der Grundsucher
PDF Download


Leute, hört meine unglaubliche Geschichte! Was ich zu berichten weiss, ist nichts als die Wahrheit. So ist es gut, macht es euch gemütlich. Denn ich möchte euch nun etwas über unsere Stadt erzählen. Stadt ohne Boden – ja, sie wird tatsächlich so genannt! Ihr Name, sofern sie jemals einen besessen hat, scheint in den Plänen einer längst vergessenen Vergangenheit verloren gegangen zu sein. Ihre Bewohner haben sich nach und nach an die Vergessenheit, an diesen Identitätsmangel, gewöhnt. Sie nennen sich einfach Einwohner. Die Stadt hat keinen Boden und die Einwohner keinen Namen. Dem ist immer so gewesen. Leute, hört meine Worte! Abgesehen vom Fehlen des Bodens unterscheidet sich diese unsere Stadt durch nichts von anderen Städten… Ausser dass sie anstelle von Vororten, die sich tentakelähnlich in die Landschaft strecken, in die Höhe wächst. Die Neubauten stapeln sich einer auf dem anderen. Jede Generation setzt eine neue Schicht auf die Vorhergehende, die sich wiederum auf ihrer nächstunteren Vorgängerin abstützt. Seit grauer Vorzeit hat man dies so gemacht.

Glaubt mir, keiner weiss es besser als die Grundsucher. Es ist ebenso unglaublich, dass es unter unseren eingeengten Geistern jemand gibt, der darüber nachdenkt, denn kein Einwohner zweifelt einen Augenblick daran, dass sich unser Leben seit weit entfernten Zeiten in die Höhe entwickelt. Nur Grundsucher sind verrückt genug, sich solche Extravaganzen zu leisten und nach dem Grund aller Dinge zu suchen. Und doch, alle zwanzig Jahre erscheint wieder ein neuer. Diese Aussenseiter verbringen Stunden damit, die Leere zu erforschen. Sie sind überzeugt, dass ein genügend durchdringender Blick eines Tages die Erde, die Basis unserer Stadt, entdecken könnte. Und ihrer Marotte folgend, verbringen diese Sonderlinge ihr Leben damit, die Existenz des Wortes Boden logisch zu beweisen. Möglicherweise war es durch irgendwelche primitive Schamanen ausgedacht worden, um darauf das Chaos zu begründen, woraus ein für alle Mal unsere Stadt hervorgegangen ist. Man kennt sie gut, die Grundsucher. Man behandelt sie wie Verrückte, Gefährliche, Hochstapler, Aussätzige, Kranke und Erleuchtete… Doch sie mokieren sich jeweils über unsere Schimpfworte, denn es findet sich immer wieder einer unter uns, der sich entflammen lässt, und unsere Gemeinschaft verlässt, um sich auf die verrückte Suche nach dem Grund zu begeben. Dem ist immer so gewesen. Und wer sagt, dass nicht du der nächste Grundsucher sein wirst?

Höret meine Worte! Die Existenz eines Grundsuchers ist immer in zwei klar unterscheidbare Teile geteilt: Der erste Teil ist eine theoretische Ausbildung während seiner Jugend. Danach folgt die Zeit der praktischen Experimente. Das scheint diesen Sonderlingen von oben – oder eher von unten – diktiert. Langsam und mit viel Geduld verleibt sich ein Grundsucher ganze Bibliotheken ein. Er liest alles, was ihm in die Hände kommt: von den ältesten, unentzifferbaren Hieroglyphen bis zu den modernsten Informatikprogrammen. Er gräbt alte, längst eliminierte Kodizes aus, durchforscht die geografischen und topografischen Atlanten, vergleicht juristische Akten, Geburtsurkunden, Testamente und Nachlässe, Telefonbücher, Register von Katasterämtern, nekrotische Notizen, Akten jeder Art, historische Kunstalmanache, technische Beschreibungen von Baumaterialien und Stilkunden. Es gibt keine noch so unendliche Liste, die ein Grundsucher nicht analysiert, um alten Bräuchen folgend allem einen Sinn zu geben. Tag für Tag verbringt er in Archiven, Amtskorridoren, in Gemeindekanzleien und Universitätskellern. Er begibt sich in die Hölle von Bibliotheken um Mikrofilme zu reproduzieren, worauf Jahre, Jahrzehnte, ganze Jahrhunderte und verschiedene Epochen darauf sind. Sein Hirn scheint auszubrechen, er isst nichts mehr, schläft nicht mehr und er bricht alle sozialen Kontakte ab. Er liest und übersetzt nur noch. Er verfolgt die kleinste Spur der Worte Boden, Grund, Erde, Humus, Stiftung, Fundament, fundamental, Staub und Gott. Und dann kommt der Moment, in dem er definitiv seine Worte verliert. Endlich kann er, vollkommen vorbereitet für seine Suche, seine Studien verlassen und in die zweite Periode seines Lebens treten: die Expedition. Einige glauben jeweils, eine neue Heilslehre entstehen zu sehen, denn die Aussenseiter zeigen jeweils auf das Unvollendete über unseren Köpfen. Gott regiert oben und der Boden, oder eher das Bodenlose, regiert unten. So ist es immer gewesen.

Meine unglaubliche Geschichte ist noch nicht zu Ende! Setzt euch noch einmal gemütlich hin. Vor wenigen Tagen begab sich wieder einer dieser Grundsucher auf seine letzte Reise. Ich bin mir ischer, ihr habt davon gehört. Tagelang war er das Tagesgespräch, denn normalerweise hätte er hinabsteigen müssen, denn alle Grundsucher vor ihm haben sich in die unendliche Tiefe aufgemacht. Sie gingen wie dunkle, Furcht einflössende Spinnen auf dem Verputz, um sich in die fantastische Unterwelt hinabzulassen. Doch keiner von ihnen war je wieder zurück gekehrt! Ihr wisst es genau, eure Eltern haben es euch erzählt, und die haben es von ihren Eltern erfahren, und die haben es wiederum von ihren Eltern gehört. So ist es immer gewesen.

Und so sollte es immer sein. Doch ihr wisst es, ich sehe es euren Augen an, dass ihr euch erinnern könnt. So etwas unerhörtes hat es noch nie gegeben. Dieser Unglücksselige stieg nicht hinab! Unter uns werden noch einige sein, die sich daran erinnern, dass er sogar den Kopf gegen den Himmel gehoben hatte. Und wisst ihr, was er mit seinem klaren und doch vernebelten Blick anvisiert hatte? Genau, die letzte Konstruktion, das letzte moderne Werk im Herzen unserer Stadt, dasjenige, das neben dem höchsten Gebäude stand. Wie ihr vielleicht vernommen habt, hat niemand versucht, ihn zurückzuhalten. Sie haben keinen Ton von sich gegeben, keinen Pips und keinen Schrei. Sie haben einfach darauf gewartet, dass sich das Schicksal – sein Schicksal – erfüllen würde. Denn er schickte sich an, in die Tiefe zu segeln wie ein Vogel. Mit einem Schrei war er gesprungen. Und sie warteten, dass sein Schrei immer leiser und leiser und leiser wurde und schlussendlich verhallen würde, wenn sein Körper in der unendlichen Tiefe im undruchdringlichen Dunkel verschwände. Doch während sie noch gebannt gewartet hatten, hat sich hinter ihnen eine Tür geöffnet und jemand hat etwas gerufen. Sie waren sich sicher gesehen, dass sie ihn in der Tiefe verschwinden gesehen hatten. Und so lenkten sie ungläubig ihre Schritte nach oben, nach ganz oben, auf die oberste Plattform unserer Stadt ohne Boden.

Ihr ahnt es, was sie dort oben gefunden haben. Was sie gesehen haben. Ja genau, ihr zwei in den hintersten Reihe, ich habe es von euren Lippen lesen können. Ihr alle wisst, wie es gewesen ist. Sie haben den Grundsucher an seinen Kleidern erkannt, als er dort oben, auf dem höchsten Gebäude unserer Stadt, zerschmettert in seinem eigenen Blut gelegen hat.

 

zurück zur Story-Sélection
zurück zur Belletristik
VzfB-Home

Der Grundsucher – 1998  

© 1998/2009 by VzfB. All Rights reserved.