das Rascheln trockenen Herbstlaubes erinnerte. Vor meinem Rad schien sich das braune, vertrocknete Laub, das von der Bise wieder auf die Strasse getrieben worden war, mit mir ein Rennen zu liefern. In meinem Tempo tänzelte es vor mir her. Das erinnerte mich an die Szene in «Herr der Ringe», bevor sich die Hobbits zum ersten Mal vor den Ringkönigen, diesen schwarzen, Furcht erregenden Reitern, verstecken mussten. In Höngg hatte das tote Laub noch nicht realisiert, dass es Frühling geworden ist. Munter tanzte es vor meinem Rad her. Das mir entgegenkommende Ehepaar musste bei genauerer Beachtung geglaubt haben, dass ich im Windschatten des Laubes unterwegs war oder dieses durch ein lautloses, unsichtbares Gebläse vor mir her bewegte.

Das tanzende Laub und ich, ein wahrlich sonderbares Gespann, kreuzten das Ehepaar und hatten nun den ganzen Weg vor uns. Ich hielt Kurs, ohne in die Pedalen zu treten, da es noch immer abwärts ging. Ein paar Blätter eilten nach wie vor mir voraus, andere schlugen Haken und drehten sich im Kreis, sie führten ein fröhliches Ballet auf. Weitere Blätter liessen sich auf meine Höhe zurückfallen und rauschten und raschelten neben mir. Wir näherten uns der Stelle, wo das Wäldchen in Wiese überging. Das Laub wurde übermütig. Ein Blatt wirbelte hoch und vollführte einen Salto, ehe es elegant schwebend sich wieder dem Boden näherte. Es wollte wohl an die Szene mit der schwebenden Plastiktüte in «American Beauty» erinnern. Dann war die Choreografie vorüber. Durch seine Verspieltheit hatte das Laub an Tempo verloren und ich erreichte als erster das Ende des Wäldchens. Und fuhr begleitet durch den pfeifenden Fahrtwind der Sonne entgegen.

 

 


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Herbstlaub im Frühling – 2005  

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