Sprachbetrachtung: morbid
2. Mai 2009


Zur Abwechslung folgt nun eine Sprachbetrachtung aus dem Reich des Entgiftens und Recylcings. Ich kaufte ein Paket Klopapier, jenes, worauf ein Labradorwelpe mit einer Blume spielt. Als ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche krame, fällt mein Blick zufällig auf das Pack, worauf in blauen Lettern morbida e sicura gedruckt steht. Also übersetzt: morbid und sicher. Ich glaube, ich bringe das Klopapier in den Laden zurück! Spass beiseite: es lebe unser mehrsprachiges Land, denn ein neues sprachliches Abenteuer wartet. Bisher war ich der Ansicht, dass morbid etwas mit dem Tod zu tun hat. Aber was hat der Tod mit dem emsigen Geschäften auf dem Klo zu tun?

Wir befragen nun mal das Fremdwörterbuch um unser Sprachgefühl zu überprüfen. Und wie so oft, hat es uns auch dieses Mal nicht getäuscht: denn gemäss Duden gibt hat morbid zwei Bedeutungen: erstens medizinisch für kränklich oder krankhaft (in Bezug auf den Körper) und zweitens, im Zerfall begriffen, brüchig (in Bezug auf den inneren, moralischen Zustand). Nun beginnt die Sprachbetrachtung ganz nach unserem Geschmack der Alltagsabsurditäten abzudriften: morbida e sicura, morbid und sicher, ein Paar, zusammenpassend wie ein Fenster und ein Stein. Und sind wir ehrlich, keine der beiden Worterklärungen sind besonders vertrauenserweckend. Oder möchten Sie Ihren Allerwertesten mit etwas kränklichem reinigen? Ich glaube, da spielt der Umstand der Sicherheit eine geringere Rolle. Und Sie werden mir zustimmen, dass Sie ob des Faktes, dass ihr Blatt Klopapier seinen inneren Zustand brüchig ist, kaum erfreut sein werden. Herrlich wischen und dann reisst das Papier...

Auch die Rückfrage im Herkunftswörterbuch lässt mich nicht zum Fan meines neu erworbenen Klopapiers werden. Denn das Adjektiv morbid, das für kranklich, brüchig, morsch steht, wurde im 19. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt, das auf das lateinische morbidus, krank bzw. siech, zurückgeht. Der Wortstamm ist morbus und bedeutet krank, und geht auf die indogermanische Wortgruppe mürbe zurück.

Und nun beginnen wir uns der Wortbedeutung zu nähern. Denn wie mein Italienischlehrer Giancarlo Sala immer sagte, sollten wir uns beim Erlernen von Fremdsprachen vor falschen Freunden zu hüten. Bestes Beispiel hierfür: das franzöisch/italienische Verb salir/salire. Salir le taxi ist das Taxi verschmutzen, auf italienisch ist es aber unabdingbar, sonst muss man weiterhin zu Fuss gehen. Salire in tassì bedeutet in das Taxi einzusteigen. Womit wir nun schon beim Kern unserer morbiden Sprachbetrachtung sind. Denn die indogermanische Wortgruppe mürbe bedeutet in erster Linie einmal zermalmt, zerrieben, morsch, murksen. Abwandlungen sind murksen und morden, das auf einen Bedeutungswandel von aufgerieben werden zu sterben hinter sich hat. Das griechische mármaros (Marmor) und das lateinische mortarius (Mörser, Mörtel) sind mit demselben Ausdruck verwandt.

Doch ein Weltkonzern wie Kimberly-Clark wird kaum ein dermassen falsches Wort auf seine Verpackung drucken, deshalb schauen wir nochmals genauer in die Worterklärung: das deutsche und holländische Adjektiv morbid (mhd. müre und ahd murwi) gehört im Sinne vom zermalmt, zerrieben, weich zu der indogermanischen Wurzel (s)mer(∂). Das macht sprachbildlich Sinn, zerriebener Marmor ist nur noch ein Pulver und diese ist weich. Der Italienisch-Dictionnaire bezeugt, dass morbid ein weiterer falscher italienischer Freund in der Art von salire ist. Denn auf Italienisch hat morbido einzig die Bedeutung von weich und sanft. Und dies steht klar und deutlich auf Deutsch und Französisch auf der Klopapierpackung: doux et fiable bzw. sanft und sicher. Wie gut, dass dies so klar und deutlich hier steht, so müssen mich meine Zweifel in Bezug auf dieses Klopapier erst südlich des Gotthards wieder beschleichen.


hakle
Trotz des netten Labradorwelpen, Hakle-Klopapier ist eine durch und durch morbide Angelegenheit.


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