Miraget ermittelt… il Spir
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Conn sura, Anfang September 1632, später Nachmittag
Ein furchterregender Schrei und das angsterfüllte Wiehern eines Pferdes bemächtigten sich des nasskalten Septembernachmittages, ehe sie immer leiser wurden und verstummten.
«Das ist das Ende des berüchtigten Raubmörders Benedetg Caflisch. Das Volk nannte ihn auch il Spir», sprach Hauptmann Catomas. Leutnant Ragettli trat zu ihm.
«Wenn er den Sturz in die Ruinaulta überleben sollte, muss er mit dem Teufel im Bunde sein», bemerkte der Leutnant. Sie schauten dem Fallenden und seinem Tier zu, wie sie sich auf dem Geröllhang überschlugen, daran hinabschlitterten und schlussendlich von den tosenden, hellgrauen Fluten des Vorderrheins verschlungen wurden.
«Schade um das schöne Tier», bedauerte Ragettli.
«Verluste hat man zu kalkulieren», bemerkte Catomas und blickte danach seinen Leutnant fragend an: «Konnten wir die Truhe sicherstellen oder ist sie mitsamt Ross und Reiter in die Tiefe gestürzt?» Leutnant Ragettli schaute sich nach seinen Männern um, die alle schockiert über den tragischen Ausgang der Verfolgungsjagd in die Tiefe starrten. «Ich fürchte letzteres, Herr Hauptmann.»
«Hai nomal!», fluchte Catomas und klatschte danach in die Hände. «Na los! Worauf wartet ihr noch? Wir müssen hinab, die Truhe sicherstellen.»
«Ich widerspreche Ihnen ungern, Hauptmann, für den Abstieg brauchen wir sicher zwei Stunden, in einer Stunde wird es aber dunkel.»
«Khoga khaiba zügs!», enervierte sich Catomas, blickte zum Flimserstein hinüber, kratzte sich an seinem Bart und schaute danach Ragettli ernst an: «Wir reiten unverzüglich nach Reichenau weiter und stellen noch heute Nacht einen Suchtrupp zusammen. Bei Tagesanbruch brechen wir auf. Wir müssen die Leiche dieses Bastards und vor allem diese verfluchte Truhe finden. Wenn nicht, so Gnade der Herrgott uns und den Drei Bünden.»

Trin Mulin, 18. Juni 2013, 9.45 Uhr
Miraget bog bei Reichenau auf die Kantonsstrasse in die Surselva ein. Neben ihm sass Frank Zürcher, der wie der jüngere Bruder des deutschen Sängers Frank Zander aussah.
«Bitte erinnere mich heute Abend daran, dass ich hier Ferien buche», schwärmte er begeistert, als sie den Viadukt bei Tamins überquerten und nach dem Dorf die ersten Kurven in Richtung Flims nahmen. Zu ihrer Linken konnten sie zwischen den Gipfeln des Dreibündensteins und der Signinagruppe ins Domleschg sehen. Vor ihnen öffnete sich über den bewaldeten Flimser Bergsturz hinweg der Blick zum Piz Mundaun und Crap Sogn Gion ins Bündner Oberland.
«Wart ab, bis du heute Nachmittag die beiden Seen sehen wirst. Der Caumasee erinnert seiner Farbe wegen an ein Südseeatoll, während der Crestasee inmitten des Flimserwaldes auch in Kanada gelegen sein könnte», prophezeite Miraget.
«Lag la Cauma, das bedeutet auf Rätoromanisch See der Mittagsruhe.»
«Am Mittag werden wir aber in der Rheinschlucht sein…»
«Ruinaulta», antwortete Zürcher, «die muss auch sehr schön sein.»
«Das ist sie», stimmte ihm Miraget zu und schüttelte danach den Kopf, als er in der nächsten Kurve von einem Einheimischen in einem schwarzen Subaru Legacy Sport mit überhöhter Geschwindigkeit überholt wurde. «Du hast Glück, dass wir zivil unterwegs sind, sonst hätten wir deine Nummer den Bündner Kollegen weitergegeben…», bemerkte er. Kommissar Raggenbass hatte im Vorjahr seinem Team nach drei erfolgreich aufgeklärten Fällen einen besonderen Betriebsausflug versprochen. Dieser war als Belohnung und Teambildungsmassnahme gedacht. Wie Recht er mit seinem Versprechen haben würde, hatte er damals noch nicht geahnt. Doch Miraget fand, dass sie sich die Belohnung redlich verdient hätten: Zunächst hatten sie den fast perfekten Mord am Neftenbacher Weinhändler Kurt Mattmüller aufgeklärt und mit der erfolgreichen «Operation Pablo» war es ihnen gelungen, den internationalen Kunstdiebering um Pierpaolo Spelterini und dessen Hehler Lucien Navarre*) auszuheben. Zuletzt hatten sie gegen den Immobilienmagnaten Volker Eikelt ermittelt. Doch nach den tragischen Ereignissen bei dessen Verhaftung war Lili Webers Rückkehr ins Team lange Zeit unsicher gewesen. Nachdem sie im Frühling wieder ins Team zurückgekehrt war, hatte ihr Raggenbass die Organisation des Betriebsausfluges übertragen.

Miraget fuhr durch den Umfahrungstunnel von Trin und bog danach nach Trin Mulin ab. Auf dem Parkplatz des Sportzentrums Prau am Fuss des Crap Sogn Bargazi war der Treffpunkt, sie erreichten ihn als erste. Frank Zürcher stieg aus und zündete sich eine Parisienne an. Rauchend blickte er zunächst auf die Tennisplätze vor und zum Bargazi hinter sich. «Dieser Berg erinnert mich an einen Elefantenkopf», meinte er.
«Als Krone trägt er die Ruine einer Burg aus dem Mittelalter. Und sein Gehirn ist ein Fort, das während des Zweiten Weltkrieges gebaut worden war. Es war als letzter Stützpunkt vor dem Gotthard gedacht, um die Deutschen aufzuhalten, falls sie die Schweiz nicht über das Mittelland, sondern über das Rheintal hätten einnehmen wollen. Während des Kalten Krieges war die Festung weiter betrieben worden. Heute kümmert sich ein privater Verein um deren Erhaltung», erläuterte Miraget.
«Eine Festung im Berg? So wie im Film?», fragte Frank Zürcher.
«Wie bei James Bond, mit Gängen, Schlafräumen, Küchen, Kanonen und allem drum und dran. Im Wald oberhalb des Parkplatzes ist noch eine Panzersperre.»
«Ich liebe Toblerone-Stücke aus Beton, die mitten in der Landschaft stehen», grinste Frank Zürcher. Er blickte über die Ebene, die hinter den Tennisplätzen begann und den Abschluss des Flimser Bergsturzgebietes bildete. «Als deutscher General hätte ich meine Fallschirmspringer im Rücken der Talsperre landen lassen…», stellte er ob der Landschaft fest und blies Rauchringe in die Luft.
«Das hat unsere Armee auch bemerkt und – Irrtum vorbehalten – eine grössere Kaserne in Ilanz gebaut. Die Festung Trin war die letzte in einem Festungsverbund über das ganze Rheintal. Kernpunkt war der St. Luzisteig zwischen Maienfeld und Balzers in Liechtenstein, die im 17. Jahrundert gebaut worden war. Ich habe mal gelesen, dass die Armee beim Luzisteig und in Sargans das Rheintal hätte fluten wollen, um Hitlers Truppen in den Bodensee zurückzuschwemmen.»
«Auch eine Lösung…», lachte Frank Zürcher und zückte sein iPhone, während er seine Zigarette austrat. Nach etwa einer Minute rief er erstaunt: «Ich glaube es nicht, heute findest du in Nullkommanix die Baupläne der Festung Trin in den unendlichen Tiefen des Internets.»
«So ändern sich die Zeiten», grinste Miraget. Unterdessen war Kommissar Raggenbass in seinem moosgrünen Toyota Avensis Kombi auf den Parkplatz gefahren und parkte neben Miragets auberginefarbenen Citroën DS 5.
«Raggenbass hat die Familienkutsche genommen», bemerkte Miraget.
«Die Kinder sind aber schnell gross geworden», nahm Frank Zürcher den Faden auf, als Lili Weber und Inspektor Steger aus dem Auto stiegen. Sie begrüssten einander herzlich. Raggenbass erläuterte das Tagesprogramm, das mit einem Spaziergang über die Prada, der Ebene bei Trin Mulin, begann und über den Stausee und das Elektrizitätswerk bei Pintrun führte, von wo aus sie in Richtung Versam Station in die imposante Rheinschlucht hinabsteigen wollten. Dort war eine Stunde Mittagsrast eingeplant, bevor die Wanderung durch die Auenwälder der Ruinaulta nach Sagogn führen würde, von wo aus sie mit dem Postauto nach Flims Waldhaus fahren und auf der Senda Sursilvana nach Conn wandern würden, wo sie den Tag gemütlich bei einem Nachtessen ausklingen lassen wollten, ehe sie nach Trin Mulin zurückkehrten.

crap sogn bargazi trin mulin yves baer © vzfb
Der an einen Elefantenkopf errinernde Crap Sogn Bargazi bei Trin.

Scharans im Domleschg, Ende August 1632, früher Nachmittag
Mit gezückter Waffe betrat il Spir einen leer stehenden Stall oberhalb von Scharans am Fusse des Piz Scalottas. Vor drei Tagen hatte man ihm eine Botschaft zukommen lassen, dass er sich um die Mittagsstunde einzufinden habe und alleine kommen solle. Weil der Bundstag, die Regierung der Drei Bünde, ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte, misstraute er der Botschaft und hatte seine Männer im Buschwerk hinter der Scheune versteckt.
«Sie können die Waffe einstecken, il Spir. Ich gebe Ihnen das Geld auch so», herrschte ihn eine kräftige Stimme an. Nachdem sich il Spirs Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er einen maskierten Mann.
«Wer sind Sie?»
«Mein Name tut nichts zur Sache. Wenn Sie wollen, nennen Sie mich la Mascra.»
«Die Maske?», fragte il Spir. Er versuchte den Dialekt des Maskierten einzuordnen. Il Spir sprach Sursilvan, die Mundart aus der Surselva. La Mascra sprach eine Mischung aus Puter, dem Dialekt aus dem Oberengadin und Sutsilvan aus dem Domleschg. Zudem schwang eine deutsche Klangfarbe mit.
«La Mascra ist nur ein Übername, wie Ihrer, Mauersegler. Oder sind Sie nicht eher ein Raubvogel wie der Turmfalke?»
«Was wollen Sie von mir?», fragte der Bandit.
«In zehn Tagen wird Alvaro Gomez di Valdepeñas alleine vom Veltin her über den Julierpass reiten und über das Domleschg und die Surselva in Richtung Frankreich weiterziehen. Gomez ist ein französischer Spion in spanisch-österreichischen Diensten und heisst eigentlich Jean Duffy de Rohan.»
«Ihr wisst, dass mich Politik nicht interessiert. Ich raube jeden aus, ob er nun katholisch oder reformiert ist, ein Säumer oder Adeliger, oder ob er aus den Drei Bünden, aus Frankreich-Venezien, Österreich-Spanien oder der Eidgenossenschaft stammt.»
La Mascra hielt il Spir zur Antwort einen ledernen Beutel hin: «Hier drin sind hundert Dukaten. De Rohan wird eine Truhe transportieren. Sie werden ihm auflauern und ihm diese abnehmen. Das Geld in der Truhe, ein Vielfaches von dem, was in diesem Beutel ist, können Sie behalten. Sollte de Rohan beim Überfall ums Leben kommen, soll mir es mir recht sein.» Il Spir griff nach dem Beutel, doch er griff ins Leere, la Mascra hatte seine Hand bereits zurückgezogen.
«Weshalb bezahlen Sie mich, dass ich einen französischen Spion ausraube und töte? Was befindet sich noch in der Truhe?»
«Papiere, die für den Kardinal persönlich bestimmt sind. Sie enthalten Pläne für einen weiteren Feldzug im Veltlin. Was ein erneuter Einmarsch der Franzosen für die Drei Bünde bedeutet, muss ich Ihnen wohl kaum erklären. Obwohl man im letzten Jahr in Cherasco für die Drei Bünde ein Friedensabkommen geschlossen hat, ist die Gefahr einer französischen Invasion nicht gebannt, solange sich die Grossmächte weiter bekriegen.»
«Drei österreichische und eine franzöische Invasion in den letzten Jahren reichen. Manchmal schadet der Krieg dem Geschäft. Doch welchen Kardinal meinen Sie? Unser Bischof residiert doch in Chur?»
«Der Bischof in Chur weiss nichts von de Rohans Mission, weil die Dokumente für Kardinal Richelieu in Paris bestimmt sind, der mächtiger als der König von Frankreich ist. Den Frieden für die Drei Bünde zu bewahren, sollte auch Ihre patriotische Pflicht sein, Caflisch!»
Il Spir pfiff leise durch die Zähne und rekapitulierte: «Ich bringe Ihnen also diese Papiere und behalte das Gold aus der Truhe? Was geschieht, wenn die Truhe leer ist? Wer bezahlt mich dann?»
«Sie erhalten dreitausend Dukaten als Belohnung. Das entspricht etwa dem, was in einer solchen Truhe Platz findet. Ich gebe Ihnen das Geld bei unserem nächsten Treffen als Prämie für Ihren tapferen Einsatz für den Frieden. Alles Gold, das sich in der Truhe befindet, ist darüber hinaus Ihr Gewinn.»
«Das klingt gut, aber Politik ist interessiert mich nur, solange sie mir nützt. Wer garantiert mir, dass dies keine Falle ist, um meiner habhaft zu werden?»
«Sie sind so gerissen, wie sich die walserischen Bauern in den Hochtälern erzählen, Caflisch. Ich erwarte Sie in zwölf Tagen zur selben Zeit wieder hier in dieser Scheune. Liefern Sie die Papiere rechtzeitig, erhalten Sie zusätzlich dreitausend Dukaten. Das sind insgesamt sechstausend Dukaten ohne die Hundert in diesem Beutel.» La Mascra hob seine Hand mit dem Lederbeutel. «Ich kann Ihr Kopfgeld nicht aufheben, doch ich habe einflussreiche Freunde im Bundstag. Den Frieden zu retten kann Ihr erster Schritt in eine lukrative Zukunft sein. Kriege produzieren nur Verlierer. Und doch können Kriegszeiten der Ausgangspunkt für Ruhm, Ehre und vor allem Vermögen sein. Letzteres aber nur, wenn man es versteht, im richtigen Augenblick anstatt zu stehlen, einen Handel abzuschliessen… Sie zögern noch immer?»
«Ich habe nur einen Kopf und an dem hänge ich. Dies ist der Grund, dass die Bauern während den langen Winterabenden sich die Zeit mit Ammenmärchen über il Spir totschlagen.»
«Ich wiederhole: Diese hundert Dukaten sind die Anzahlung und Sie erhalten den Inhalt der Truhe als Belohnung. Übergeben Sie mir rechtzeitig die Papiere, erhalten Sie zu den vereinbarten dreitausend Dukaten nochmals so viele. Zudem werde ich meinen Einfluss geltend machen, was das Kopfgeld betrifft. Kommen Sie einen Tag zu spät, weil immer irgend etwas passieren kann, so erhalten Sie noch zweitausend Dukaten zusätzlich und meine Fürsprache. Sehen wir uns erst heute in zwei Wochen wieder, sind es noch tausend Dukaten Prämie, aber ihr Kopfgeld bleibt unverändert bestehen. Und sollten Sie drei Tage zu spät kommen, bleibt es bei den vereinbarten hundert Dukaten und den dreitausend als Prämie. Aber vielleicht wird dann diese Scheune von Soldaten umstellt sein… Ich rate Ihnen, il Spir, lassen Sie es nicht darauf ankommen. Dass wir heute miteinander sprechen, bedeutet, dass wir Sie innerhalb eines Tages aufspüren können.
«Einverstanden», entgegnete il Spir zerknirscht. Dass ihm seine Häscher so nahe gekommen sind, gefiel ihm nicht. Vielleicht war es an der Zeit, das Vesteck zu wechseln.
«Ich habe mit Ihrem Einverständnis gerechnet. Doch noch etwas Letztes: In der Zwischenzeit werden Sie weder von mir hören noch werden Sie eine weitere Nachricht erhalten. Sollte man Sie nach diesem Treffen fragen, so hat es nie stattgefunden. Gerüchte, wahre und falsche, verbreiten sich in unsicheren Zeiten besonders schnell.»
«Ich habe verstanden!», brummte er. La Mascra hielt ihm den Geldbeutel hin. Anstatt ihn zu nehmen, erkundigte sich der Bandit: «Sind Sie Pfarrer Jenatsch?»
La Mascra ignorierte il Spirs Frage, warf den Beutel aus der Scheune und verschwand im dunklen Hinterteil der Holztenne. Von seinem Standort aus beobachtete er, wie der Räuber ins Freie trat, den Beutel aufhob und im Dickicht verschwand. Nach einem Moment sah er Bendetg Caflisch mit seinen Männern davonreiten.
«Mammon…», sagte la Mascra verächtlich und schlüpfte durch einen Spalt in der Mauer des Blockhauses ins Freie.

Krumme Waage, Ruinaulta,18. Juni 2013, gegen Mittag
Nach gut anderthalb Stunden überquerte Raggenbass’ Team den Rhein auf dem Wanderweg, der über eine Stahlbrücke der Rhätischen Bahn führte, und erreichte die bewaldete Halbinsel Krumme Waage, auf der es mehrere Rastplätze gab. Bei einer Feuerstelle direkt am Fluss legten sie Rast ein. Felsbrocken und Bäume schirmten sie vom Wanderweg dahinter ab. Miraget türmte das von der Gruppe gesammelte Holz pyramidenförmig auf. Nach zehn Minuten brannte ein munteres Feuer.
«Das hast du gut gemacht. Bist du Pfadfinder gewesen?», fragte Lili Weber.
«Nein, ich bin bloss ein heimlicher Pyromane», grinste Miraget und legte Holz nach. Während das brennende Holz knisterte, bat Lili Weber um Aufmerksamkeit: «Bis die Glut soweit ist, möchte ich euch kurz etwas über die Landschaft erzählen. Wir befinden uns in der Rheinschlucht bei Flims, durch die der Vorderrhein fliesst. Am Ende der letzten Eiszeit ereignete sich hier der grösste Bergsturz der Alpen. Der Flimserstein ist das, was vom Berg übrig geblieben ist. Der Flimser Bergsturz hat elf Mal die Masse des Matterhorns. Der Rhein staute sich am Schuttkegel zum Ilanzer See auf, der je nach Quelle, bis fast nach Disentis gereicht hatte. Ilanz ist Hauptort des Bezirks Gruob, die Einheimischen nennen die Gegend um Ilanz auch Badewanne. Mit der Zeit frass sich der Vorderrhein durch die steinerne Talbarriere und schuf diese markante Erosionslandschaft. Vorhin sind wir der Bahnlinie entlang gewandert. Mit ihrem Bau vor einhundert Jahren hat sich das Ökosystem verändert, wodurch eine Landschaft mit seltenen Orchideen, Schmetterlingen und Vögeln entstanden ist. Diese imposanten Steinspitzen, die überall aus den Geröllhalden aufragen, nennt man Ruinas. Die Ruina uns gegenüber hat eine Höhe von über 300 Metern. Wenn ihr genau hinschaut, seht ihr dort oben die Aussichtsplattform «il Spir» bei Conn. Sie heisst so, weil sie mit ihrer dreieckigen Form an einen Mauersegler erinnert. Wir werden sie heute Abend vor dem Nachtessen noch besichtigen.»
«Vielen Dank, Lili. Mit diesen Ausführungen hast du dir den ersten Platz auf dem Grill verdient», lächelte Raggenbass.
«Kommt gar nicht in Frage, dass sie mit ihrem Gemüsespiess den Rost verunreinigt», zündelte Miraget.
«Dreh lieber den Rost über die Glut, damit ich mein Kotelett darauf legen kann», entgegnete Raggenbass.
«Aye aye, Sir», antwortete Miraget und drehte den quietschenden Metallrost über die Glut.
«Der harte Winter und die Regenfälle in diesem Frühling haben wohl das Gewinde rosten lassen», sagte er entschuldigend.
«Was regst du dich auf? Schliesslich ist es ein Grill-Rost…», feixte Lili Weber.
Miraget blickte auf seine verschmutzten Hände und wischte sie sich an seiner Jeans ab.
«Lasst mir noch einen Platz auf dem Grill frei», sagte er und entfernte sich über die Felsen.

«Hast du mir auch eine?», wandte sich Lili Weber an Frank Zürcher, der sich eine Parisenne ansteckte. Er hielt ihr das gelbe Zigarettenpäckchen hin und gab ihr danach Feuer. Lili Weber atmete den Rauch tief ein und blickte dabei gedankenverloren auf das klare Wasser des Vorderrheins, der wenig Wasser führte und dessen Wellen die Oberfläche fast schon lieblich kräuselte. Frank Zürcher liess seinen Blick den imposanten Ruinas entglang gleiten und schaute danach ebenfalls auf den Fluss. Er zog an seiner Parisenne und schüttelte dabei den Kopf. Die hier von Zeit zu Zeit auftretenden Naturgewalten erschienen ihm so unwahrscheinlich wie der grosse Lastwagen einem Kind, das von seiner Mutter in der sicheren Garageneinfahrt den ersten Verkehrskundeunterricht erhielt. Rauchend, aber auch geniessend, beobachtete Frank Zürcher Raggenbass’ hübsche Assistentin. Sie hatte ihre Arme unter ihrem grossen Busen verschränkt. Im Profil betrachtet erinnerte sie an die Videospielfigur Lara Croft. Lili Webers heller Teint kontrastierte mit ihrem rabenschwarzen Haar und dem dunklen T-Shirt. Ihre Augen hatten das kalte Blau eines Gletschersees. «Eigentlich müsste in Lilis Venen Walserblut fliessen», dachte er. Ein blaugelbes Zodiac-Schlauchboot mit einem halben Dutzend Riverraftern, die gelbe Helme und rote Schwimmwesten trugen, fuhr an der Feuerstelle vorbei.
«Das hätte ich auch gerne gemacht, aber Raggenbass wollte nicht», schmollte Lili Weber.
«Hat er dir das Rauchen verboten?», fragte Frank Zürcher scherzhaft.
«Nein, aber Riverrafting durch die Rheinschlucht. Absolut ungefährlich, aber spektakulär. Zunächst hatte ich für uns so ein Boot gebucht. Aber dann hat der Chef missmutig bestimmt, dass man dem Steuerzahler nicht zumuten könne, dass sich seine Kriminalpolizei auf diese Art und Weise vergnüge… Darum tippeln wir nun völlig öde und wie der letzte Schmuggler durch die Landschaft.»
«Lili, du gibst meinem Leben einen neuen Sinn: Ich möchte Raggenbass als Riverrafter erleben», lachte Frank Zürcher.
«Damit sind wir schon zu zweit. In diesem Fall lohnt es sich schon bald, dass ich als seine Assistentin Überstunden schiebe, damit er beim nächsten Mal keine Ausrede mehr hat…» Lili Weber nahm einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette und sah Miraget hinter der Feuerstelle auf den Felsen auftauchen.
«Ich habe etwas gefunden, das müsst ihr euch unbedingt ansehen!», rief er aufgeregt.
«Eine Leiche?», unkte Lili Weber.
«Vielleicht ist es ein verunfallter Riverrafter», doppelte Frank Zürcher nach.
«Hast du einen Goldschatz gefunden?», scherzte Inspektor Steger.
«Kann sein. Die Truhe ist noch halb im Wasser.»
«Bitte, ich habe Hunger…», knurrte Raggenbass.
«Das ist kein Witz, ich kenne diesen Blick», sagte Frank Zürcher.
«Wo denn?», fragte Lili Weber nun interessiert.
«Gleich hinter den Felsen. Ich habe sie entdeckt, als ich mir die Hände waschen wollte», antwortete Miraget und zeigte über seine Schulter. Neugierig kletterte das Team über die Felsen und folgte Miraget. Kurz darauf standen sie staunend am Wasser und blickten auf eine verwitterte Truhe, von der bloss eine Ecke aus dem Kiesboden herausschaute. Kleine Wellen klaren Flusswasssers um- und überspülten die Truhe.
«Das ist unglaublich», murmelte Raggenbass.
«Ich wusste ja, dass es in der Surselva Gold gibt. Es aber gleich kistenweise zu finden, habe ich nicht erwartet», bemerkte Miraget.
«Lasst uns kurz überlegen, was zu tun ist», meinte Inspektor Steger.
«Schätze, die gefunden werden, gehören dem Staat», dachte Raggenbass laut nach.
«Sehr gut, wir sind vom Staat. Ich helfe euch gerne tragen, sollte euch starken Männern die Truhe zu schwer werden», flachste Lili Weber.
«In diesem Fall gehört er dem Kanton Graubünden», antwortete Inspektor Steger.
«Na und, in der siebenhundertjährigen Geschichte der Eidgenossenschaft habe ich sicher eine Bünder Grosstante in der Verwandschaft. Da soll mir der Kanton zuerst einmal das Gegenteil beweisen, bevor er meinen Schatz beschlagnahmt.»
«Neben dem Aussehen hat sie auch noch die unbewusste Erinnerung an Walser Vorfahren…», dachte Frank Zürcher lächelnd und entgegnete: «Ich schlage vor, dass wir den Schatz dem Rhätischen Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen. So wissen wir, dass er ins richtige Licht gerückt und erst noch professionell ausgestellt wird.»
«Noch habe ich die Truhe gefunden! Und als Stadtzürcher ist klar, dass er nur in Zürich ausgestellt wird. Ich denke ans Landesmuseum oder die Universität…», protestierte Miraget.
«Kann mir bitte jemand die Nummer des archäologischen Dienstes des Kanton Graubünden aus seinem iPhone rauskitzeln?», fragte Raggenbass. Er zückte demonstrativ sein schwarzes Motorola V50 Klapphandy aus dem Jahr 2000 und wartete darauf, dass man ihm die Nummer diktierte. «Bitte nicht alle miteinander, aber heute noch», bemerkte er und lächelte zufrieden in die Runde. Ausser dem über die Szene amüsierten Miraget hatten alle ihre Smartphones gezückt und wischten mit besonders ernsthaften Minen und flinken Fingern über die kleinen Bildschirme ihrer Smartphones.
«Komm schon, Liebes, ich weiss, dass du hier unten Empfang hast…», murmelte Inspektor Steger. Frank Zürcher hatte bei Google die Begriffe Gold, Schätze und Surselva eingegeben und scrollte sich durch die Treffer.
«Ich hab’ die Nummer gleich gewählt, du kannst mit meinem Handy telefonieren», triumphierte Lili Weber.
«Danke, Kinder», sagte Raggenbass und nahm das Telefon, «und nun ab an den Grill, nicht dass noch vor dem Mittagessen Gerüchte auf Facebook gestreut werden… Bis wir wissen, was das für eine Truhe ist, verfüge ich eine absolute Informationssperre. Wer sich nicht daran hält, wird augenblicklich vom Dienst suspendiert und hat für die Kosten des Ausfluges selber aufzukommen.»
«Ja, Papi», feixte Lili Weber. Da sein Anruf entgegengenommen wurde, ignorierte Raggenbass die Bemerkung seiner Assistentin und bellte sein übliches, einschüchterndes «Stadtpolizei Zürich, Kommissar Alois Raggenbass am Apparat!» ins Telefon. Gleichzeitig machte er Miraget ein Zeichen, dass er noch bei ihm bleiben solle.

Crestasee, Anfang September 1632
Il Spir wusste nicht, ob er seinem rätselhaften Auftraggeber vertrauen konnte. Sollte dieser Auftrag eine Falle sein, um seiner habhaft zu werden, dann war sie raffiniert genug, um von Pfarrer Jenatsch zu stammen, der in diesen unsicheren Tagen mit der einen Kriegspartei paktierte, um nach wechselndem Kriegsglück wieder das Bündnis zu wechseln. Böse Zungen munkelten, dass er von der benachbarten Eidgenossenschaft gelenkt und vor allem eine Marionette Zürichs wäre. Momentan erlebten die Drei Bünde eine ruhige Zeit, weshalb il Spir keine neuen Auseinandersetzungen provozieren wollte. Obwohl er, solange in Europa Krieg herrschte, in relativer Sicherheit sein würde, da die gnädigen Herren andere Prioritäten hatten, als ihn zu verfolgen, so war der Krieg am Ende seinem Geschäft abträglich. Vielleicht wäre es doch besser, den politischen Auftrag von la Mascra zu erfüllen, um sein Scherflein ins Trockene zu bringen? Nach zwei Tagen des Nachdenkens in seinem Schlupfwinkel am Crestasee befand il Spir, dass er den Auftrag ausführen würde. Einen französischen Doppelagenten abzufangen, verhiesse doppelten Profit: weiterhin Frieden für die Drei Bünde und das Urteil des Bundstags gegen ihn würde aufgehoben.

Krumme Waage, Ruinaulta, 18. Juni 2013, früher Nachmittag
Zwei Stunden später führte Miraget die beiden schwerbepackten Archäologen Jon Fontana und seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Peidr Capaul, von der Station Versam zur Fundstelle bei der Krummen Waage. Fontana fotografierte zunächst die Truhe, die nach wie vor aus dem Wasser ragte, während Capaul sich auf seinem iPad Notizen machte und ab und zu damit ebenfalls die Truhe fotografierte.
«Ich liebe es, anderen Leuten beim Arbeiten zuzuschauen. Das entspannt mich mehr als eine Wellness-Masage in einem Luxusresort», scherzte Miraget, während die Archäologen unter den neugierigen Blicken von Raggenbass’ Team mit Gummistiefeln und Schaufeln bewaffnet die Truhe ausgruben und sie ans Ufer trugen, wo sie diese ein erstes Mal untersuchten. Nach einer kurzen Diskussion beschlossen sie, die Truhe für weitere Abklärungen ins Labor nach Chur zu schaffen. Und sie auch erst dort zu öffnen.
«Haben wir einen Goldschatz gefunden?», erkundigte sich Miraget eine halbe Stunde später auf dem Rückweg zur Station Versam. Die Archäologen hatten die Truhe in eine Plasticbox verpackt und trugen diese zu zweit zum Auto, während Miraget ihnen ihr Werkzeug trug.
«Die Truhe sieht relativ alt aus. Von wann sie ist, kann ich erst sagen, nachdem wir sie im Labor genauer untersucht haben. Wir werden eine C14-Bestimmung durchführen. Das Gleiche gilt auch für den Inhalt. Sollte die Truhe aber enthalten, was ich vermute, dann haben wir eine kleine historische Sensation», antwortete Jon Fontana.

ruin aulta yves baer © vzfb
Die Ruin Aulta nach der Station Versam in Richtung Ilanz, gesehen im Oktober 2012.

Disentis, Anfang September 1632
Seit zwei Tagen hatte il Spir Jean Duffy de Rohan verfolgt, nachdem er ihm bei der Via Mala abgepasst hatte. Behände und elegant wie ein Mauersegler kletterte er über die hohen Mauern des Stiftsbezirkes des Klosters Disentis, das er von Kindsbeinen an kannte. Hier hatte er während zwei langen Jahren die Klosterschule besucht. Zunächst schlich er sich in die Stallungen. Die Pferde standen alle abgesattelt in ihren Boxen. Danach huschte il Spir in die Kapelle und mimte den frommen Pilger, der um Schutz für die bevorstehende Reise und Aufgaben bat. Doch während des Gebetes beobachtete er die anderen Reisenden. Hernach inspizierte er das Gästehaus, worin die über den Oberalppass Fahrenden ein Obdach und eine warme Mahlzeit fanden. De Rohan sass mit einer Hand voll weiterer Gäste an einem grossen Tisch und ass mit ihnen eine Gerstensuppe mit frischen Brot. Wie man bloss so leichtsinnig sein könne, fragte sich il Spir, als er de Rohans Zelle ausfindig gemacht hatte, worin besagte Truhe unbeaufsichtigt, aber fest verschlossen neben dem Bett stand. Es wäre ihm ein Einfaches gewesen, die Truhe zu nehmen und aus dem Kloster zu tragen. Aber vielleicht trug de Rohan die geheimen Papiere auch auf sich. Sein mysteriöser Auftraggeber wünschte sich neben diesen Papieren de Rohans Tod. Auch wenn er ein Räuber war, ermorderte il Spir gegen einen Aufpreis seine Opfer. Nachdem er das Zimmer des Franzosen untersucht hatte, zog sich il Spir in die Klosterkirche zurück und versteckte sich in einem Beichtstuhl, wo er auf die Vigil warten wollte.

Conn, 18. Juni 2013, 18.30 Uhr
Nach Bergung der Truhe hatte Raggenbass das Tagesprogramm neu gestaltet. Miraget sollte die Archäologen begleiten und der Rest des Teams nahm die Bahn nach Ilanz und fuhr von dort mit dem Postauto nach Flims, von wo es wie geplant über den Caumasee nach Conn spazierte. Als sie gegen sechs Uhr in Conn eintrafen, sass Miraget bereits auf der Terrasse des Restaurants Conn unter der grossen Birke, rauchte einen Zino Brasil Zigarillo und las bei einer Flasche Calanda Bräu die Bündner Zeitung und den Blick.

«Was hast du in der Truhe gefunden?», fragte Lili Weber neugierig, als sie nach der Vorspeise, frische Feigen mit Ziegenkäse an Aceto Balsamico, bei einer Flasche Herrschäftler Blauburgunder aus Jenins auf die bestellten Capuns oder Trinser Birnenravioli warteten und nur noch über die unerwarteten Ereignisse des Tages sprachen.
«Ich weiss es nicht», antwortete Miraget. «Ich konnte bei der Öffnung der Truhe nicht mit dabei sein. Die Ergebnisse wollen die Archäologen erst in ein paar Wochen der Öffentlichkeit präsentieren. Immerhin werden wir als Finder an der Pressekonferenz teilnehmen.»
«Ich kenn’ dich, du sagst noch nicht alles», sagte Frank Zürcher. «Ist etwas Wertvolles in der Truhe oder handelt es sich bloss um ein Überbleibsel von einem Pfadi-Pfingstlager der letzten Jahre?»
Miraget schüttelte den Kopf. «Ich weiss es wirklich nicht. Ich habe die Archäologen zu ihrem Auto begleitet. Sie waren so freundlich und haben mich statt in Reichenau abzusetzen nach Trin Mulin gefahren, sodass ich hier nach einem einstündigen Spaziergang auf euch warten konnte. Auf der Fahrt haben wir natürlich über den Fund gesprochen. Und was ich euch nun erzähle, darf unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen.»
«Grosses Pfadfinderehrenwort», versprach Lili Weber.
«Weil sie durch die Ausgrabung durstig geworden waren, haben wir ein Bier in der Ustria Parlatsch in Trin Mulin getrunken. Jon Fontana kennt die Wirtefamilie, weil er im Winter immer in Trin langlauft. Die Plasticbox mitsamt der Schatzkiste haben die Archäologen mit ins ins Restaurant genommen.
«Das erinnert mich an die Geschichte, als wir einmal Kunstschätze in der ehemaligen DDR transportierten und dann der Lastwagenfahrer in einer Jugenherberge Hilfskräfte anfordern musste…», lachte Raggenbass. «Doch dies ist eine andere Geschichte.
«Jon Fontana vermutet, dass die Truhe aus der Zeit des Dreissigjährigen Krieges stammt und eines der letzten regionalen Rätsel aus dieser Zeit lösen könnte», fuhr Miraget fort.
«Machst nun auch du Witze?», fragte Raggenbass.
«Keineswegs. Fontana hat mir seine Theorie bei einer Flasche Marenghin erzählt. Und wenn nur die Hälfte davon wahr sein sollte, haben wir eine historische Sensation. Die gute Nachricht ist, dass die Truhe ziemlich alt, aber authentisch zu sein scheint. Die schlechte Nachricht ist, habt ihr schon von il Spir gehört?»
«Na klar, das ist die Aussichtsplattform hier in Conn, auf der du dreihundert Meter über dem Vorderrhein zu schweben scheinst», antwortete Inspektor Steger.
«Wirklich eindrücklich – sofern du schwindelfrei bist», ergänzte Lili Weber lächelnd.
«Die Plattform hat aber nichts mit dem historischen il Spir zu tun. Der war zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges ein berüchtigter Raubmörder und hat sein Unwesen vor allem auf den Bündner Alpenübergängen getrieben. Alles was reiche Beute versprochen hatte, wurde von ihm überfallen.»
«Warum benennt man einen gewöhnlichen Wegelagerer nach dem Mauersegler?», wunderte sich Raggenbass?
«Weil keine Mauer zu stark und kein Turm zu hoch war, um ihn von seinen Überfällen abzuhalten. Laut Fontana ranken sich viele Legenden um il Spir. Er ist fast schon ein Nationalheld der Surselva. Es gibt aber nur einen einzigen historischen Bericht von einem Pater Gion Cavelty aus Disentis, der il Spir im Kloster gesehen haben wollte. Benedetg Caflisch, wie il Spir eigentlich hiess, stammte aus der Surselva. Und gemäss einer anderen Legende soll il Spir gar Klosterschüler in Disentis gewesen sein.»
«Was ist die schlechte Nachricht an der Entdeckung von il Spris Schatz?», wunderte sich Raggenbass.
«Jede historische Verifikation lässt die bunten Legenden verblassen», antwortete Miraget.
«Du hast einen Pater erwähnt. War das so eine Art Bündner Bruder Tuck, der mit Robin Hood unterwegs war?», fragte Frank Zürcher und steckte sich eine weitere Parisienne an.
«Das habe ich die beiden Archäologen nicht gefragt. Aber il Spir war sicher kein Robin Hood gewesen, der die Reichen bestohlen und seine Beute den Armen weitergegeben hat. Benedetg Caflisch hat sich nur für seinen eigenen Benefit interessiert, wenn ich das mal so poetisch sagen darf. Alles, was reiche Beute versprach, war von ihm überfallen worden. In dieser Beziehung erinnert er mich eher an die Schweizer Banker unserer Tage, die bloss auf ihre Boni aus sind und den Reichen aller Länder helfen, ihr Vermögen am Fiskus ihrer Heimatstaaten vorbeizuschleusen.

Was die Epoche von il Spir von der heutigen Zeit unterscheidet, ist, dass Graubünden damals noch nicht zur Schweiz gehört hat und das Veltlin ein Untertanengebiet der Bündner gewesen ist. In der Folge der französischen Revolution spaltete Napoleon 1797 das Veltlin ab und Graubünden trat in der Folge der Schweiz bei. Während des Dreissigjährigen Krieges kämpften die katholischen und reformierten Gebiete Europas um die Vorherrschaft des wahren christlichen Glaubens. In Nordeuropa setzte sich die Reformation durch, der Süden ist bis heute katholisch geblieben. Damals nannte man Zürich wegen seinen Buchdruckern und der Zürcher Bibel das Rom an der Limmat. Nicht zuletzt, weil Zürich, trotz seiner Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft, als souveräne Stadtrepublik innerhalb Europas betrachtet wurde. Vergleichbar mit Venedig, das aber Kriegspartei war. Die katholischen Gebiete Europas beförderten im Dreissigjährigen Krieg, während den sogenannten Bündner Wirren, hauptsächlich frische Truppen und Gelder über die Bündner Pässe vom heutigen Italien ins heutige Deutschland. Dass diese Gelder mehr als bloss eine Versuchung für Banditen wie il Spir dargestellt haben, erklärt sich von selbst. Zürich versuchte auf dem diplomatischen Parkett die reformierte Eidgenossenschaft, vor allem aber sich selbst, aus dem christlichen Bruderkrieg rauszuhalten, weshalb Graubünden und das Veltlin in den Fokus der Zürcher Aussenpolitik gerückt waren. Der damals wichtigste Bündner, Jörg Jenatsch, hatte in Zürich studiert. Der Dreissigjährige Krieg war der erste Krieg, der die Schweiz in ihren damaligen Landesgrenzen verschont hat. So ist die Schweiz trotz ihrer katholischen Berggebiete ein reformiertes Land geblieben. Und dies, obwohl heute in Zwinglis Zürch mehr Katholiken als Reformierte leben, und der eine oder andere Stadtpräsident der letzten Jahre ein Engelberger Klosterschüler gewesen war.»
«Ich wusste gar nicht, dass unsere brave Stadt so eine spannende Geschichte hat», sagte Lili Weber beeindruckt. «Hätte man mir das im Konfirmationsunterricht erzählt, wäre ich nur schon der Tradition wegen der Kirche erhalten geblieben und nicht aus Steueroptimierungsgründen ausgetreten…»
«Welche anderen Kriege haben die Schweiz verschont?», erkundigte sich Inspektor Steger.
«Die beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert», antwortete Miraget.
«Und was hat die heutige Aussichtsplattform in Conn mit dem Dreissigjährigen Krieg zu tun?», wunderte sich Lili Weber.
«Gar nichts», antwortete Miraget. «Die heisst nur so, weil sich ihre Architektin, Corina Menn, vom Mauersegler inspirieren liess. Ob Frau Menn wusste, dass Conn aber tatsächlich untrennbar mit dem historischen il Spir verbunden ist, weiss ich nicht. Hier hat Benedetg Caflisch 1632 auf der Flucht vor den Behörden sein tragisches Ende gefunden, als er mitsamt seines Pferdes in die Rheinschlucht gestürzt war. Mit ihm soll auch eine Truhe mit einem Goldschatz und Dokumenten, die für den französischen König, beziehungsweise Kardinal Richelieu, bestimmt waren, abgestürzt sein. Die Leiche von il Spir und seinem Pferd hat man Fluss abwärts gefunden, die Truhe ist bis heute verschollen geblieben.»
«Bis heute…», sagte Raggenbass bedeutungsvoll.

Disentis, Anfang September 1632, später Abend
Eine sternenklare Nacht ohne Mond verschluckte die Klosteranlage. Nach der Vigil, an der il Spir mit den noch wachen Reisenden und den Benediktinermönchen des Klosters Disentis teilgenommen hatte, kehrte er in den Speisesaal im Gästehaus zurück und schlich sich, nachdem er sicher war, dass er der einzige war, der noch wach war, in die Zelle de Rohans. Als er den Raum betrat, fand er den Franzosen vor seinem Bett kniend im Gebet versunken.
«Qui êtes-vous?», fragte der französische Spion erschocken, als er den bewaffneten Eindringling vor sich stehen sah. Bevor er eine Antwort erhielt, hatte ihm il Spir mit einem gezielten Schwerthieb und dem Ausspruch «Viva la Grischa» den Schädel gespalten.

ruin aulta yves baer © vzfb
Die Ruin Aulta und darüber der Flimserstein von Valendas aus in Richtung Versam, gesehen im Oktober 2012.

Conn, 16. Juli 2013, 14.00 Uhr
Jon Fontana hatte zu der Medienkonfernz des Archäologischen Dienstes Graubündens ins Restaurant Conn geladen. Damit der hochsommerliche touristische Betrieb nicht gestört wurde, drängten sich die Handvoll Journalisten der Schweizerischen Depeschenagentur, den Bündner Tageszeitungen und von Radio und Fernsehen, sowie Jon Fontana, Peider Capaul, Miraget, Kommissar Raggenbass und der Rest seines Teams in den separaten kleinen Raum des Restaurants.
«Ich weiss, dass die Lokalität und die Anreise hierher alles andere mediengerecht ist», lächelte der Bündner Chefarchäologe zur Eröffnung der Medienkonferenz. «Ich bin mir aber sicher, dass Sie mir in ein paar Minuten zustimmen werden, dass wir unsere Funde an keinem anderen Ort als hier hätten präsentieren können, denn wir sind hier auf historischem Boden.» Danach stellte Jon Fontana den Ablauf der Medienkonferenz vor. «Wir befinden uns hier in Conn mit der berühmten Aussichtsplattform «il Spir», die Corina Menn 2006 erbaut hat. Bereits vor 370 Jahren fand hier auf Gebiet von Conn sura der berüchtigte Raubmörder Benedetg Caflisch, der in der Zeit der Bündner Wirren sein Unwesen im gesamten heutigen Kantonsgebiet getrieben hatte, seinen grausames, aber wohlverdientes Ende. Caflisch wurde von der Bevölkerung nach dem Mauersegler, wie die heutige Aussichtsplattform, oder aber nach dem Turmfalken, il Spir genannt. Nach bald vier Jahrhunderten wissen wir fast nichts Gesichertes über Caflisch, ausser dass sich sein Versteck hier irgendwo im Uaul Grond, dem Flimser Wald, befunden hat. Das Flimser Bergsturzgebiet war früher ein beliebter Rückzugsort für Räuberbanden. Die einen sagen, il Spirs Versteck wäre im Felsbachtobel beim Crestasee gewesen, wo heute noch der Weg von Flims nach Trin Mulin durchführt. Andere vermuten es in der Gegend zwischen dem Caumasee und Conn.»

Fontana zeichnete das Leben il Spirs nach und beleuchtete die Umstände seines Todes: «Gerüchten zufolge waren in der Truhe, die il Spir bei seiner tödlichen Flucht mit sich geführt haben soll, Dokumente für Kardinal Richelieu in Frankreich enthalten.» Nun war es soweit: Jon Fontana zeigte auf die geöffnete Schatztruhe, die auf dem Tisch neben seinem Laptop und dem Beamer stand. «Wir haben in dieser Truhe neben wenigen Dukaten aus der Zeit des Dreissigjährigen Krieges tatsächlich papierene Dokumente gefunden.»
Eine erwartungsvolle und ehrfürchtige Stille legte sich über den kleinen Raum. Von draussen drang der Lärm des touristischen Alltages herein.
«Obwohl die Papiere fast vier Jahrhunderte im Wasser gelegen haben, waren sie noch nicht ganz zerstört. Auf der nächsten Folie können Sie sehen, dass die Dokumente leider kaum mehr lesbar sind. Dank der freundeidgenössischen Unterstützung durch den wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich können wir nun belegen, dass dieses Schreiben tatsächlich an Kardinal Richelieu adressiert ist. Man wollte in Worms, wie man damals auf deutsch Bormio nannte, einen Überfall auf eine französische Festung durchführen. Heute würde man von einem Terrorakt sprechen. Aufgrund dieses geplanten Attentates, von dem diese Dokumente berichten, baten die Schreiber um ein erneutes Eingreifen Frankreichs in der Veltlinfrage. Der Angriff auf die französische Festung hat nicht stattgefunden, weil die Papiere gar nie nach Frankreich zu Kardinal Richelieu gelangt sind. Aufgrund dieser sensationellen Entdeckung erachten wir die Legenden um il Spirs Tod zu einem grossen Teil als den Tatsachen entsprechend. Diese Truhe hat dem französischen Spion Jean Dufy de Rohan gehört. Wo il Spir de Rohan überfallen hat und ob er ihn zufällig ausgeraubt hat, wissen wir nicht. Das letzte Mal lebendig war de Rohan in einer Herberge nach der Via Mala gesichtet worden. Leider können wir genausowenig mit dem heutigen Fund belegen, dass il Spirs Auftraggeber Jörg Jenatsch gewesen ist, wie seit Jahrhunderten kolportiert wird. Da die Truhe ausser den Dokumenten wenige Dukaten enthielt, können wir zum heutigen Zeitpunkt die Gerüchte über il Spirs Goldschatz, 3000 Dukaten sollte er der Legende nach für die Ermodrung de Rohans erhalten haben, nicht bestätigen. Alles was wir wissen, ist, dass die Caflischs aus Trin stammen und der Flimser Bergsturz wegen des unwegsamen Geländes in früheren Jahrhunderten das perfekte Rückzugsgebiet für Banditen wie il Spir gewesen war.»

Disentis, Anfang September 1632, später Nachmittag
Hastig nahm il Spir die Truhe an sich, vergewisserte sich, dass sich niemand mehr in den Gängen des Gästehauses aufhielt und eilte zu einer dunklen Ecke an der Aussenmauer des Stiftsbezirkes. Zweimal pfiff er einen Dreiklang. Nach wenigen Augenblicken wurde ein Seil über die Mauer geworfen. Als ob er als Mauersegler oder Turmfalke zur Welt gekommen wäre, überquerte il Spir flugs die Klostermauer und fand sich auf der anderen Seite im Kreise seiner Männer wieder. Er wies zwei seiner Gefolgseute an, in Richtung Oberalppass, zwei weitere Richtung Lukmanierpass zu reiten und ihm mit einem Abstand nachzufolgen. Mit dem Rest, einer Hand voll seiner tapfersten Männer, wollte er dem Vorderrhein entlang zu seinem Schlupfwinkel beim Crestasee zurückkehren.

Gegen Abend führte Abt Suger Hauptmann Catomas in die blutverschmierte Kammer de Rohans. Den Leichnahm haben die Mönche, nachdem sie ihn am Vormittag gefunden hat-ten, gewaschen und in einer Nebenkapelle in der Klosterkirche aufgebahrt.
«Wir haben Sie unmittelbar nach Entdecken der Leiche rufen lassen, Hauptmann.»
«Das haben Sie gut gemacht, Vater Abt.»
«Es gibt Brüder, die haben gestern il Spir in der Kirche beten gesehen. Aber solange man nicht genau weiss, wie Benedegt Caflisch aussieht, sind auch unsere frommen Mönche nichts anderes als schlechte Zeugen vor dem Herrn.»
«Vater Abt, ich glaube Ihnen und Ihren Brüdern, denn ich kenne nur eine einzige Person, die ohne eine Spur zu hinterlassen, Mauern überwindet. Dass er sich dabei aber zeigt, ist aussergewöhnlich.»
«Oder auch nicht, schliesslich lebt er von seinem furchterregenden Ruf als raubmordendes Phantom», gab Abt Suger zu bedenken.
«Wissen wir schon, wer der Getötete ist?»
«Nein. Ich weiss nur, dass er Spanisch gesprochen hat und eine Truhe bei sich hatte.»
«Eine Truhe?»
«Ja, eine Truhe, Hauptmann. Die ist aber nicht mehr auffindbar. Ich selber habe dem Fremden zugeschaut, wie er sie im Stall von seinem Sattel gelöst hatte.»
«Das ist in der Tat merkwürdig, Vater Abt, und spricht dafür, dass der Tote etwas mit sich geführt hat, was il Spirs Interesse geweckt hat. Sie haben diese Truhe seither nicht mehr gesehen?»
«Gott ist mein Zeuge, Hauptmann, nein. Ich habe überall nachgeschaut.»
«Und der Fremde hat Spanisch gesprochen?»
«Oh ja, Hauptmann. Allerdings mit einem französischen Akzent. Vielen fällt das nicht auf, aber meinen geübten Ohren schon. Bevor ich nach Disentis kam, tat ich in Spanien und Frankreich meinen Dienst für den Herrn. Ich habe mich kurz mit dem Edelmann im Kreuzgang unterhalten. Er war vom Veltlin gekommen und wollte nach Frankreich weiterfahren.»
«Ein Spanier, der nach Frankreich reist? Weshalb nimmt er den beschwerlichen Weg über all die Pässe auf sich? Niemand reist über die gefährlichen Alpenpässe gegen den Rhein, anstatt mit ihm und durchquert danach die Eidgenossenschaft?»
«Das ist wirklich sonderbar, Hauptmann. Denn Spanien befindet sich mittlerweile mit Frankreich im Krieg.»
Hauptmann Catomas kratze seinen Bart und dachte nach. Schlussendlich wandte er sich an den Abt: «Lassen Sie die Leiche verschwinden. Und schärfen Sie Ihren Brüdern ein, dass dieser Fremde, den sie gesehen haben, keinesfalls il Spir gewesen sein kann. Dieser Mord hat nie stattgefunden.»
«Warum dieser plötzliche Sinneswandel?», fragte Abt Suger verblüfft.
«Ihr habt es vorhin selbst gesagt, Vater Abt: Spanien ist mit Frankreich im Krieg. Der Getötete scheint ein Spion zu sein, der in dieser Truhe etwas transportierte, was nicht auf den üblichen Pfaden zum Empfänger gelangen sollte. Vieleicht Dokumente. Deswegen hat es diesen Mord nie gegeben. Nicht, dass die Franzosen einen Grund erhalten, um wieder bei uns einzumarschieren. Die Fahrt vom Veltlin nach Frankreich ist lange und gefährlich. Wenn da ein Reiter nicht ans Ziel kommt, so ist das so alltäglich als ob ein Huhn ein Ei legen würde.»
«Ich verstehe, Hauptmann. Sie können sich auf mich verlassen. Ich segne den Leichnahm ein und wir verscharren ihn ohne Kreuz und Grabstein hinter dem Kloster.»
«Wissen wir, was er in der Truhe mit sich geführt hat?»
«Ich weiss es nicht. Sie schien aber recht schwer zu sein. Möglicherweise Geld.»
«Womit sonst lockt man il Spir an, wenn nicht mit Geld?», fragte Hauptmann Catomas.
«Mir ist nicht bekannt, dass sich il Spir auch politisch betätigt», erwiderte Abt Suger.
«Mir auch nicht. Wenn dies nun sein erster politischer Mord gewesen sein soll, ist es nun aber höchste Zeit, dass wir seiner endlich habhaft werden.»
«Ganz gewiss, Hauptmann.»
«Sobald der Leichnahm begraben ist, werde ich Major Jenatsch über die heutigen Ereignisse in Kenntnis setzen, Vater Abt. Seid versichert, dass Ihr richtig gehandelt habt.»

Conn, 16. Juli 2013, 14.30 Uhr
«Wie ist es möglich, dass die Truhe nach 370 Jahren auftaucht, nachdem es verschiedene Suchexpeditionen danach gegeben hat?», erkundigte sich Gianluca Bieri, der für die Bündner Zeitung an der Pressekonferenz teilnahm.
«Als il Spir vor seinen Häschern fliehen musste, war es nach der Überlierferung ein nasskalter Tag. Der Rhein war damals ein ungezähmter Fluss», erläuterte Fontana. «Die Truhe muss sich beim Sturz vom Sattelgurt gelöst haben. Der Fundort bei der Krummen Waage lässt nur den Schluss zu, dass Ross und Reiter von den Fluten des Regenwasser führenden Flusses mitgerissen worden waren, während die Truhe auf dem Grund des Rheins gesunken war und mit der Zeit vom Geschiebe im Fluss zugedeckt wurde. Durch die Unwetter und Hochwasser in diesem Frühjahr wird sie wohl wieder freigespült worden sein.»

il spir conn flims yves baer © vzfb
Die Aussichtsplattform «il Spir» gesehen im Mai 2010.

Disentis, Anfang September 1632, früher Abend
Hauptmann Catomas kehrte zu seinen Soldaten zurück, die bereits vor der Pforte auf ihn warteten.
«Habt ihr Spuren gefunden?», fragte er.
«Keine eindeutigen. Einige führen über den Oberalppass, die meisten aber Tal abwärts», rapportierte Leutnant Ragettli.
«Das wäre auch zu schön gewesen», brummte Hauptmann Catomas und fragte: «Wohin würden Sie fliehen, Leutnant, wenn Sie il Spir wären?»
«Über den Oberalppass, sofern ich meinen Kopf auf dem Hals behalten möchte.»
«Danke Leutnant. Genau das sollten wir wohl auch denken. Wir kehren nach Ilanz zurück. Ab morgen durchkämmen wir den Uaul Grond bei Flims.» Die Truppe schwang sich in ihre Sättel und hatte schon bald Disentis hinter sich gelassen.
«Weshalb reiten wir zurück, Hauptmann?», erkundigte sich Leutnant Ragettli.
«Nach allem, was ich weiss, hält sich il Spir noch in den Drei Bünden auf. Und hier werden wir ihn fassen.»

Crestasee, 16. Juli 2013, 17.30 Uhr
«Hast du Ferien in Flims gebucht?», fragte Lili Weber Frank Zürcher, als Raggenbass und sein Team nach der Medienkonferenz zum Crestasee gefahren waren. Nun sassen sie auf der Terasse des gleichnamigen Hotels und schauten über die sonnenbadenden Leute und die Skulpturen zum See hinab, der still und smaragdgrün auf einer Lichtung lag. Der Uaul Grond und die Gipfel der Signinagruppe spiegelten sich im Wasser.
«Ja, Ende September, wenn in Flims die internationale Ballonwoche stattfindet. Mit etwas Glück kann ich mit einem Ballon mitfahren.»
«Ballonfahren? Hast du keine Angst? Alleine von der Vorstellung, in einem Korb zu sitzen und über die Landschaft zu fliegen, wird mir mulmig», lächelte Lili Weber verlegen und trank einen Schluck Apérol Spritz. Danach bemerkte sie: «Eigentlich bin ich enttäuscht, dass in der Truhe nur Dokumente gewesen sind und man heute, im Zeitalter in dem Hobbyarchäologen Satellitenbilder im Internet auswerten, noch immer keine Spur von il Spirs sagenumwobenen Goldschatz hat. Vielleicht müssten mal die Kollegen des wissenschaftlichen Dienstes ermitteln…»
«Die nützen uns auch erst etwas, wenn man den Schatz noch finden sollte, und daran Fingerabdrücke sein sollten. Vielleicht können sie dann beweisen, dass il Spir die Münzen in der Hand gehabt hat», entgegnete Miraget.
«Ihr seid nicht nett, Kinder», antwortete Raggenbass. Er fuhr sich mit der linken Hand über seine Glatze und trank danach einen Schluck Mineralwasser. Als er sich sicher war, dass er ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, sagte er: «Miraget und ich haben in den letzten Wochen eine kleine Privatrecherche betrieben.»
«Das hat gut getan, nach all dem Zürcher Mord und Totschlag ein paar Tage lang in Bündner Archiven zu recherchieren und über den ganzen Kanton verteilt mit Historikern zu sprechen. Das war fast schon Aktivurlaub», ergänzte Miraget.
«Und?», fragte Lili Weber gespannt. «Ich habe mich schon gewundert, weshalb wir nach der Medienkonferenz nicht direkt nach Zürich gefahren, sondern noch an den Crestasee gekommen sind. Auch wenn ich diesen Abstecher der schönen Landschaft wegen vollkommen begrüsse.»
«Hier haben meine Kinder schwimmen gelernt», antwortete Raggenbass und trank einen weiteren Schluck Mineralwasser. Miraget lachte laut hinaus.
«Dieser Tag kriegt drei Kreuze in meiner Agenda, Raggenbass verrät uns etwas persönliches», sagte Frank Zürcher ebenfalls lachend. Miraget hob die Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: «Nach Auswertung der vorhandenen Quellen im Rhätischen Museum und Gesprächen mit den spezialisierten Historikern, scheint der Kollege Kantonsarchäologe nicht ganz auf dem neusten Stand der Forschung zu sein. Oder dann hat er bewusst bei der Medienkonferenz nicht die ganze Wahrheit gesagt, um einen Goldrausch zu verhindern. Die heutige Geschichtsschreibung geht davon aus, dass il Spir sein Versteck irgendwo hier beim Crestasee gehabt hat.»

Crestasee, Anfang September 1632, nachmittags
Der Ritt von Disentis zurück zu seinem Versteck beim Cresatsee war ereignislos verlaufen. Sie hatten bloss wenige Leute gekreuzt. Die Nacht und den ganzen Morgen über haben sie um ihr Versteck herum niemanden gesehen, nicht einmal ein Reh oder einen Fuchs. Dennoch war il Spir auf der Hut. Und er hatte Recht, am späten Nachmittag vernahmen sie immer lauter werdendes Hundegebell.
«Soldaten! Sie nähern sich schnell», berichtete einer seiner Wächter aufgeregt. Il Spir nahm die Truhe mit den Dokumenten und befestigte sie am Sattelgurt seines Pferdes. Die darin enthaltenen Münzen hatte er im Versteck bei den drei grossen Tannen vergraben. Kaum sass er im Sattel, fielen die ersten Schüsse. Drei seiner Männer fielen verwundet von ihren Tieren oder sackten tödlich getroffen zusammen. Aus dem Wald sah er Soldaten der Drei Bünde auftauchen. Il Spir gab seinem Pferd die Sporen und jagte durch den Uaul Grond. Die Soldaten waren ihm dicht auf den Fersen. Ihm gefiel nicht, dass sie ihn in Richtung Conn sura trieben.

Crestasee, 16. Juli 2013, 17.35 Uhr
«Hast du herausgefunden, wo il Spirs Versteck ist?», fragte Frank Zürcher. Miraget zeigte auf Raggenbass, der in seine Hemdtasche griff und ihr einen Zettel entnahm. Nachdem er ihn entfaltet und die Brille zurecht gerückt hatte, las er:
«Vom See gehst du der Anzahl des Tieres Schritte bis zum Felsen mit den drei Tannen.»
«Der Anzahl des Tieres Schritte?», fragte Lili Weber verwundert.
«Six, six, six – the number of the beast», zitierte Miraget die englische Metalband Iron Maiden.
«666 Schritte bis zum Felsen mit den drei Tannen», überlegte Inspektor Steger.
«Felsen gibt es genug hier», überlegte sich Frank Zürcher.
«Und solche mit Bäumen obendrauf auch», sagte Lili Weber enttäuscht. «Das wird schwierig, selbst wenn man in einem Umkreis von 666 Schritten den See umgeht.»
«Rechnet man noch die Zeit seit il Spirs Tod mit und denkt an all die Schatzsucher seither, so ist es beinahe unmöglich, das Versteck seines Schatzes zu finden», überlegte sich Frank Zürcher.
«Wobei…», begann Lili Weber und schaute herausfordernd Miraget an, «könntest du nicht noch einmal austreten? Vielleicht findest du dabei auch noch den Rest des Schatzes?»

Conn sura, Anfang September 1632, später Nachmittag
So sehr sich il Spir dagegen wehrte, die Soldaten trieben ihn nach Conn sura. Auf der Lichtung oberhalb der Rheinschlucht wäre es ihnen ein Leichtes, ihn zu fassen. «Wenn ich die Lichtung im Galopp überquere und wieder im Wald verschwinde, kann ich meinen Häschern entkommen.»
Erneut gab er seinem Pferd die Sporen, als er den Waldrand erreichte. Er hatte die Lichtung schon fast überquert, als er eine zweite Reitergruppe, die vom Caumasee kam, entdeckte. Sein Fluchtweg war abgeschnitten.
«Wir haben ihn! Vorwärts Männer!», trieb Hauptmann Catomas seine Soldaten an, als il Spir vor ihnen sein Pferd herumriss und auf die Rheinschlucht zu galoppierte.
«Glücklicherweise kenne ich die Gegend besser als ihr. Mal schauen, ob ihr mir hier entlang noch folgen werdet.»

Crestasee, 16. Juli 2013, 17.40 Uhr
Zufrieden strich sich Raggenbass über seinen Bart und lauschte der Diskussion seines Teams.
«Ich finde es gut, dass man nicht alle Geheimnisse von il Spir hat lüften können. Schlussendlich sind es erst solche Legenden, die einer wunderschönen Landschaft ihren magischen Reiz geben», sagte Frank Zürcher und zündete sich eine Parisienne an.
«Nein, das finde ich nicht», wehrte Lili Weber ab. «Zumindest der Goldschatz hätte noch gefunden werden müssen. So aber löst das bei mir dasselbe Gefühl aus, wie wenn ein von uns überführter Täter vor Gericht nur einen halben Schuldspruch erhält.»
«Ich schliesse mich Frank an», entgegnete Raggenbass. «Dank unserem Fund weiss man nun, dass il Spir ein Held war und eine französische Invasion verhindert hat. Für die anderen, noch offenen Fragen, beispielsweise ob der Auftraggeber von il Spir tatsächlich Jörg Jenatsch gewesen ist, sind die Historiker zuständig. Und das ist gut so, denn unser Auftrag ist in der Gegenwart. Zumindest von morgen Vormittag an wieder.»

Conn sura, Anfang September 1632, später Nachmittag
Il Spir ritt hart an der Kante, zu seiner Rechten fiel es steil zum Vorderrhein hinab, zu seiner Linken war die Lichtung von Conn sura, über der sich ihm zwei Reitergruppen näherten. Bis zum rettenden Wald war es nicht mehr weit. Wenn er ihn erreichte, konnte er womöglich seinen Jägern entkommen. Doch il Spir konnte schon fast den Atem der Pferde seiner Häscher im Nacken spüren. Ein Fehltritt seines Rosses und er würde in die Ruinaulta hinab in den sicheren Tod stürzen, dachte er.

Dann brach ein Stück Boden unter den Hufen seines Pferdes ab und es trat ins Leere…



*)
siehe Miraget ermittelt… Razzia

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Die Krumme Waage, Conn und der Flimserstein, gesehen von Patrick Loertscher für eine Postkarte und den Fotoband Swissview.


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il Spir – 2013  


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