Seilbahn zum Himmel
14. August 2008


Die Wolken haben gemäss Tagesbefehl aus der Meteorologischen Anstalt tief über der Schweiz zu hängen und die Schneefallgrenze auf 1’800 Meter zu senken. Es ist Mitte August, Mittag und scheint aufzuklaren. Zur selben Zeit, als gestern die Wolken der Sonne vorübergehend den Garaus machen wollten, scheint sie sich zurückzukämpfen. Über Davos ist der Himmel hochnebelgrau, aber von Wolken ist nicht viel zu sehen. Eher ist es Nebel, der aus den Wäldern empor steigt und die Gipfel verschwinden lässt. Werner, darauf bedacht, möglichst viele seiner gratis Bergbahnfahrten auch zu nutzen und mit mir so einen neuen Rekord an gemeinsam erklommenen Gipfeln aufzustellen, will trotz des schlechten Wetters aufs Jakobshorn. Und so fahren wir nach dem Mittagessen mit der Seilbahn hoch. Von der Mittelstation Jschalp sieht man über die ganze Davoser Landschaft. Doch nun beginnt sich das Wetter wieder zu verschlechtern. Vor einer Stunde noch war es bloss hochneblig grau und winterlich kalt, mittlerweile regnet es. Ich teile Werners Optimismus nicht, dass die Wolken nur im Wald hängen und es auf dem Jakobshorn wieder besser wäre. Gönnen möchte ich es uns. Wir wechseln in die Seilbahn zum Gipfel und ergattern uns die vordersten Plätze in der Gondel.

Es geht aufwärts, auch wenn nicht ersichtlich ist, wie weit, denn nach dem dritten Mast folgen die Wolken. Wie eine Wand stellt sich uns der Nebel in den Weg. Das Seil scheint in ihm zu verschwinden. Gewiss sieht es schlimmer aus als es ist. So dichter Nebel, dass man kaum seine Hand vor den Augen sieht, mag es an der englischen Kanalküste geben, aber in der Schweiz hat ihn Meister Baer noch nie erlebt. Wäre er ehrlich, müsste er sich bloss an den letzten Herbst erinnern, als er von Davos nach Hause gefahren war. Damals hatte der Nebel ebenso auf dem Wolfgangpass gewartet, wie er es heuer am Jakobshorn tut. Wäre die Rhätische Bahn damals nicht auf Schienen gefahren, sie hätte sich wohl in der weissen Suppe verirrt, denn man hatte bloss noch ein Dutzend Meter weit gesehen. Der heutige Nebel scheint nicht von schlechten Eltern zu sein: Die Seilbahn fährt unerbittlich auf die weissgraue Wand zu und befindet sich von einem Moment auf den anderen im Nichts. Soweit das Auge reicht, ist da bloss eine hellgraue Wand, in der das weissliche dominiert. Vor und hinter der Kabine sieht man mit Glück noch einen halben Meter von dem Seil, an dem die Gondel hängt. Surrealer könnte die Szenerie kaum sein: Umgeben von einem gleichmässig weissgrauem Etwas hat man nur noch zwei kurze, schwarze Striche vor Augen, die im undurchdringlichen Grauweiss verschwinden. Weder Himmel noch Erde sind zu sehen. Eigentlich sollte man steigen. Doch unweigerlich fragt man sich, ob oben wirklich noch oben ist oder ob wir bereits Kopf stehen. Ohne einen visuellen Anhaltspunkt lässt sich das Gefühl, der Schwerkraft gehorchend unterwegs zu sein, nicht verifizieren. Wie viele Piloten haben so schon die Orientierung verloren? Weil es logisch ist, glaube ich, dass wir aufwärts fahren. Aus dem Hintergrund höre ich die Stimmen der Mitfahrenden, doch der Blick ist nach vorne und vor allem nach unten geheftet. Ist es möglich, etwas festen Grund zu sehen? Doch so angestrengt ich auch nach unten schaue, ich kann nichts mehr erkennen. Ich werfe einen beruhigenden Blick auf die immer kürzer werdenden schwarzen Stummellinien des Seils, die als treue Begleiter noch da sind, danach blicke ich wieder erfolglos nach unten. Wir sind gefangen im weissgrauen Nichts.

Es ist bloss noch eine philosophische Frage, wie das Nichts aussieht. Schwarz wie das Weltall werden wohl die meisten sagen. Schwarz wie die Nacht. Schwarz wie der Tod. Weiss, würde ich entgegnen. Das Nichts ist weiss. Berichten nicht alle Menschen mit Nahtod Erfahrungen, dass am Ende des Lebens ein Licht ist? Wenn man also im Zeitpunkt des Todes ins Licht geht, weshalb sollte dann das Nichts nicht auch weiss sein? So weiss wie dieser Nebel? Natürlich habe ich schon einen neurologischen Bericht über das Sterben gelesen, bzw. weshalb man ins Licht geht, wenn man stirbt und es eigentlich dunkel werden sollte. Dennoch glaube ich, dass man am Ende ins Licht geht und nicht ins ewige Dunkel. Hätte ich die Wahl, ich würde das Licht wählen. Die Ewigkeit ist eine lange Zeit und der Winterblues besucht mich so regelmässig wie mein alter Freund Werner. Und die Ewigkeit in steter Winterdepression zu verbingen, reizt mich nicht sonderlich.

Ich blicke aus dem Fenster ins unverändert weissgraue Nichts. Das Summen des Motores wirkt beruhigend. Immerhin ist man noch in Bewegung. Der Körper nimmt diese sanfte und gleichmässige Bewegung wahr, obwohl um einem bloss Nebel und ein halber Meter sichtbares Seil ist. Dieser Nebel würde ihn an Dürrenmatts «Tunnel» erinnern, raunt mir Werner zu. Dort fährt ein Zug in einen endlos langen Tunnel und wird immer schneller. Nur gut, sind wir am und nicht im Berg, auch wenn man momentan gleichviel sieht. War da nicht eben etwas gewesen? Irre ich mich oder verändert sich tatsächlich die Spannung des Seiles? Gespannt schaue ich auf die beiden Stummel. Plötzlich taucht ein vertikaler Schatten aus dem endlosen Grauweiss auf und dann steht ein Mast respektive der obere Teil davon vor uns. Boden sieht man noch immer keinen. Wir schaukeln über den im Nichts hängenden Arm, erhahnen aufgrund der Schattierung den zweiten auf der anderen Seite und fahren erneut in die endlos scheinende weisse Suppe hinein.

Alles ist wie zuvor: Das uns führende Seil bildet zwei fast parallel laufende Geraden, die nach kurzer Distanz im Nichts verschwinden. Die Aussicht verändert sich nicht. Das Schweigen der Mitpassagiere beginnt sich beredt über die Szenerie zu legen. Alle starren angestrengt ins Grauweiss hinaus. Bloss eine Jüdin am Handy, die leise in einem Gemisch aus Französisch und Jiddisch erzählt, wie schlecht das Wetter gerade ist und wie schön es vor zwei Tagen in Genf gewesen wäre sowie das Summen des Motors erinnern daran, dass die Zeit doch noch nicht still steht. Es ist wie in einer TV-Übertragung einer Schlechtwetteretappe der Tour de France. Besonders spassig sind diese Übertragungen jeweils, wenn gerade um Bergpreispunkte gespurtet wird und das Bild in der Spurtvorbereitung stehen bleibt und man bloss noch verzerrte Radfahrer sieht, während die Kommentatoren einen spannenden Sprint zu beschreiben versuchen. Doch nichts dergleichen geschieht hier in der Seilbahn zum Himmel: Der Nebel ist gleichmässig dicht und die Bewegung der Gondel scheint stet zu sein. Wie beim Radrennen ist das Bild gerissen, vor und hinter uns sind zwei Striche des Seils zu sehen, die in der grauweissen Suppe verschwinden. Nur der Kommentar in Form einer diskret am Telefon plappernden Jüdin ist geblieben. Zur Abwechslung taucht ein Mast auf und lässt die Kabine kurz ruckeln.

War es nun der zweite oder dritte Mast in dieser Bündner Nebelsuppe? Keine Ahnung. Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Mein Hirn leidet seit Monaten am Burnout und ist zurzeit alles andere als multitasking. Entweder höre ich der Jüdin zu, schaue aus dem Fenster oder zähle die Masten. Alles miteinander geht leider nicht. Und so schaue ich wieder bewusst aus dem Fenster. Noch immer lässt sich weder der Gipfel noch der Boden unter uns ausmachen. Bloss der alte grauweisse Freund hält uns fest umschlungen und gibt den Blick auf die beiden schwarzen Linien des Seils frei.
Die beiden schwarzen Linien des Seils...
«Wir sind verloren!», schiesst es mir durch den Kopf. Das talwärts führende Seil ist weder sicht- noch wie bis vor kurzem erahnbar. Ob wir die talwärts fahrende Kabine schon gekreuzt haben? Ich glaube nicht, sicher bin ich mir nicht. Schemenhaft taucht aus dem Nebel ein nächster Mast auf. Irgendwo in seinem Gestänge sehe ich eine Nummer. Keine Ahnung, wieviele Masten es bis ins Jakobshorn hoch hat. Und noch weniger weiss ich, ob sie von Davos oder vom Gipfel her nummeriert sind. Logisch wäre von Davos her. Aber internationale Kinoerfahrung lehrt einem, dass man sowohl von der Leinwand wie vom Ausgang her nummerieren kann. Sinn macht irgendwie beides. Auch hier am Jakobshorn. Wie lange wir schon unterwegs sind? Durch die Fahrt im Nebel habe ich das Zeitgefühl verloren. Stören tut mich das nicht. Schliesslich bin ich in den Ferien. Wozu braucht es im Urlaub Uhren? Irgendwann taucht aus dem Nebel ein dunkler Schatten, der immer grösser wird auf. Dann beginnen sich Umrisse abzuzeichnen. Und schon ist die talwärts fahrende Kabine gleichauf. Soweit ich erkennen kann, ist sie leer. Vielleicht ist ihr auch gleich noch ein Mast gefolgt, denn unsere Gondel hat zur Abwechslung wieder mal geschaukelt. Diese grauweisse, schwadenlos dichte Nebelsuppe fasziniert mich. Was erwartet uns danach? Dort wo die beiden Stummellinien wieder im Irgendwo enden werden.

Ich lasse meine Gedanken schweifen. Eine Seilbahn ins Nichts ist es nicht. Da kann weder die Erinnerung an Dürrenmatts «Tunnel» noch der eternell trostlose Ausblick darüber hinweg täuschen. Wir sind in einer Seilbahnkabine. Zwar sieht man nur wenige Dezimeter Seil, bevor dieses abrupt aufhört. Doch wir sind in der Kabine, die steigt. Es geht also aufwärts. Vielleicht bis aufs Jakobshorn – ob das etwas mit dem Apostel Jakobus zu tun hat, der in Compostela in Spanien begraben liegen? Und auf den Weg dorthin im Aigues Mortes mit Maria Magdalena gelandet sein soll? Weshalb soll er dann nicht auch auf dem Vorbeiweg in Davos Taufpate für einen Berg gespielt haben? Noch immer fährt die Seilbahn im Nichts nach oben. Wie tröstlich, dass sie nach oben fährt. Über uns befindet sich bekanntlicherweise der Himmel. Auch wenn der in der Regel blau und nicht weiss ist. Ob wir alle gestorben sind und nun ins Licht auffahren? Nimmt uns am anderen Ende des Seils Gott persönlich, und wenn nicht er, dann wenigstens Petrus in Empfang? Es wäre nun spannend zu erörtern, wie viele der rund fünfzehn Passagiere auch wirklich von Petrus eingelassen würden? Und wie verhält es sich mit der telefonierenden Jüdin mit ihrer halbwüchsigen Tochter?

Ich schaue nochmals in die Suppe und lasse meinem Blick dem scheinbar gekappten Seil entlang folgen. So als ob ich erwarten würde, etwas daran erkennen zu können, was unsere Situation verändern würde. Noch immer verschwinden die beiden Linien des Seils im Nebel. Doch bevor mein zentrales Denkorgan dies auch richtig registrieren und speichern kann, entdecken meine Augen einen Schatten im unteren Fensterbereich. Sofort fokussiert sich mein Blick in der Richtung des Schattens. Tatsächlich hat sich der Nebel unterhalb der Seilbahnkabine aufgelöst. Unter uns befindet sich eine Geröllhalde und dunkler nasser Fels. Interessanterweise befindet sich der steil abfallende Grund weit unter uns, nicht so wie nach Ischalp, als es zwischen den Tannen hochging. Hier vermag der Wind zwischen Boden und Seilbahn zu blasen und treibt die trägen Nebelschwaden vor sich her.

Doch die Aufklarung währt nur kurze Zeit, dann hat uns die Suppe wieder fest im Griff. Gespannt schaute ich hinaus, ob ich noch etwas erkennen könnte. Schien die Fahrt von Jschalp bis zu diesem kurzen Moment, als es unter den Füssen aufzuklaren begann, eine Ewigkeit zu dauern, so kommt mir die Fahrt nun rasant vor. Das Gefühl der Verlorenheit, das ich weiter unten verspürt habe, ist ebenso weg wie die frisch gewonnene Orientierung. Zur Abwechslung sieht man wieder einmal nur die beiden Striche des Seils. Ich beobachtete dieselbe Szenerie wie vor einer halben Minute. Doch es ist nicht mehr wie zuvor. Auch wenn ich mich noch so anstrenge, die Intensität des Nebelkerkers ist nicht mer dieselbe. Das kurze Aufklaren hat alles verändert. Doch ehe ich mir weiter Gedanken darüber machen kann, verschwindet der Nebel und im plötzlichen Scheegestöber taucht nun schemenhaft und in Wolken gehüllt die Station Jakobshorn auf.



 

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