Von der Erzählkraft der drei Punkte
11. Dezember 2022
Für «Verdammte Steine – Sapore di Venti von Gaetano Verardi verfasste Yves Baer das Vorowrt, worin er den Autoren und seine besondere Stilistik vorstellt. Nachfolgend die ungekürzte Fassung.
 


Gaetano Verardis Lyrik und lyrische Prosa wecken Bilder. Wenn er in «Geschmack des Sommers» schreibt: «heiss brennt die apulische Sommersonne/auf die weiten Felder/auf das Land der Sonne», ist man mitten in Apulien mit seinen Trulli, den eigentümlich gebauten traditionellen Steinhäusern, die im Innern vor der Hitze schützen. Im Kopfkino spielt sofort ein Film des Ferragosto mit den beschriebenen Trockenmauern mit einer Eidechse darauf ab, man sieht den Schäfer in der Landschaft mit den knorrigen Olivenbäumen, trächtigen Kaktusfeigenbäumen und den Reben stehen. Und man begleitet den Dichter, der mit der Sonne geht, gefolgt von seinem Schatten, ans Meer, in die Nacht und in den neuen Tag hinein. Und so spricht Verardis Dichtung auch die weiteren Sinne an, wenn er vom Geruch der bittersüssen verbrannten Erde, dem Salzgeschmack des Meeres und den singenden Grillen schreibt.

Apulien ist Gaetano Verardis Heimat, hier wurde er geboren. Er trägt sie heute in seinem Herzen, denn seit über einem halben Jahrhundert lebt er in der Schweiz. Im persönlichen Austausch mit ihm kommt man nicht auf die Idee, dass er ein Zugezogener wäre. Heimisch am Zürichsee, war er beruflich als Weinhändler oft in Italien und reist auch heute noch mehrmals pro Jahr zurück. Italienisch ist seine Muttersprache – und doch schreibt er seine Texte in der Sprache seiner Inspiration. Das kann Italienisch sein, viele seiner Texte verfasst er aber zunächst auf Deutsch und adaptiert sie später ins Italienische. So bleibt das Intime des Musenkusses und die Authentizität der Inspiration erhalten. Seine Themen findet er überall, oft sind es Gespräche oder Begegnungen mit Menschen, die ihn inspirieren.

In einigen seiner Gedichte komplettiert Verardi das Spiel mit den Sinnen seiner Leser, indem er sie dazu einlädt, sich an seiner Dichtung zu beteiligen. Nicht im Sinne von Mitmachdichtung, sondern mit der Erzählkraft der drei Punkte. Sie finden sich oft am Ende einer Zeile oder Strophe und lassen einen den Gedanken selbst fertig formulieren. Wenn es denn nötig ist. Es ist Gaetano Verardis stilistische Eigenart. Nicht Einzigartigkeit: denn Max Frisch bediente sich in seinem «Tagebuch 1946-1949» desselben Kniffs. Anstelle der drei Punkte setzte Frisch einen Gedankenstrich ans Ende der Abschnitte und Einträge. Womit die Frage bleibt: «Haben Frisch bzw. Verardi wirklich das sagen wollen, was ich eben gedacht habe?» Gewiss, das ist die einzige Gemeinsamkeit von Frisch und Verardi, denn Frisch machte sich und sein Erleben zum Thema, Verardi lässt sich vom Äusseren inspirieren, er ist philosophischer Betrachter der Welt. Und so ist das Schreiben mit den drei Punkten auch eine Einladung zum Wiederlesen der Texte, in einer anderen Jahreszeit, mit einer anderen Stimmung, vielleicht einem anderen Ort.

Gaetano Verardi 2022 Verdammte Steine Vorwort Yves Baer
Gaetano Verardi mit seinem Werk.

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Gaetano Verardi
Verdammte Steine – Sapore di Venti
Vorwort von Yves Baer

100 Seiten
Hardcover gebunden ISBN 978-3-03846-908-7
Verlag Seidel & Schütz, Zürich, 2022

 


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