unterwegs
26. September 2017


Ein erstes Mal bewusst die Zersiedelung während der morgendlichen Fahrt zwischen Rapperswil und Sargans wahrgenommen. In vielen Dörfern wird massiv gebaut. Im bunten Lichtermeer des Morgenrotes mit von der aufgehenden Sonne beleuchteten weissen Nebelschwaden in den Ebenen sind die Siedlungen weisse Vierecke, die sich schlangenförmig durch die Landschaft ziehen und in die Farben hineinfressen. Die Grenze ist überquert, jene von Österreich nach Deutschland; Fahrt durchs Allgäu. Die Landschaft hat sich geöffnet. An den Weiteneffekt, kaum hat man die Schweiz verlassen, hat man sich gewöhnt: die Kleinräumigkeit der Landschaft verschwindet, der Horizont weitet sich. Grosse Wälder, weite Felder rauschen vor dem Fenster vorbei. Kaum ein Haus ist zu sehen – die Schweiz jedoch ist ein kaputtes Land, zerstört durch die krebsartig wuchernde Zersiedelung.

«Resignation gilt als demokratische Weisheit. Und also wuchern unsere Städte, wie’s halt kommt, geschwürartig, dabei sehr hygienisch; man fährt eine halbe Stunde mit dem blanken Trolleybus und sieht das Erstaunliche, dass die Vergrösserung unserer Städte zwar unaufhaltsam stattfindet, aber keineswegs zum Ausdruck kommt. Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrösserung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein; es ist nicht Stadt, auch nicht Dorf. Es ist ein Jammer und das Werk unserer Generation, der, schlimmer als den Grossvätern, die industrielle Entwicklung über den Kopf gewachsen ist. Der Unterschied ist, dass unsere Gerneration, angesichts des grossväterlichen Erbes, zur Idee der Landesplanung gekommen ist und eine solche Landesplanung sogar hat; sie arbeitet mit viel Wissen, mit viel gutem Willen und rettet, was zu retten ist, aber sie plant nicht. Dazu fehlen ihr die gesetzlichen Grundlagen. Also überzieht sich das Land weiterhin mit Industriebauten und Siedlungen, als hätten wir ja Land genug, um ohne jede Planung auszukommen. Neben der Ausdehnung der Städte gibt es eine weitere, eine sogenannt sekundäre Verstädterung: die Industrien ziehen aufs Land, wo sie billigere Arbeitskräfte bekommen und geringere Steuern zahlen müssen, und ein grosser Teil unsrer Landbevölkerung ist heute in der Industrie beschäftigt, ohne deswegen Städter geworden zu sein.»

Soweit Max Frisch 1955 in «achtung: Die Schweiz». Seine Worte sind nach sechs Jahrzehnten noch so aktuell wie damals; mit Ausnahme der Beschäftigung, heute arbeitet dreiviertel der Bevölkerung im tertiären Sektor, also im Dienstleistungsbereich, in der Industrie sind noch 21 Prozent tätig, in der Landwirtschaft 3 Prozent. Man dürfte meinen, mit zwei weiteren Generationen Landplanung hätten es die schweizerischen Raumplaner verstanden, das Land zu gestalten. Stattdessen aber wurde bloss der kleinkrämerisch föderalistische Kleingeist gepflegt. Anstelle einer überregionalen Planung, die eine Abstimmung mit den Nachbarn voraussetzten würde, missgönnte man diesem von Anfang an die grosse Fabrik, die sich möglicherweise in der Region ansiedeln würde. Und anstatt grosszügig für eine Region zu denken, regional Wohn- und Industriezonen, Landwirtschafts-und Naherholungebiete auszuscheiden, bestimmte jedes Dorf diese für sich selbst in seinen engen Grenzen. Mit dem Erfolg, dass das Mittelland zu einem einzigen, krampfaderig zersiedelten Organ ohne klar erkennbaren Übergang von Stadt zu Land geworden ist, an dem nicht etwa die eigene Borniertheit und Unfähigkeit zum grossen Wurf Schuld trägt, sondern gemäss Volksmund die Ausländer, für die man bauen muss, weil sie sich seit den Bilateralen Abkommen hierzulande niederlassen wollen. Die werktäglichen Staus auf den Ein- und Ausfallachsen zur Stosszeit und die überfüllten S-Bahnen in und aus den Zentren am Morgen und Abend sind die wahrnehmbaren Schmerzsymptome der Zersiedelung.

Dichtestress ein weiteres. Es ist nicht so, dass die Bevölkerung das alles nicht wahrnimmt. Was bei den einen, vornehmlich auf der rechten Seite, als dumpfnaiver Rassismus gegen alle Ausländer daherkommt, äussert sich bei den linksgrünen ebenfalls in Ablehnung der Bilateralen Abkommen mit der damit verbundenen Personenfreizügigkeit. Die Schweiz, so wird agrumentiert, ist ein kleines Land, wir haben nicht endlos Platz. Bald acht Millionen Einwohner sind genug für unser schönes Land. Doch Statistiker prognostizieren in zwanzig Jahren zehn Millionen Einwohner, dann wird die Schweiz aus allen Nähten platzen, so die Argumentation. Dass diese Probleme aber hausgemacht sind, heute lebt zwei Drittel der Bevölkerung im urbanen Raum und manche Randregion und Talschaft steckt wegen der Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung in existenziellen Schwierigkeiten, wird gefliessentlich ausgeblendet. Da ist es einfacher, die böse EU als Feindbild zu pflegen, während man im Stau steckt. Oder aber, was auch oft gesagt wird, in Bern machten die Politiker sowieso was sie wollten. Und so resigniert man und setzt bei den nächsten Wahlen ein Zeichen in dem man die Protestparteien unterstützt. Resignation gilt als demokratische Weisheit, so Max Frisch. Geliebt wurde er für diese Feststellung kaum.





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