die wundersame Rückkehr der Kapitalismusüberwindung
30. Oktober 2010


Im aktuell noch gültigen SP-Parteiprogramm aus dem Jahre 1982 steht der Begriff der Überwindung des Kapitalismus. Noch vor 25 Monaten galt auch in der SP diese Formulierung als überholt, obwohl damals auf dem dritten Weg von Tony Blair, Bill Clinton und Gerd Schröder ein Marschhalt eingelegt worden war, auch wenn die grundsätzliche Idee des Mittelwegs zwischen Sozialismus und Kapitalismus noch immer die richtige Vision für eine lebenswerte Zukunft ist. Vor 25 Monaten schrieb man September 2008, es war meteorologisch ein November ähnlicher Monat, einige Amerikaner verloren ihre Häuser, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr zurückzahlen konnten. Barack Obama lag in den Umfragen vor John McCain, den Wahlsieg hatte er aber noch nicht auf sicher.

Dann kam der Oktober 2008.

Der amerikanische Staat unter George W. Bush liess die Investment Bank Lehman Bros. entgegen der Warnungen der zehn grössten Banken weltweit, darunter die Bank of England, Deutsche Bank, Credit Suisse und UBS, die gemeinsam einen Rettungsplan für Lehman erarbeitet hatten, Konkurs gehen, weil der amerikanische Finanzminister Paulson mit Lehman CEO Fuld spinnefeind gewesen war. Der Rest ist Geschichte, nach dem Kollaps von Lehman konnte das kapitalistische Finanzsystem nur noch durch Staatsinvestitionen in mehrstelliger Milliardenhöhe gerettet werden. Analog des Schweizer Finanzministers, Bundesrat Hans Rudolf Merz, der während dieser Zeit einen Herzstillstand erlitt, war der Kapitalismus für einige Momente klinisch tot. Hierzulande verkaufte sich die Credit Suisse zu grossen Teilen an die Scheichs der Vereinigten Arabischen Emirate, die UBS liess sich vom helvetischen Staat retten.

Zwei Jahre nach dem Knock Out erwirtschaften die Investment Banker schon wieder exorbitant hohe Bonifikationen, zum Teil auf Kosten der Steuerzahler. Spekulanten wetteten gegen den Euro und auf den Bankrott von Griechenland, Spanien, Islands, Italiens und Irlands. 2009 litt erstmals mehr als eine Milliarde Menschen Hunger. Prozentual war die Lage letzmals 1970 so desperat. Vier Jahrzehnte Entwicklungshilfe waren über Nacht durch blosse Dummheit zunichte gemacht worden. Auf die Schweiz umgelegt bedeuten diese Zahlen, dass bei einer Million Zürcher bzw. einer Million Ausländer entweder jeder Zürcher oder jeder Ausländer ein Hungerleider wäre. Man lasse dieses Bild auf sich wirken...

Der Entwurf des neuen Parteiprogramms der SP Schweiz, seit 2004 in Arbeit, enthielt – dem Geist von 2007 folgend, weder den Begriff des demokratischen Sozialismus noch die Überwindung des Kapitalismus. Weshalb am Parteitag in Lausanne zuerst über einen Rückweisungsantrag befunden werden musste. Der Antrag unterlag im Verhältnis von einem Drittel zu zwei Dritteln. Doch die Wegmarken waren eingeschlagen: Der Antrag auf Ergänzung des Kapitels der Wirtschaftsdemokratie mit dem Demokratischen Sozialismus wurde mit überzeugender Mehrheit angenommen. Die Gretchenfrage nach der Wiederaufnahme der Formulierung der Überwindung des Sozialismus wurde diskussionslos und beinahe einstimmig wieder ins neue Programm aufgenommen.

Der Kapitalismus in seiner aktuellen Form ist das falsche System. Dass sein historisches Gegenteil ebenso falsch ist, erlebten die Juso mit ihrem Antrag, den Begriff der sozialen Marktwirtschaft aus dem Parteiprogramm zu streichen, weil Marktwirtschaft per se ein kapitalistischer Begriff wäre. Mit dem Verhältnis von vierzig Jungspunden gegen den Rest bekannte sich die Sozialdemokratie zur gerechten Marktwirtschaft. Die Jusos obsiegten dan in der Kapiteltitelfrage, weshalb es nun heisst: «Unsere Vision: der demokratische Sozialismus».

Nachtrag vom 1. November
Mit grosser Schadenfreude stürzten sich die Medien auf die alten Parolen der SP. Auch einige Freunde zündeten mich ob der ewiggestrigen Position der SP an. Auf die geneigte Rückfrage, ob denn der Kapitalismus à la Oktober 2008 besser wäre, kam jedesmal die Antwort, dass die SP als einzige Partei die Zeichen der Zeit verstanden hätte. –



parteitag_sps

Vater Baer fotografiert von Sabine Ziegler.


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