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Ein Mann betrat einen Polizeiposten. Etwas eingeschüchtert von der Staatsgewalt blickte er um sich. Vielleicht war es aber auch nur die triste graue Stimmung, die ihn bedrückte. Im hinteren Teil des Raumes sassen zwei Beamte. Der Linke hatte eine Glatze und drehte dem Herrn den Rücken zu. Er war etwas älter als der Rechte, der rothaarig war und einen Schnurrbart trug. Der Mann sah ihn im Profil. Der Glatzkopf tippte einen Rapport, der Rotschopf ass ein Schinkensandwich. Neben seinem Computer stand ein Bild, das ihn auf einem weissen Pferd zeigte. Als ob er vom Amtsschimmel getreten worden wäre, trat der Mann, er hatte braunes Haar, trug eine Hornbrille, einen grauen Anzug und einen beigen Trenchcoat, an den Schalter und wieherte. – Er räusperte sich natürlich.
«Wusst’ich’s doch! Na warte, am Ende kriege ich dich noch!», donnerte eine Stimme aus dem Schalter. Der Glatzkopf sagte laut und ohne mit dem Tippen aufzuhören: «Johnny!» und zeigte mit seiner rechten Hand Daumen voran über seine Schulter auf den wartenden Herrn am Schalter.
«Auch das noch!», klang es aus dem Schalter. «Immer schön eines nach dem anderen!» Nun erklangen verschiedene Geräusche aufs Mal, begleitet von Ächzen und Stöhnen. Hinter dem Schalter erschien ein dunkelblauer Fleck, der immer grösser wurde. Etwas rechts von ihm kam simultan dazu ein zweiter Fleck zum Vorschein. Die Flecken stiegen weiter gegen die Zimmerdecke auf, wobei sich der schwarze Fleck, unter dem sich noch ein heller Fleck befand, immer mehr über den dunkelblauen Fleck zu schieben begann. Der Mann nahm seine Brille ab und putzte sie. Als er sie wieder auf seiner Nase trug, sah er, dass ein stattlicher Polizist auf ihn hinabschaute.
«Sie entschuldigen?», sagte der Polizist, bückte sich, verschwand hinter dem Schalter und tauchte einen Moment später wieder dahinter auf. Nun trug er seine Mütze. Als er sich erneut aufgerichtet hatte, blickte er mit gestrengen Blick auf den Mann hinab.
«So, nun bin ich bei Ihnen. Was wünschen Sie?»
«Sie arbeiten hier?», fragt der Mann ob des Schauspiels verwirrt.
«Ja, ich bin Inspektor John Klies. Und das hier ist ein Polizeiposten.»
«Sie arbeiten im Schalter?», hakte der Mann nach.
«Ach so! Nein, hier drin ist nur der Drucker. Moderne Technik! Sie wissen schon: Macht mehr Faxen als ein Clown und ist nicht halb so lustig!»
«Ich verstehe», sagt der Mann.
«Papierstau!», sagte Inspektor Klies bedeutungsvoll.
«Alles klar, Papierstau», sagte der Mann aufrichtig mitfühlend.
«Genau, Papierstau. Fetzen haben sich in den innersten Eingeweiden des Druckers verschlauft», sagte Klies und fragte hoffnungsvoll: «Sind Sie der Monteur?»
«Nein, ich bedaure. Sollte ich?»
«Ja… Ich meine nein! Was möchten Sie denn hier?»
«Anzeige erstatten.»
«Anzeige erstatten?»
«Anzeige erstatten. Das hier ist doch ein Polizeiposten?», fragte der Mann leicht verwirrt.
«Ja, natürlich, sicher kein Reklamebüro! Eine Anzeige also…», sagte Klies. «Einen Moment bitte.» Er trat zum rothaarigen Polizisten hin. Dieser hielt ihm bereits Block und Bleistift entgegen. Inspektor Klies kehrte zum Schalter zurück, legte sich den Block bereit und setzte den Bleistift an.
«Ihren Namen… Das darf doch nicht wahr sein!» Verärgert stellte er fest, dass die Bleistiftspitze abgebrochen war.
«Ich muss Sie nochmals um einen Moment Geduld bitten!», sagte er und zeigte dem Mann den Bleistift.
«Auch Technik! Bloss nicht so modern!», knurrte er, als er wieder zum rothaarigen Polizisten ging und ihm den Bleistift auf den Schreibtisch knallte. Seufzend griff sich der Rothaarige in die linke Brusttasche und entnahm ihr einen Kugelschreiber. Inspektor Klies kehrte zum Schalter zurück, testete, ob der Kugelschreiber schrieb und blickte danach den Mann fragend an.
«Können Sie mir bitte helfen? Wo waren wir stehen geblieben?», fragte er.
«Bei meinem Namen», sagte der Mann.
«Genau, bei ihrem Namen. Als ob der so wichtig wäre, Sie haben sicher ein dringenderes Anliegen, als mir Ihren Namen zu nennen.»
«Ja, das habe ich. Ich möchte Anzeige erstatten.»
«Eine Anzeige?», Klies blickte mit hochgezogener Augenbraue über den Schalter.
«Eine Vermisstenanzeige, um genau zu sein…»
«Mein Beileid, Sie müssen ja Einiges durchmachen. Wen vermissen Sie denn, Herr…»
«Eitel. Mein Name ist Eitel. Erich Eitel.»
«Warum sagen Sie das nicht gleich?»
«Sie haben nicht danach gefragt.»
«Habe ich nicht?», fragte Inspektor Klies scharf.
«Sie wollten und haben sich danach nach meinem Anliegen erkundigt.»
«Das stimmt, Herr Eitel. Sie möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben. Einen Moment bitte, ich muss noch das richtige Formular… So, das haben wir… Wen vermissen Sie?»
«Nicht wen, viel eher vermisse ich etwas!»
«Wie können Sie eine Sache statt eine Person vermissen? – Ich verstehe, ist es Ihr Patenkind?»
«Nein, ich habe kein Patenkind.»
«Ich auch nicht. Entweder ein eigenes Kind oder keines. Vermissen Sie Ihren Hund?»
«Nein, auch nicht, ich habe Angst vor Hunden.»
«Ist der Gegenstand wertvoll?»
«Keine Ahnung. Für mich schon…»
«Vermissen Sie Ihr Auto?»
«Gott sei Dank, nein!» Inspektor Klies nickte, offenbar froh darüber, dass es nicht das Auto war.
«Ich vermisse mein Gehirn», sagte Eitel schlussendlich.
«Ihr Gehirn?», fragte Klies ungläubig.
«Mein Gehirn», antwortete Eitel nickend.
«Möchten Sie das nicht notieren, Herr Inspektor?»
«Doch, doch!», sagte Klies und schrieb ins Feld der vermissten Person Gehirn. «Seit wann vermissen Sie es?»
«Ich kann es nicht genau sagen. Die letzten Tage über war mir komisch. Zunächst dachte ich, die Hitze, wissen Sie… Aber seit heute bin ich mir sicher, dass mein Gehirn verschwunden ist.»
«Weshalb erst seit heute?»
«Wissen Sie, nachdenken ganz ohne Gehirn, das ist nicht so einfach…»
«Ja, ja, ich verstehe. Das Nachdenken ist so eine Sache für sich.»
«Ich meine, Bauchentscheide sind auch gut. Aber manchmal muss eine Sache gut durchdacht sein. Deswegen möchte ich mein Gehirn zurück, ehe ich es wirklich benötige.»
Inspektor Klies meinte nickend: «Sicher, wir werden unser Bestes tun. Aber das wird nicht einfach, bei all den Körperteilen, die da draussen frei herumlaufen.»
«Was für Körperteile?», fragte Eitel verwirrt.
«Körperteile eben, so wie Ihr entlaufenes Gehirn. Gestern Abend auf dem Nachhauseweg, da war so ein Affenarsch, der mich mit seinem Auto…»
«Ich verstehe, Herr Inspektor: Bei all den Körperteilen da draussen wird es nicht einfach sein, mein Gehirn zu finden.»
«Ein Foto ist in solchen Fällen immer hilfreich. Haben Sie zufällig eines dabei?»
«Nein, ich bin zum Glück bei guter Gesundheit und musste noch nie ein Computertomogramm machen lassen.»
«Wie sieht es denn aus, ihr Gehirn?»
«Keine Ahnung, ich habe es noch nie gesehen. Ich nehme an normal.» Inspektor Klies schrieb ins Feld Aussehen normal.
«Können Sie es noch etwas genauer beschreiben?»
«Wie genauer beschreiben?»
«Ist es gross? Ist es klein? Sieht es aus wie eine Baumnuss oder eher wie Vermicelles? Trägt es einen Minirock? Oder einen Ledermantel?»
«Einen Minirock?», fragte Eitel entrüstet, «ich bitte Sie! Ich bin ein Mann!»
Inspektor Klies musterte Eitel und meinte: «Würde Ihnen auch nicht stehen.»
«Also, das…»
«Damit wir Ihr Gehirn zweifelsfrei identifizieren können, müssen Sie uns helfen.»
«Ist ja gut, Herr Inspektor. Mein Gehirn sieht aus wie… Ich würde sagen, Spaghetti.»
«Bolognese oder Carbonara?»
«Sie meinen die Spaghetti?»
«Nein, Ihr Hirn.»
«Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Inspektor.»
«Sie sagen, Ihr Gehirn würde aussehen wie Spaghetti. Das ist ein wertvoller Hinweis, aber noch nicht eindeutig genug. Bei Spaghetti Bolognese verwendet man Tomaten, Basilikum und Hackfleisch, bei Spaghetti Carbonara Eier, Rahm und Schinken. Ist ihr Gehirn also rot wie Spaghetti Bolognese oder weiss wie Spaghetti Carbonara?»
«Ich verstehe, danke für die Präzisierung. Wissen Sie, so ohne Hirn…»
«Ich kann Ihnen nachfühlen», nickte Inspektor Klies verständnisvoll und kreuzte bei der Frage nach dem Geschlecht männlich an.
«Mein Gehirn fühlte sich normal an. Da gibt es keine Besonderheiten wie Schinken oder Tomaten.»
«Normal?»
«Ja, Herr Inspektor, ganz normal. Wenn es Ihnen hilft, schreiben Sie Ihre Lieblingsspaghetti als nähere Beschreibung dazu.»
Bei besondere Kennzeichen schrieb Inspektor Klies keine und murmelte: «Pesto.»
«Wie bitte?»
«Pesto. Am liebsten esse ich Spaghetti alla pesto genovese mit gebratenen Pinienkernen.» Eitel verzog sein Gesicht. «Brauchen Sie noch etwas?», fragte er. Klies schaute auf sein Blatt und fragte:
«Wie fühlt sich das an, so ganz ohne Gehirn zu sein?»
«Die natürlichen Reflexe wie Schlafen oder Essen funktionieren immer noch. Vorhin, da habe ich vor dem Polizeiposten eine Blondine gesehen! Ich sage Ihnen, Herr Inspektor…»
«Die kenne ich! Eine rassige Frau! Und das haben Sie ohne Gehirn festgestellt?»
«Freilich, Herr Inspektor. Kaum sieht man eine solche Frau, macht es Dingdong.»
«Dingdong?»
«Oder so ähnlich», meinte Eitel verlegen.
«Ist gut, dann macht es bei Ihnen also Dingdong. Weshalb kommen Sie zu uns und gehen wegen ihrem verlorenem Gehirn nicht aufs Fundbüro?»
«Das war so ein Bauchentscheid. Die Polizei sucht doch auch entlaufene Hunde?»
«Ja, dafür gibt es eine eigene Einheit. Ich werde ihr das Signalement Ihres Gehirns weiterleiten. Sobald ich Genaueres weiss, werde ich mich melden.»
«Ich danke Ihnen, Herr Inspektor.»
«Nichts zu danken, das ist meine Aufgabe. Ich brauche aber noch Ihre Telefonnummer.»
«Wozu denn?»
«Damit ich Sie anrufen kann, wenn wir Ihr Gehirn gefunden haben.»
«Das ist gut. Also, meine Nummer lautet…», Eitel stockte und begann nachzudenken. «Es tut mir leid. Ich kann mich nicht daran erinnern.»
«Geht mir auch so, mein Hochzeitstag und meine Telefonnummer: Schrecklich!»
«Es tut mir wirklich leid, Herr Inspektor. Was machen wir nun?»
«Kommen Sie doch einmal täglich vorbei. Dann können Sie ihr Gehirn gleich mitnehmen, sollten wir es finden.»
«Ja, das ist eine gute Idee. Vielen Dank, Herr Inspektor!» Eitel verabschiedete sich und ging zum Eingang, wo er einem anderen Herrn den Vortritt liess, der den Polizeiposten mit einem Koffer in der Hand betreten wollte.
«And now for something completely different», sagte Inspektor Klies und wartete, bis der Andere an den Schalter getreten war.
«Guten Tag. Ich suche Inspektor Klies.»
«Der steht vor Ihnen. Auch Ihnen einen wunderschönen guten Tag. Wer sind Sie? Was wünschen Sie? Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?»
«Ich bin Herr Bosic, der Monteur.»
«Der Monteur? … Ach ja, der Monteur. Das ist gut! Sehr gut sogar. Mögen Sie Spaghetti?»

 

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