der grosse Tag des kleinen Herrn Gross
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Herr Gross hatte es eigentlich prächtig: Eine Wohnung am Zürichberg, eine nette Frau, ruhige Nachbarn und einen geleasten Mercedes. Er hatte einen Arbeitsplatz im oberen Kader einer Bank und fünf Wochen Ferien. Wenn da nur nicht seine Minderwertigkeitskomplexe wegen seiner geringen Körpergrösse gewesen wären. Dies war vielleicht auch der Grund, warum er in der Armee Major geworden war und dort jeweils ziemlich laut herumschrie. Doch zuhause im Quartier war er selten anzutreffen, viel lieber sass er vor dem Fernseher und betrachtete die Welt durch die Mattscheibe hindurch. Ja, und Christoph Blocher hatte er an einem Gratis-Buurezmorge die Hand geschüttelt, und ihm seine Bewunderung mitgeteilt.

Seit Wochen ist Herr Gross nun ein anderer Mensch: Mit kritischem Auge hatte er die stetige Vergrösserung des Bauches seiner Frau beobachtet, und glaubte, sie würde nun auch so dick wie seine geliebte Schwiegermutter werden; doch als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei, verdrückte er heimlich eine Freudenträne und begann förmlich aufzublühen. Vergessen waren fortan sein Bierbauch und sein schütteres Haar. Er ging mit seiner Frau ans Quartierfest, führte sie in die besten Restaurants aus, er wagte sich mit ihr sogar ans rechte Seeufer und besuchte das Openair-Kino beim Zürichhorn.

Endlich war es soweit, seine Frau lag mit den Wehen in der Maternité des Hirslandenspitals. Auf-geregt ging Herr Gross den klinisch sauberen Gang auf und ab. Würde er nicht jeden Sonntagabend seine Fingernägel peinlichst genau auf ihre ihm als passend erscheinende Länge zuschneiden, dann hätte er sie jetzt abgekaut. Ob er bei der Geburt dabeisein möchte, wurde er von einem freundlich dreinblickenden, weisshaarigen Arzt gefragt. Er folgte ihm in den Saal, eine Hebamme überprüfte die Herztöne des Kindes. Herr Gross nahm die Hand seiner Frau und strich zärtlich darüber. Sie stöhnte und schrie kurz auf, erschrocken drückte er die Hand, worauf sie mit dem Arm zuckte. Verlegen liess er die Hand los und konzentrierte sich auf die Atmung. Er freute sich auf den grossen Moment, wie sich ein Kind auf Weihnachten freut. Endlich war dieser da: Der Kopf schaute zuerst heraus, dann folgte der Rest des kleinen Körpers. Mit einem kräftigen Schrei kündigte sich Gross Junior der Welt an. Wiederum verdrückte der stolze Vater eine Freudenträne. Die Nabelschnur wurde durchgetrennt, danach das Kind gebadet und gewogen. Eingewickelt in ein Badetuch wurde er, es war ein Junge, in die Arme von Herrn Gross gelegt. Augenblicklich verwandelte sich der Vater in einen Säugling zurück und sprach mit seinem Sohn in sogenannter Säuglingssprache: Ululu, Gagagaga, Pfrrrrrr oder Blablagna gehörten ebenso zum Vokabular wie scheinbar drollige Grimassen. Er legte das Neugeborene an die Brust seiner Frau und erkundigte sich nach den Massen seines Kleinen. Die soeben neubetretene Welt brach gerade wieder in sich zusammen: der Neugeborene war relativ klein und leicht. Ganz der Vater, lächelte seine Frau. Sofort waren Herrn Gross Minderwertigkeitskomplexe zurückgekehrt. Sie waren sogar noch zahlreicher als zuvor, sie drohten in eine regelrechte Minderwertigkeitskomplexdepression auszuarten. Nicht, dass er schon zu klein war – Nein: sein Kind musste das gleiche harte Schicksal erleben.

Wie er aus der Maternité hinaus gekommen war, und warum dass er ausgerechnet im Niederdorf in der Rheinfelder Bierhalle landete, wusste er auch nicht so genau. Er wollte nur noch eines: seinen Frust ertränken. Nach zwei Massen begann er sich umzusehen. Die Bierhalle war mit ihren nikotin-
gelben Wänden und den ordinären Lampen in ein gelbliches Licht getränkt. Es sassen wenig Leute drin, einige wenige assen draussen auf der Gasse etwas. Er sah eine japanische Reisegruppe, die ihre Koffer hinter sich herzog, vorbeihuschen. Ein Langhaariger mit Glatze und einem Schnauz setzte sich zu ihm an den Tisch. Er war betrunken und roch gegen Wind nach Zigaretten. Herr Gross fühlte sich durch die Anwesenheit des Säufers angeekelt. Doch dieser prostete ihm unverholen zu und grabschte eine Zeitung hervor. Ob er im Kino gewesen sei, wollte er wissen, dort laufe ein sozialkritischer Film. Er könne dabei immer gut abschalten und nachträglich darüber reflektieren. Während der Alkoholiker so vor sich hinredete, begann Herr Gross eine gewisse Sympathie für ihn zu empfinden. Ob es einfach das Gespräch war, welches ihn auf andere Gedanken brachte, oder doch der Alkohol, konnte er nicht genau sagen. Er wusste nur, Alkohol verbindet, denn normalerweise hätte er vor dem Trinker Reissaus genommen.

Warum er denn hier sei, wollte dieser wissen, und bestellte bei der Serviererin, mit der er per du war, einen weiteren Kübel. Wiederum konnte Herr Gross nicht sagen, warum er gesprochen hatte, denn normalerweise würde er nie mit Fremden über seine Probleme reden, er tat es ja auch nicht mit seiner Frau. Wie auch immer, er begann von seinen Minderwertigkeitskomplexen und von der Geburt seines etwas zu klein geratenen Sohnes zu erzählen. Und auf einmal wirkte der vor ihm sitzende Trinker nüchtern auf ihn. Ohne ihn zu unterbrechen hörte er ihm zu, und was er ihm dann sagte, hätte laut Herr Gross auch kein Psychiater besser gekonnt:
«Es geht dir doch gut. Du hast eine Wohnung am Zürichberg. Stell dir vor, ich wohne hier im Stadtmief unten und habe auch keine ruhigen Nachbarn. Vom Auto brauchst du gar nicht zu reden. Seit die Polizei mir das Billett abgenommen hat, lagert es drüben im Strassenverkehrsamt. Du hast eine Frau. Weisst du, wie gern ich wieder eine Frau hätte? Hatte mal eine, war so ’ne richtige Schlampe. Erwischt mit dem Nachbarn – konnten grad beide gehen! Und Uschi und wie all die Mädchen hier heissen, bringens auf die Dauer auch nicht. Ein Kind, in meinem Alter?»
Er sei auch nicht mehr der jüngste, meinte Herr Gross.
«Was kümmert es dich, dass dein Kind nun drei Zentimeter kleiner als das Durchschnittsbaby ist? Ich war als Säugling auch nicht gerade der grösste. Und heute bin ich einsfünfundachtzig gross.» Herrn Gross’ Augen begannen zu leuchten bei diesen Worten.
«Wenn das so ist, dann kann ja mein Kleiner noch ein richtig grosser werden!»
«Siehste, so schnell geht das», sagte der Trinker.
Herr Gross schmunzelte. Der Trinker überredete ihn, auf seine Vaterschaft anzustossen und eine Runde zu spendieren, was Herr Gross dann auch tat. Glücklich und in der Hoffnung, dass sein Kind einmal grösser sein werde als er, verliess er nach Mitternacht torkelnd die Bierhalle und fuhr nach Hause.

 

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Die Rheinfelderbierhalle im Niederdorf, worin der kleine Herr Gross sein Schlüsselerlebnis hatte. Die Gasse am linken Bildrand ist die Friedrich Glauser Gasse.

 

 

der grosse Tag des kleinen Herrn Gross – 1996

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