Prau Pulté
21. Mai 2010


Der Wanderweg führt vom Murmeltierkäfig im Hotel Waldhaus durch den Flimser Wald aufwärts zur Runca Höhe. Blauer Himmel mit weissen Schönwetterwolken, Tannennadeln bedecken den Boden, die Sonne scheint, ihr Licht wird durch die Bäume gebrochen und beleuchtet wie Scheinwerferstrahlen Details im Wald. Die Luft riecht nach Holz, Harz, Tannennadeln und Farn. Manchmal führt der Weg über die hölzernen Wurzeln und Steine, die wie Treppenstufen sind. Waldameisen haben aus den gefallenen Nadeln der Vorjahre einen beachtlichen Haufen gebaut. Das vibrierende Leben und die Abwärme der Insektenzivilisation ist spür- und riechbar. In der Nähe eines Ameisenhaufens riecht die Waldluft anders, wohl analog der humanen Duftmarke von Stadt und Land. Nach ein paar Minuten Fussmarsch ist er erreicht, der Lag Prau Pulté, der oberste der Flimser Bergseen. Sein Wasser ist milchig.

Auf dem Wegweiser steht «Lag Prau Pulté, 5 Minuten», ich bin auf dem Abstieg von der Ault la Runca, der Runca Höhe.
«Warum nicht?», denke ich. Es ist ein Tag, wie man ihn alle Jahrzehnte einmal bewusst erlebt. Der Morgen entgegen dem Wetterbericht nass und kalt. Mehr noch, die Wolken hingen richtig tief bis fast nach Fidaz. Am Mittag brach sich die Sonne ihren Weg frei, danach blauer Himmel, Schönwetterwolken und eine nach drei Wochen Dauerregen explodierende Natur, die den Bergfrühling in orgiastischer Ektase nachzuholen scheint: Grillen beginnen zu zirpen, Insekten zu summen und brummen, Blumen strahlen, wo zuvor der Blick noch über grünes Gras geschweift ist, zudem erinnert einem die Temperatur daran, dass es auf den Tag noch einen Monat bis zur Sommersonnenwende dauert.

Der Flimser Wald hat mich, etwas lichter als in der eingangs beschriebenen Kindheitserinnerung. Der Blick zwischen die Bäume zeigt eine Kies- bzw. Sandgrube. Wonach hier wohl gegraben wurde? Die fünf Minuten sind mittlerweile um. Wo ist bloss der See? Der Weg zweigt ab, an die Sandgrube. Ein graues Loch mit einem unebenen Boden, worauf einzelne morsche Äste liegen, ist alles, was das Auge erblickt. Ein Krater auf dem Mond. Eine tote Landschaft. Sahara? Atacamawüste? Klimawandel?

Flims! Lag Prau Pulté.

Sprachlos und schockiert. So geht man nicht mit Kindheitserinnerungen um! Ungläubig auf dem sandig grauen Grund umherirrend, befinde mich fünf Meter unter dem ehemaligen Wasserspiegel. Als der iPod aus der Brusttasche fällt, landet er trocken und weich. So hat auch das Negative etwas Positives, der MP3-Player ertrinkt wenigstens nicht. Fein ziselierte Linien wie Jahrringe, Spuren der verschiedenen Pegelstände. Weitere Löcher im Grund, wo das Wasser wohl versickert ist. Der Sand klebt an der Haut, etwas Restfeuchtigkeit muss noch vorhanden sein, wohl eher vom herbstlichen Vormittag denn vom Restwasser. Dennoch ein wunderschönes Bild, diese Poesie des Grauens. Obwohl eigentlich deplatziert, drängt sich das Bild der Stockwerk um Stockwerk kollabierenden Twin Towers des World Trade Centers vor das geistige Auge. Die durch die Strassen Manhattans jagende Staubwolke und der Sand des vertrockneten Flimser Sees haben dieselbe Farbe. Vor kurzem berichtete die «NZZ» darüber, dass die Flimser mit einer baulichen Massnahme das Wasser vom Lag Prau Tuleritg und Prau Pulté in den Lag da Cauma leiten wollen, damit dieser wieder den Pegel von vor dem Bau des Umfahrungstunnels erhalte. Gute Idee! Doch womit wollen sie den Caumasee aus dem Prau Pulté füllen? Mit Luft und Sand?

Im Hotel erfahre ich, dass der See im Herbst regelmässig austrocknet und es aufgrund des kalten März und des Dauerregens im Mai noch kein Schmelzwasser geben konnte.


Nachtrag vom 23. Oktober 2022
Auf Wikipedia hat es Fotos, die zeigen, dass drei Tage nach meinem Besuch, am 24. Mai 2010, sich der See wieder mit Wasser zu füllen begann.


prau pulte
Die Mondlandschaft des Lag Prau Pulté in Flims.



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