Musicus
Das Experiment dauert an
10. August 2004
Nach einer sieben Jahre dauernden Pause veröffentlichen The Prodigy das seit zwei Jahren angekündigte Album «Always Outnumbered, Never Outgunned». Einst als die Rolling Stones der 90er Jahre gehandelt, stellt sich die Frage, welche Relevanz die Band heutzutage noch hat.
Bewertung: * * * * *

Mit der letzten Single – Babys Got A Temper erschien vor zwei Jahren – war Liam Howlett nie wirklich glücklich gewesen. Sie war ihm zu routinemässig vorgekommen. Deshalb habe er nach deren Veröffentlichung beschlossen, bei den Aufnahmen von Always Outnumbered Never Outgunned nochmals von vorne zu beginnen. Und er ging nicht gerade zimperlich um mit seiner Arbeit, wie er in einem Interview mit der unoffiziellen Fan-Website Nekozine Anfang Jahr erzählte: «Also habe ich einfach alle Lieder fortgeworfen.» Einige Sounds werden mit Sicherheit überlebt haben. Howlett beschreibt das Ende August erscheinende Album wie folgt: «Es ist noch immer Prodigy, aber eher Punk von der Einstellung her.» «Baby’s Got A Temper» war ein Song von Keith Flint, welcher der Prodigy-Behandlung unterzogen worden war. Vor allem die Zeilen «We love Rohypnol, she got Rohypnol, we take Rohypnol just to forget it all» löste einen kleineren Skandal aus, die BBC bannte den Song. Moralapostel fanden, der Song rufe zu sexueller Erniedrigung auf. Ein weiterer Grund, wieso Howlett beschloss, beim neuen Album nochmals von vorn zu beginnen. An den Aufnahmesessions sollte Flint nicht beteiligt sein.

Wegbereiter des Millennium-Sounds

The Prodigy stehen wie keine andere Band für die Rockwerdung elektronischer Musik. Anfang der 90er-Jahre hatte die Band mit Charlie eine Breakbeat Hymne vorgelegt. Wie die erste Maxi What Evil Lurks war ihr Debutalbum Experience von den Beats geprägt. Doch The Prodigy stehen auch für Punk. Schon früh verarbeitete Howlett Elemente des Industrial Rocks. Knackige Riffs sind auf ihren Alben immer wieder zu hören. Den optischen Wandel vollzog Keith Flint beim letzen Album The Fat Of The Land (1997). Musikalisch hatte sich der Wechsel zum elektronischen Punk schon bei der 95er-Single Poison und dem ein Jahr später erschienen Firestarter vollzogen.

War Expierence noch ein Album auf der Höhe der Zeit und vergleichbar mit den Sounds von anderen Bands, so war Music For The Jilted Generation ein Meilenstein. Das 1994 erschienene Album beeinflusste die nächsten Jahre über die Musik. Selbst David Bowie oder U2 konnten sich dem Phänomen nicht mehr entziehen, die Einflüsse sind auf deren Album Pop hörbar. Ein Kritiker bezeichnete Mofo als ein von Hand eingespielter Prodigy-Song. Während sich die internationale Konkurrenz noch damit zufrieden gab, Sounds für die jilted Generation zu produzieren, veröffentlichten Prodigy 1997 The Fat Of The Land. Ein punkiges, industrial-lastiges Album. In den nachfolgenden Jahren folgten in dessen Schlepptau Bands wie die Chemical Brothers oder Apex Twin, die Musiksrichtung wurde Big Beats benannt.

Technofreaks, welche die Rockmusik als überlebtes Relikt vergangener Tage abtaten, warfen The Prodigy vor, den Techno getötet zu haben. Angesichts der Tatsache, dass der oft einfallslose Bumbum-Sound ab 1997 vermehrt nur noch in den Klubs gespielt wurde, erstaunt dieser Vorwurf nicht. Doch mehr als heisse Luft steckte nicht dahinter. The Fat Of The Land war ein erfolgreicher Versuch, die beiden unvereinbaren Stile Rock und Techno miteinander zu verschmelzen. Womit The Prodigy den Weg zum Milleniumssound aufzeigten, denn Ende der 90er-Jahre begannen neben U2 auch Musiker anderer Stilrichtungen bis hin zum Jazz, sich mit dem Techno auseinanderzusetzen. Eine Entwicklung, die nur möglich war, weil sich Techno bereits nach wenigen Jahren selbst überlebt hatte.

Ein erstaunlich frisches Comeback-Album
Nicht nur Liam Howlett, auch Keith Flint war nicht wirklich glücklich mit Baby's Got A Temper. Nach der Handvoll Konzerte, die The Prodigy vor zwei Jahren gab, zog er sich in sein Haus zurück. Mehr aus Zufall denn aus Absicht, formierte er u.a. mit Jim Davies die Band Flint und veröffentlichte im Juli 2003 das Album Device #1worauf Baby’s Got A Temper in seiner ursprünglichen Fassung unter dem Titel No Name, No Number. Dass sich das Seitenprojekt Flint negativ auf Prodigy auswirken würde, glaubt er nicht. Sowohl er wie auch Liam Howlett sind sich einig darin, dass er in seinen Nebenprojekt sein künstlerisches Ego ausleben könne, ohne dass The Prodigy dabei Schaden nimmt.

Die Rückkehr in sein gewohntes Studio war Liam Howlett schwer gefallen. Deshalb suchte er nach Veränderung. So erstand er sich einen Laptop und all die nötigen Tools, um darauf vernünftig Musik machen zu können. Kernpunkt davon war das Programm Reason, welches Howlett an seinen W30 Synthesizer erinnerte, worauf er die ersten Singles und Experience schrieb. Im Gegensatz zu The Fat Of The Land, welches auf seine Livetauglichkeit hin aufgenommen wurde, bezeichnet Howlett die Musik auf dem neuen Album als frisch und dem entsprechend, was zurzeit in seinem Kopf vorgeht. Da er die Musik für wichtiger als den Gesang hält, mussten nicht mehr unbedingt KeithFlint und Maxim Reality auf jedem Track singen. Dies eröffnete Howlett die Möglichkeit, mit Leuten wie Keith Kool, Schauspielerin Juliette Lewis und seinem Schwager Liam Gallagher zusammen zu arbeiten. Oasis und The Prodigy hatten schon gemeinsam Konzerte gegeben. Da Howlett auf Shoot Down Gallaghers Stimme bis zur Unkenntlichkeit veränderte, rettete er den Song damit.

Die Tatsache, dass Liam Howlett geheiratet hat und Vater wurde, wird genügen, um von vorneherein eine Menge schlechter Kritiken auf sich zu ziehen. Schliesslich sollen verheiratete Rockmusiker nur noch Muzak produzieren. Auch die Kollaboration mit Oasis, der meist überschätzten Band der 90er-Jahre, ist ein Warnsignal für ein schwaches Album. Rechnet man die lange Wartezeit und den Neustart hinzu, stehen die Zeichen auf Sturm. Doch auf Always Outnumbered, Never Outgunned hat sich Howlett musikalisch weiter bewegt. Punk hat an Einfluss verloren, die Garagebands aus den 60er-Jahren sind an dessen Stelle getreten. Phoenix enthält ein Sample von Love Buzz von der holländischen Band Schocking Blue. Ein Track, den schon Nirvana gecovert hatten.
Spitfire ist ein massiver Opener. Hollywoodstar Juliette Lewis, die in ihrer Freizeit in der Band The Licks spielt, spendete ihre an Patti Smith erinnernde Stimme. Girls ist die erste Single-Auskoppelung. Schmutziger Elektro Punk mit den Stimmen der Ping Pong Bitches. Und in Hotride wird die Soulgruppe Fifth Dimension und ihr Song Up, Up & Away zitiert. Ausserdem kehrt Juliette Lewis zurück. Sie lädt zu einem Flug in ihrem schönen Ballon ein und haucht zweideutig «Give me a ride». Der überraschendste Song auf dem Album ist Medusa's Path, ein cineastisches Instrumental à la Yello, das mit einer sanften orientalischen Note gewürzt ist.

Wer etwas völlig Neues von The Prodigy erwartet hat, wird enttäuscht sein. Trotz seiner Frische wird Always Outnumbered, Never Outgunned kaum den selben Stellenwert seiner beiden Vorgänger erhalten. Zu stark hat sich Liam Howlett darauf konzentriert, die Musik zu machen, die ihm gefällt. Ihren Ruf als eine der wichtigsten Elektrobands wird The Prodigy behalten. Das Album ist ein gelungenes Comeback, wenn auch eine Stagnation auf hohem Niveau.


Keith Flint, Maxim Reality, Liam Howlet

Tracklisting:

Spitfire
Girls
Memphis Bells
Geut Up Get Off
Hotride
Wake Up Call
Action Radar
Medusa's Path
Phoenix
You'll Be Under My Wheels
The Way It Is
Shoot Down

The Prodigy
Always Outnumbered Never Outgunned
XL Recordings
XLCD 183P

Notenraster:
* Geld verschwendet
* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
* * * * gutes Album
* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk

Links:
www.theprodigy.com