die Seelenkäfige
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«Fischer!», der Junge rief ihn nun schon zum dritten Mal. «Hallo, Fischer!» Doch aus der schäbigen Holzhütte drang kein Laut nach draussen. Die Hütte stand direkt neben dem verwunschen Pier. Dieser wurde so geheissen, weil von ihm aus die Schiffe mit den Ausgestossenen, die man in die neue Welt verbannt hatte, ausgelaufen waren. Manch Schiff war während der Überfahrt gesunken oder Seuchen waren an Bord ausgebrochen. Die Zeit der grossen Auswanderungs- und Aussiedlungswellen war schon seit einigen Jahrzehnten vorüber. Seither haben sich die Fischer dieses Hafenviertels bemächtigt. Täglich boten sie ihren Fang in Kisten feil. Zur Zeit der Väter war alles noch besser gewesen: da hatte im Hafen täglich der Fischmarkt stattgefunden. Jung und Alt, Arbeiter und Bedienstete und gar manch Bürgersfrau war gekommen und hatte die fangfrischen Fische gekauft.
«Hallo Fischer!», der Junge rief noch ein weiteres Mal. «Ach vergiss es, Billy!», sprach er zu sich selbst, als sich in der Hütte noch immer nichts rührte. «Der Alte wird wohl seinen Rausch ausschlafen.» Billy schaute auf die Hütte, deren Bretter von der Sonne ausgebleicht waren. Hier und dort splitterte noch etwas Lack von den Planken, doch ein Funke würde genügen, um das Haus lichterloh zu entzünden.

Billy setzte sich in seinem Käfig anders hin. Seine linke Pobacke schmerzte ihn, nun musste er die Rechte belasten. Wie lange er nun schon in diesem Langustenkäfig gefangen war, konnte er nicht sagen. Warum er eingesperrt war, wusste er auch nicht. Er wusste bloss, dass er in diesem Käfig eingesperrt war und dass dieser an einer Ankerkette hing, die ihrerseits an einem Kranhaken hing. Obwohl ihn der Fischer schlecht behandelte, konnte er nicht sagen, dass er misshandelt wurde. Schliesslich hatte ihn der Fischer an den Kran gehängt und diesen über das Wasser gedreht. Wenn die Sonne vom Himmel brannte, war es an Land kaum auszuhalten. Über dem Wasser ging wenigstens ein sanfter Wind, der eine feine Idee von Kühle vermittelte. Denn heute war es heiss. Die Hitze lag bleiern über dem Hafen. Der Wind mischte die salzige Luft, die erfüllt vom Gestank alternder Fische, verrotendem Seetang, Motorenöl und Brackwasser war, mit dem Geruch des weiten Ozeans auf. Auch Billy in seinem Langustenkäfig roch den Geschmack des weiten Meeres. Und er glaubte, den Geruch seiner Insel zu riechen. Und Billy begann zu träumen. Er träumte von einem Newcastle Schiff ohne Kohlen, das seinen Vater und ihn zur Seeleninsel bringen würde.

Eine Stimme holte ihn aus seinen Träumen zurück. Billy blickte aus seinem Käfig und sah in ein riesiges, schwarzes Gesicht. Dunkle Augen, grosse Nüstern in einer breiten flachgedrückten Nase kontrastierten mit dem weissen Barthaar und den elfenbeinfarbenen Zähnen.
«Du bist es König. Ich hab dich gar nicht kommen sehen», meinte Billy.
König war riesig, hatte breite Schultern und einen sonoren Bass als Stimme. Er soll so kräftig sein, erzählte man sich, dass er eine Kokosnuss mit blossen Händen öffnen könne. Im Gegensatz zu den anderen Schwarzen im Hafen, die entweder schwächliche Handlanger oder halbstarke Schläger waren, hatte der König stets seine Würde behalten. Die Piratenbraut wollte gesehen haben, dass in Königs Adern tatsächlich blaues Blut floss. Blaublütig war König in der Tat: In seiner Heimat, der in nördlichen Breiten so genannten 9. Welt, war er Herrscher über einen Stamm. Vor Jahren war König von einem Seelenfischer der vor seiner Küste gekreuzt hatte, eingefangen worden. Auf dem Schiff des berüchtigten Kapitän Hook war er in die Stadt gekommen. Kapitän Hook hatte anstelle seines rechten Unterarmes und der Hand einen Metallhaken. Ganz so böse wie man sich erzählte war der gefürchtete Pirat nicht; von Zeit zu Zeit entliess er eine seiner gefangenen Seelen und hielt dabei eine Rede über das Bürgerrecht des antiken Roms. So war auch König nach Jahren in Kapitäns Hooks Gefangenschaft freigelassen worden. Doch er war nicht mehr in sein Königreich zurückgekehrt. Seit seiner Freilassung half er anderen hoffnungslosen Seelen.

«Du hast dich herausgeputzt, König. Was ist der Grund dafür?», erkundigte sich Billy.
«C’est dimanche, fiston!», sprach König. Über seinen Hosen und seinem Leibchen trug er trotz der Hitze ein Löwenfell, dessen Vorderbeine über seiner stolzen Brust zusammengenäht waren. Seine grossen Ohrenläpp-chen waren mit Spitzen, die aus dem Horn eines Schwertwals hergestellt worden waren, geschmückt. Um seinen mächtigen Hals hing eine Kette aus Haifischzähnen, Löwenkrallen und Perlen.
«Eine besondere Sonntag ist heute», wiederholte König geheimnisvoll. «Aujourd’hui, oune âme sera liberer!», sprach er. Obwohl es Billy Wunder nahm, wessen glückliche Seele ein neues Leben beginnen konnte, wusste er, dass der König bloss Fragen stellte, aber keine beantwortete.
«Commant tou t’es faire attraper?», fragte König. Billy sah, dass sich der massive Schwarze an der Winde des Kranes zu schaffen machte. Schon bald drehte er am Rad und Billys Langustenkäfig schwenkte langsam vom Wasser her zum Kai. Trotz des Quietschen und des Lärmes des verrosteten Rades, blieb es in der Hütte des Fischers still.
«Commant tou t’es faire attraper?», fragte König erneut.
«Das habe ich mich schon oft gefragt, König. Aber ich weiss es nicht. Auf einmal bin ich hier in diesem Käfig aufgewacht. Wie lange ich schon hier bin, weiss ich nicht.»
«Depouis tres long, fiston. Ma raconte moa ton ’istoar.»

«Geboren wurde ich als Sohn eines Nieters, der wiederum ein Nietersohn gewesen war. Unzählige Schiffe hatten meine Väter gebaut. Sie bauten diese jeweils von Anfang an. Am Ende waren sie gefangen im Skelett des Rumpfes. Doch sie arbeiteten gut. Ihre Nieten halten noch immer die Schiffe zusammen. Doch eines Tages hatte mein Vater einen Unfall. Er war von einem Gerüst dreissig Fuss tief hinunter gefallen. Sie haben ihn in einer Ambulanz nach Hause gebracht. Der Arzt hat ihm noch drei Wochen zu leben gegeben. Was blieb mir als Nietersohn anderes übrig, als selbst arbeiten zu gehen. Ein neues Schiff wollte gebaut werden. Seit jenem Tag habe ich einen wiederkehrenden Traum. Ich träume von einem Schiff, dass Vater und mich zur Seeleninsel bringen wird.»
«Quel bateau?»
«Ein Newcastle Schiff ohne Kohlen. Aber da ist noch ein anderer Traum gewesen.»
«Quel rêve?», fragte König interessiert. Schon oft hatte er mit Billy über seinen Traum gesprochen. Doch einen weiteren Traum hatte der Junge noch nie erwähnt.
«Am Tag an dem mein Vater gestorben ist, hatte ich diesen Traum. Als ich langsam in den Schlaf abzugleiten begann, watete ich in seichtem Wasser. Ich glaubte schwarze Segel zu sehen, die sich klar vom bleichen gelben Himmel abhoben. Ich begann zu schwimmen und folgte dem Mond und seiner Geliebten, bis ich das Land aus den Augen verloren hatte. Dunkle Engel folgten mir über ein gottloses Meer. Ich bin immer weiter geschwommen, bis aus der Nacht wieder Morgen geworden war. Da sah ich das schwarze Segel wieder vor dem immer röter werdenden Himmel, und eh’ ich mich’s versah, fand ich mich an Bord des Schiffes wieder. Doch es war nicht das Schiff meiner Träume. Es herrschte ein unerträgliches Schweigen und die Segel hingen schlaff in den Rahen, so als ob sich der Wind in der Takelage stranguliert hätte. Ich war noch müde vom Schwimmen. Vielleicht habe ich eine Stunde geschlafen, vielleicht auch einen Tag. Als ich wieder erwachte, spürte ich einen feinen Wind, so ähnlich wie vorhin. Doch auf dem Wasser tanzten weisse Schaumkronen, die sich wie wilde Schimmel gebärdeten und vom bevorstehenden Rennen kündeten. Und schon bald war aus der Brise ein Sturm geworden. Das Meer wurde grau, das Schiff ward hin und her geworfen. Der blaue Himmel wurde zuerst grau und verdüsterte sich immer mehr, bis er ganz schwarz war. Zwischen den triefenden Segeln glaubte ich den Schatten des Fischers am Ruder ausgemacht zu haben.» Billy zeigte auf die ausgebleichte Hütte. «Doch als ich genauer hinsah, sah ich das Gesicht meines Vaters. Als nächstes erinnere ich mich an das bizarre Erwachen in diesem Langustenkäfig.»
«Ecoute, fiston. Tou n’as pas vou ton père. Tou as vou le pecheur.»
«Das habe ich mir gedacht. Vater war bereits gestorben. Long John Silver, die einzige Person, vor der sich der Fischer fürchtet, hat mir erzählt, dass viele Leute von ihren verstorbenen Verwandten träumen, bis diese beerdigt sind. Auf keinen Fall sollte man ihnen folgen, wenn sie einem darum bitten.»
«Long Jean dit la verité! Wenn du Toten gefallen machst, du auch tot!»
«Aber mein Vater hat mich nie gebeten, mit ihm zu gehen. Er war und bleibt tot. Bin ich deshalb in diesem Käfig eingesperrt? Wieso kann ich nicht zur Seeleninsel segeln?», fragte Billy erregt. Eine Träne begann ihren Weg über seine Wange zu nehmen. Eindringlich schaute Billy den Schwarzen an.
«Ecoute fiston. Tou es la, parce que c’est un pecheur d’âmes! Dans tout ces cages tou vois est oun’ otre âme povre.» Billy wiederholte langsam, was ihm König gesagt hatte, um den Sinn der Worte zu verstehen. Er war in diesem Langustenkäfig eingesperrt, weil er im Traum dem schwarzen Schiff gefolgt war. Am Steuer war nicht sein Vater sondern der Fischer gestanden. Doch es war kein gewöhnlicher Fischer, sondern ein Seelenfischer. Und in all den Langustenkäfigen hier im Fischereibezirk waren keine Tiere sondern abertausende gefangene Seelen.
«Dans tout ces cages sont que des âmes.»
«Aber das ist doch Wahnsinn!», schrie Billy. Was sind das für Seelen?
«Ecoute mon ’istoar, fiston», gebat König während er Billys Käfig auf den Boden hinunter liess und sich daneben setzte.

Bevor König zu erzählen begann, schien er andächtig zu schweigen. Doch eigentlich horchte er aufmerksam zur Fischerhütte hinüber. Als er regelmässiges Atmen daraus hörte, war er beruhigt.
«Que penses-tou?», fragte er Billy, «wie viele cages d’ âmes gibt es ’ier im Fischerei’afen?»
«Das ist schwierig! Ich weiss es nicht. Unzählige nehme ich an. Die Sterne der Nacht scheinen jeweils Feuer ins Chaos der Langustenkäfige in der Bucht draussen zu legen.»
«Exactement, fiston. Unzahlige cages d’ames. Und doch weiss man wie viele es ’at. Four jede arme Seele in der Stadt ’at es einen Cage. In jeder einzelne steckt die Seele eines gequalten Menschen. Es sind die Seelen der Arbeiter der ruinierten Fabriken, die Seelen der Leibeigenen der gesturzten Krone. Die Toten fouren die Buch’altung der gebrochen Versprechen der Lebenden. Es sind die Seelen einer gebrochenen Stadt. C’est pourquoa tou es ici!»
«Ich verstehe nicht was du damit meinst», antwortete Billy. Doch König hob warnend die Hand und legte den Zeigfinger auf den Mund.
«J’ecoute quelque chose. Je doua faire vite!», sprach er. Auf einmal hatte er ein Fässchen in der Hand und hielt es Billy hin.
«Prends-le», forderte er den Jungen auf. Obwohl Billy wusste, dass er es niemals durch die Gitterstäbe bringen würde, griff er danach und plötzlich war es in seinem Käfig.
«Ecoute bien, fiston. Quand le pecheur vient, tou doua loui dire...»
Billy konnte König fast nicht verstehen, weshalb er seinen Kopf an die Gitterstäbe drücken musste um seine Worte zu hören. Dann war König so schnell verschwunden wie er gekommen war.

Von der Hafenpromenade her kamen zwei Huren mit ihren Freiern. Billy kannte die Frauen alle. Manche kamen aus der Stadt, Andere waren zeitweise hier, Dritte wiederum waren auf Schiffen eingereist und hier im Hafen gestrandet. Es gab Junge und Alte, Dicke und Dünne, Schöne und Hässliche, Schwarze, Gelbe und Weisse und gar solche, die eigentlich Männer waren. Billy wusste, wo sie sich mit den Herren trafen und wo sie ihren Geschäften nachgingen. Und er wusste auch, dass sie von Männern aus allen Schichten besucht wurden: Ärzte, Krämer, Polizisten, Studenten, Soldaten, Fischer, Rockstars und sogar Nieter hatte er schon bei ihnen ge-sehen. Billy hatte auch erfahren, dass es Huren gab, welche die Männer in eine Falle lockten damit die Hafenbanditen diese ausnehmen konnten. Billy wusste auch, dass diese Verbrechen nicht angezeigt wurden, denn die Huren taten etwas, was verboten war. Auch wenn er sich nicht erklären konnte, was das war. Mit Einigen verstand er sich gut. Besonders die rote Roxanne schien ihn zu mögen, sie brachte ihm oft Früchte oder Süssigkeiten in seinen Käfig. Billy versuchte Königs Worte über die gebrochenen Städte zu verstehen. Von Roxanne wusste er, dass sie nicht freiwillig anschaffte. Irgend ein grober Kerl zwang sie dazu. Ob Roxanne auch in einem Langustenkäfig lebte? Billy beschloss, sie das nächste Mal danach zu fragen.

Die Huren gingen mit ihren Freiern an der Fischerhütte vorbei und stiegen die Treppe, die neben dem verwunschenen Pier zum Strand führte, hinab. Darunter gingen sie ihren Geschäften nach. Billy war neugierig, was sie trieben, doch er konnte nichts sehen. Der Fischer wusste von dem Platz unter dem Pier. Er schaute manchmal aus seiner Hütte zu. Auch wenn Billy nichts von ihm hörte, konnte er sich gut vorstellen, dass er auch jetzt wieder dem Treiben der Huren zuschaute.
«Fischer!», rief er. «Hallo Fischer!» Doch der schien zu beschäftigt zu sein oder er schlief, denn er antwortete Billy noch immer nicht. Also rief Billy noch einmal. Doch anstelle des Fischers rief eine der Huren vom Strand her, er solle schweigen. Und so schwieg Billy und versuchte wieder, die seltsamen Worte des Königs zu verstehen. Doch er konnte sich nicht richtig konzentrieren, da er vom Strand her schon bald spitze Schreie hörte.
«Hallo! Hat sich jemand weh getan?», rief Billy besorgt. Da ihm niemand antwortete, rief er ein zweites Mal.
«Nein, es hat sich niemand verletzt! Und jetzt schweig endlich, oder wir werfen dich mitsamt deinem Käfig ins Wasser!», rief einer der Männer, wo-rauf schmutziges Gelächter erklang. Billy verstand nicht, was er Falsches gesagt hatte und schwieg beleidigt. Das Gestöhne ging wieder los. Als es verklungen war dauerte es einen Augenblick, bis die beiden Huren alleine die Treppe hochstiegen. Als sie an der Fischerhütte vorbeigingen, warfen sie Billy tödliche Blicke zu.

Der Tag zog sich in die Länge ohne dass noch jemand bei Billy vorbei kam. Auch in der Hütte war alles ruhig geblieben, obwohl er ein paar Mal nach dem Fischer gerufen hatte. Da er nicht mehr über dem Wasser hing, bekam Billy Durst. Auch wenn Königs Fass voll war, wollte er nicht daraus trinken. Irgendwann würde der Fischer schon wieder erwachen, tröstete sich Billy. Er glaubte vom Strand her eine Melodie zu hören, die sein Vater auch gesungen hatte. Und tatsächlich stieg ein paar Momente später die Piratenbraut die Treppe hoch. Tag für Tag war sie am Strand und hielt nach dem schwarzen Schiff am Rand der Welt Ausschau. Ihr Bräutigam war vor Zeiten in See gestochen, um das Gold der spanischen Königin zu rauben. Mit dem erbeuteten Schatz wollte er eine rauschende Hochzeit feiern. Doch seit ihr Bräutigam ausgelaufen war, floss die Flut stetig auf den Strand und wieder zurück. Und auch wenn die Piratenbraut jeden Tag am Strand nach den schwarzen Segeln Ausschau hielt, wusste sie, dass ihr Liebster das spansiche Gold nicht gestohlen hatte. Er war viel eher mit zwei hiesigen Münzen auf den Augen in ein Tuch eingenäht und in Neptuns feuchtes Reich übergeben worden.
«Wie geht es dir, mein Kleiner?», fragte die Piratenbraut. Billy mochte sie gut. Er freute sich jeden Tag auf ihren Besuch. Sie war anders als die anderen Frauen im Hafen. Sie unterhielten sich oft und lachten miteinander. Es machte Billy traurig, dass sie einem anderen versprochen war, obwohl er seine Gefühle noch nicht richtig verstehen konnte.
«Wie ich sehe, hast du heute schon einmal Besuch gehabt?», stellte sie fest.
«Ja, König ist hier gewesen und er hat mir dieses Fass gegeben.»
«Gibst du mir einen Schluck daraus?»
«Nein. Ich darf nicht!», sagte Billy.
«Ich weiss. Aus Königs Fässern dürfen nur die trinken, denen er es erlaubt hat. Sonst ist man verflucht. Hat er dir nichts erzählt? König verteilt seine Fässer nie, ohne einem den Grund zu verraten, weshalb man hier gefangen ist.»
«Doch hat er. Aber ich habe es nicht so richtig verstanden.»
«Lass mich raten, fiston: Er hat dir von den Seelen der gebrochenen Stadt und den ruinierten Fabriken erzählt.»
«Jawohl. Aber die Stadt steht doch noch?» Die Piratenbraut lachte.
«Entschuldige, dass ich dich ausgelacht habe. Manchmal vergesse ich, dass du noch ein Kind bist. Lass mich dir erklären, was es mit der gebrochenen Stadt auf sich hat. Die alten Seebären erzählen sich noch heute, dass man sich mit den Fischern, als man ihnen den verwunschenen Pier überlassen hatte, den Tod ins Land geholt hatte. Zuerst starben die Fische, dann kam der Krieg und die Passagierschifffahrt verschwand. Mit dem Frieden kam der Fortschritt und das alte Gewerbe wurde überflüssig, bis schlussendlich auch die Soldaten abzogen. Der Hafen begann zu siechen. Von dem kranken Hafen wurde die ganze Industrie angesteckt, bis sie schlussendlich von der Regierung den Gnadenschuss erhalten hatte. Heutzutage wird der Hafen bloss noch von Fischern, Huren, Touristen und reichen Jachtbesitzern benützt. Doch der Fischmarkt, von dem unsere Väter noch erzählen, den gibt es nicht mehr. Lastwagen bringen tiefgefrorenen Fisch in die Supermärkte.»
«Was hat denn das alles mit mir zu tun?»
«Vieles, was sich die alten Seebären erzählen, ist Seemannsgarn. Doch an der Geschichte mit dem verwunschenen Pier hat es etwas Wahres dran. Wann die Fischer übergingen, anstatt Fische Seelen zu fangen, weiss niemand mehr so genau. Viele sagen, es wäre während des Krieges gewesen. Aber es kann genau so gut schon während der Wirtschaftskrise zuvor ge-wesen sein. In jedem dieser Langustenkäfige steckt eine Seele, die unglaubliche Qualen durchgestanden hat. Manche kann König befreien, andere bleiben für immer in ihrer Pein gefangen und man kann nur für sie beten, dass Gott sie endlich erlösen wird.»
«Weshalb so viele Seelen? Die ganze Bucht scheint voll von ihnen zu sein.»
«Weisst du Billy, die Welt ist böse. Einige Wenige knechten die anderen und bereichern sich auf deren Kosten. Als unsere Väter jung waren, fuhren hier noch täglich grosse Schiffe in die weite Welt. In unserer Stadt wurden mehr als in einer Werft Schiffe gebaut. Doch irgendwann hat die Regierung beschlossen, die Eisenmienen zu schliessen. Tausende von Arbeitern verloren ihre Stelle. Die meisten fanden keine Arbeit mehr, sie konnten ihre Familien nicht mehr ernähren. Weil nun das Eisen für die Schiffe über das Meer transportiert werden musste, fanden es die Werftbesitzer billiger, auf der anderen Seite des Meeres Schiffe zu bauen. So starb in unserer Stadt eine Werft nach der anderen. Bis zu guter Letzt nur noch die übrig blieb, in der dein Vater als Nieter gearbeitet hatte. Tausende von Arbeitern haben da-mals ihre Arbeit verloren. Sie konnten ihre Familien nicht mehr ern hren. Obwohl ihnen der Staat und die Werftbesitzer das Gegenteil versprochen hatten. Die einzigen Profiteure waren die Fischer. Jeder Arbeitslose, der seine Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte und nicht wusste, wie er seine Familie ernähren konnte, fand sich eines Tages in einem solchen Käfig wieder. Zuerst waren sie am selben Ort wie du. Doch mit der Zeit wurde ihre Not immer grösser, ihre Käfige wanderten langsam ins Meer. Jeder Arbeiter, der auf die Strasse gestellt wird, verliert seine Seele an die Seelenfischer.»
«Gibt es denn keine Möglichkeit, den Fischern zu entkommen?»
«Nur durch Selbstmord. Doch das ist auch keine Lösung. Du rettest zwar deine Seele vor dem Zugriff der Fischer. Doch diese fangen sich einfach die Seelen deiner Familie.»
«Ich beginne zu verstehen», meinte Billy und blickte über das Meer, wo die Fischer mit Bojen die Netze ihrer Langustenzuchten markierten. «Wieso bin ich in einem Langustenkäfig gefangen? Ich bin doch noch ein Kind?», fragte Billy.
«Nein Billy. Du bist kein Kind mehr. Nicht in den Augen deiner Familie und schon gar nicht für die Fischer!»
«Aber warum? Du machst mir Angst!», sagte Billy schluchzend.
«Ich will dir keine Angst machen. Für mich bist du Billy, der Schiffsjunge. Fiston, wie dich König nennt. Auch wenn eine Piratenbraut manchmal Furcht einflössend ist, musst du keine Angst haben, solange ich bei dir bin!», sagte sie und nahm seine Hand. Billy lächtelte. Auch wenn er seine Gefühle ihr gegenüber noch nicht richtig verstand, wusste er, dass sie recht hatte.
«Als dein Vater starb, ist deine Familie in dieselbe Situation gekommen, wie wenn er die Stelle verloren hätte. Gut, deine Mami ist zwar etwas besser dran, weil sie vom Staat eine Witwenrente erhält. Aber mit der lässt sich keine Familie ernähren. An dem Tag, als dein Vater verunfallte, bist du erwachsen geworden. Bis zu jenem Tag bist du Billy the Kid gewesen, der zur Schule gegangen ist und aus dem einmal ein Anwalt geworden wäre. Aber der Unfall deines Vaters hat alles verändert. Du musstest plötzlich arbeiten. Was blieb einem Nietersohn anderes übrig? Ein neues Schiff musste gebaut werden. Von dem Tag an hatte es der Fischer auf dich abgesehen. Du bist ein Prachtsstück in seiner Sammlung. Asylanten, Arbeitslose, Behinderte, Depressive, Ganoven, Kritiker, Politiker, Bischöfe, Huren, Junkies, Kranke, Spieler, Spekulanten, Waisenkinder und Witwen hat er genug. Aber ein Junge, der seine Familie ernähren muss, das ist eine Prachtsseele! Du bist schliesslich noch ein Kind! Eines, das er eben seiner Kindheit beraubt hatte.» Billy verstand nun Königs Worte und weinte. Die Seelenkäfige waren eine Krebs ähnliche Ausgeburt der gebrochenen Städte.
«Das ist furchtbar: Ich bin dazu verurteilt, elend in diesem Käfig zu krepieren und immer weiter ins Meer zu sinken. Es ist ein nasser und qualvoller Tod, der mich erlösen wird.»
«Nein, mein Junge. Du kannst dem hier entkommen!», sprach die Piratenbraut.
«Wie denn?», fragte Billy erwartungsvoll.
«Vertraust du denn einer Piratenbraut?», fragte sie. Wäre Billy etwas älter gewesen, hätte er verstanden, dass sie mit ihm zu schäkern begann.
«Dir vertraue ich. Nun sag schon.»
«Du hast etwas, was die meisten in ihren Käfigen nicht mehr haben.»
«Echt?» Billy schaute sich in seinem Käfig um. Fand aber ausser dem Fass des Königs nichts.
«Nein, nicht das Fass, Dummerchen!», gurrte die Piratenbraut.
«Was denn? Sag schon!», forderte Billy aufgeregt.
«Ein Newcastle Schiff ohne Segel, das deinen Vater und dich fort von hier bringt!»
«Du meinst meinen Traum?»
«Genau! Du bist kein Opfer der gebrochenen Stadt, das Schicksal stellt dich mit dem Tod deines Vaters auf die Probe. Du hast diese eine Chance! Pack sie! Vielleicht musst du noch ein paar Jahre hart arbeiten und deine Seele in diesem Käfig fristen lassen. Doch du kannst noch hier wegkommen. Du musst nicht zwangsläufig ins Meer gezügelt werden.»
«Und was muss ich tun?»
«Befolge einfach das, was dir König gesagt.»
«Das werde ich!», sprach Billy. «Das werde ich!» Um nichts in der Welt wollte er länger als nötig in diesem Langustenkäfig eingesperrt sein.
«Danke!»
«Och, nichts zu danken!», sagte die Piratenbraut kokett. «Aber...», Billy schaute sie fragend an.
«Nimm mich mit!», sagte sie bestimmt. Billy strahlte. Nichts lieber als das würde er tun.
«Geht klar», sagte er.
Die Piratenbraut beugte sich vor und hielt ihr Gesicht an den Käfig.
«Komm her, wir besiegeln unseren Pakt mit einem Kuss!», forderte sie. «Komm schon, hast du Angst?», fragte sie als er sich zierte.
«Nein», sagte Billy und ging auf die Knie. Als er sein Gesicht an die Gitterstäbe presste, konnte er ihren nach Schweiss, Salz und einem verdunsteten Parfum schmeckenden Geruch riechen. Er küsste sie auf die Stirn.
«Was soll das?», fragte sie entrüstet.
«Du hast gesagt, wir besiegeln unseren Pakt mit einem Kuss. Das habe ich getan.»
«Doch kein Mamiküsschen! Richtige Verbündete küssen sich auf die Lippen.»
«Ach so. Das wusste nicht. Entschuldige bitte», sprach Billy.
«Schon gut. Küss mich endlich!», sagte sie und schürzte die Lippen. Billy ahmte sie nach und näherte sich ihr. Als sich ihre Lippen berührten, wollte er sich zurückziehen, doch zugleich wollte er sich nicht wieder blamieren, auch wenn er sich ekelte, als sich ihre Zunge ihren Weg in seinen Mund zu bahnen begann.
«Das ist ein richtiger Kuss, Fiston, so küssen sich Partner! Und du küsst wie ein richtiger Mann!», lobte die Piratenbraut nach einem für Billy endlosen Augenblick. Er fühlte sich geschmeichelt.
«Denk an das Newcastle Schiff ohne Kohlen!», sagte die Priatenbraut und warf ihm eine Kusshand zu. Danach erhob sie sich und ging wieder zum Strand hinab.

Billy hörte etwas in der Hütte rumoren. Und so rief er dem Fischer.
«Beim Klabautermann, was ist denn nun schon wieder?» Der Fischer erhob sich mühsam von seiner Bank. «Dieser Junge wird noch mein Tod sein!» Ächzend verliess er seine Hütte. Der Fischer war ein alter Seemann, dessen Haut von der Sonne ledrig gegerbt war. Er trug ein zerissenes Leibchen und eine zerschlissene Hose. Das immerfeuchte Klima zur See und im Hafen liess die Gicht in seinen Gelenken heimisch werden. Und so ging er schweren Schrittes auf den Käfig zu. «Was willst du? Hat der kleine Billy nicht genug zu essen gekriegt?»
«Du nennst mich beim Namen?»
«Ach Junge, heute ist Sonntag. Und sonntags sollte man eine gute Tat tun.»
Billy lächelte. «Gegessen habe ich genug. Danke. Doch ich sollte...»
«Warum konntest du das nicht gleich sagen, du Seegurke?»
«Nein, nein. Nicht, was du denkst, Fischer.»
«Was ist es dann? Warum bewege ich meine verrosteten Gelenke nach draussen? Ich warne dich, wenn es nichts Ernstes ist, hänge ich dich ins Wasser!», sprach der Fischer wütend.
«Ich habe dir eine Wette vorzuschlagen!», sprach der tapfere Billy ernst. Obwohl er an einen Scherz glaubte und darüber wütend war, musste der Fischer lachen. Billy hatte ihn noch nie Lachen gesehen.
«Du wirst trinken, was ich trinke», fuhr der Junge fort und zeigte dem Fischer das Fass. «Doch du musst mich dir gleichwertig betrachten. Und sollte ich nach dem Trinken noch stehen können, so soll eine Seele befreit werden. Ich habe hier ein Fass mit dem verzaubersten Wein, den es gibt. Das Weingut hat jedes Schiff das hier ablegte, gesegnet. Der Wein wurde aus dem Blut der ertrunkenen Seeleute gekeltert. Junge weisse Leichen, welche die Flut anschwemmt.»
«Und was ist für mich drin, du hübsches naives Ding?», fragte der Fischer interessiert. «Warum sollte ich dazu pfeifen, wenn der Käfigvogel singt?», meinte er und fuhr bedrohlich fort: «Wenn du eine Wette mit dem König der Meere verlierst, wirst du den Rest der Ewigkeit in diesem Käfig bei mir verbringen müssen! Doch ich höre morgen kein Klagen von dir, wenn dir der Wein nicht bekommen ist!».
«Einverstanden», sprach Billy nun mehr Mann denn Junge. Der Kuss der Piratenbraut und das Bild des Newcastle Schiffes ohne Kohle, das seinen Vater und ihn von hier wegbringen würde, spornten ihn an.
Eine aufgeschlitzte Leiche lag mitten auf der Fischermeile. Sie sah aus, als ob ein Eisberg ein Schiff geritzt hätte. Eine Seele weniger war in den Seelenkäfigen. Ein letzter Fluch lag auf des Fischers Lippen. Billy streckte sich erst einmal richtig durch. Er war frei, er konnte es kaum fassen. Zu seinen Füssen lag die Leiche des Fischers, dahingerafft durch das Gebräu des Königs. Ratten nagten am Körper des Fischers.
«Sie sind zurückgekehrt!», dachte Billy angewidert. Nachdem ihn der Fischer für das Wetttrinken freigelassen hatte, waren die widerlichen Viecher über den Kai geeilt, während sich der Fischer das Fass mit dem magischen Wein an seine Lippen gesetzt hatte. Während er getrunken hatte, waren die Ratten plötzlich im Untergrund verschwunden. An den Mauern konnte Billy Schatten erkennen. Der Himmel verdunkelte sich, Donnergrollen füllte die Luft. Die Kreuze fielen zu Boden und Engel fielen vom Himmel. Möwen kreischten und vom Meer kamen wütende Böen. Es war Mittag und Mitternacht zugleich. Blitze zuckten über das Firmament und es regnete in Strömen. Nachdem der Fischer beinahe das ganze Fass in einem Zug ausgetrunken hatte, war er rülpsend und wie ein Brett nach hinten gekippt.

Die Wolken und das Gewitter begannen sich zu verziehen. Eine feine Brise blies freundlich vom Meer her. Am Rand der Welt tauchte ein schwarzes vom Wind geblähtes Segel auf, das aber im Sonnenlicht weiss zu leuchten begann. Die Kirchenglocken begannen ihren gesegneten Ruf über die Stadt, das Wasser und die Landschaft zu verbreiten. Das Meer ergoss sich am Strand und übergab sich. Mit jeder Welle erbrach es sich und spuckte Langustenkäfige aus. In jedem einzelnen war eine zerfetzte Seele. Aus jedem Käfig kroch ein geschändeter und vergewaltigter Mensch. Torkelnd, aber singend vor Freude über die Freiheit machten sie sich auf den Weg zu ihren geschundenen Heimen. Neben dem Klang der Glocken konnte Billy schon bald die Freudenschreie der Leid geprüften Familien hören.
Das Schiff legte am ehemals verwunschen Pier an. Billy überquerte die Gangway. Kaum war er an Bord, legte das Schiff ab. Es war ein Newcastle Schiff ohne Kohlen. Auf dem Pier stand der König und winkte ihm nach. Billy winkte zurück.
«Au revoir, fiston!», rief der König. «Tou es oun capitaine maintenant!»
«Auf wiedersehen, König!», rief Billy zurück. «Du hast noch viele Seelen zu befreien!» Der König lachte und zeigte zur Fischerhütte hin. An ihrer Stelle konnte Billy ein Lagerhaus erkennen, worauf ein Fass abgebildet war, das demjenigen zum Verwechseln ähnlich sah, das ihm König gegeben hatte. Billy drehte sich um und liess seinen Blick über das Schiff schweifen. Es war bestimmt das Schönste, das er in seinem Leben gesehen hatte. Auf dem Achterdeck stand sein Vater und wartete auf ihn.
«Vater!», rief er, während auf ihn zurannte. Sie umarmten sich.
«Billy, mein Junge, du hast es geschafft!» Überglücklich begann Billy zu weinen.
«Hört auf! Ich kann Happy Ends nicht ausstehen!», hörte er die Piratenbraut sagen. Billy wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute in Richtung der Stimme. Sie stand beim Steuer und hielt das Ruder fest in ihren Händen.
«Wozu brauche ich das Gold der spanischen Königin, wenn ich dich habe?», fragte sie.
«Nimm einen Apfel, Billy! Den hast du dir redlich verdient! Er ist von Roxanne!», sagte sie und streckte ihm die Frucht entgegen. Herzhaft biss Billy in den Apfel. Als er den Kern ins Wasser warf, sah er auf dem Pier neben König Roxanne, seine Mutter und seine Geschwister stehen, die ihm zum Abschied winkten.
«Danke für den Apfel!», rief Billy. Er konnte es noch immer kaum fassen, dass er auf einem Newcastle Schiff ohne Kohlen fuhr, das seinen Vater und ihn weit weg von dieser Stadt zur Insel der Seelen bringen würde.

 

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Die Seelenkäfige wurde durch die Songs von Sting inspiriert.
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