Kapitänsschiff
9. Januar 2013


In dieser Wohnung; in seinem Penthouse im roten Backsteinhaus, zehn Gehminuten von seinem Geburtshaus entfernt am Bahngeleise zu seinen Lebensorten erbaut, gelegen beim fünftgrössten Bahnhof der Stadt, diesem heutigen Nadelöhr im Berufsverkehr, eventuell gewählt als ein unbewusst steinernes Sinnbild der erbitterten Kämpfe um das Bild der Schweiz; in diese Wohnung, so erinnert sich der Solothurner Freund in einer Biografie, kam man unten rein und ging die Treppe hoch. Er wirkte jeweils wie ein Kapitän, wenn er auf dem Geländer aufgestützt lachte, die Hand an die unsichtbare Mütze hob und sein typisches Salü sprach. Ein rabiater Mieter soll der Kapitän gewesen sein, erinnert sich der Vermieter zum hundertsten Geburtstag, der jeweils mit der Bemerkung, er müsse arbeiten, einen Eimer Wasser auf die Pendler hinab geschüttet hatte, wenn sie ihm zu laut gewesen waren. Diese Wohnung war der letzte Hafen für den Kapitän, die Welt hat er bereist, viel gesehen, beobachtet, analysiert, gestritten und gelobt, hier besuchte sie ihn auf Knopfdruck. Die Auseinandersetzung mit den Forderungen des Tages noch immer kritisch, scharfsinnig hinterfragte er noch immer sich und das alternde Menschsein. Vor angehenden Ärtzen hielt er eine Rede über die letzte Reise: Das Todesbewusstsein, so der Kapitän, wäre aus der Gesellschaft weitgehend verdrängt, auch die Schreckensbilder, die jeden Tag das Fernsehen zeige, trügen zu dieser Verdrängung bei. Der Tod wäre ein inszenierter Sonderfall, befand der Kapitän weise.

Wenige Jahre später, das legendäre Klack, Klack, Klack der Schreibmaschine war unterdessen verstummt, vermachte der Kapitän dem Regisseur der Verfilmung des Erfolgsromanes bei der Visionierung des Rohschnittes seinen silbernen Jaguar. Fotos aus diesen Tagen zeigen einen kleinen Mann im hellblauen Seidenpijama, der in viel zu grossen Kissen gebettet ist. Fröhlich wäre er bis zu letzt gewesen, erinnert sich der gute Freund, gefasst erwartete der Kapitän den Lotsen. Als dieser an einem frühen Apriltag die Brücke betrat, schmiedete der Kapitän einen neuen Plan: Er plane ein Schiff, ein Kapitänsschiff, sagte er zu seinem guten Freund, der bei ihm weilte. Ob er dessen Kapitän sein würde, fragte der gute Freund. Nein, antwortete der Kapitän, die Leute müssten nun für sich selbst sorgen. Stunden später verliess er mit dem Lotsen die Brücke über die Rutschbahn ins Nichts. Danach verliess der gute Freund diese Wohnung im roten Backsteinhaus direkt an den Bahngeleisen, um die vom Kapitän bis ins Detail inszenierte Gedenkfeier zu organisieren.

casssandre






frühere Einträge
:
in der Agentur – 28. November 2012
Ich bin auch ein Nobelpreisträger – 21. Oktober 2012
Zürich, Europabrücke – 15. Oktober 2012


folgende Einträge:
Sprachbetrachtung: Puff – 12. Januar
beim Schreiben – 23. Januar
Zürich Höngg, Perser – 25. Januar



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