unschuldige Songs zwischen Apple, Exorzismus, Mutter und Gott
26. September 2014
U2 begeben sich auf die Suche nach der verlorenen Unschuld ihrer Jugend. Bono überzeugt dabei mit mehrdeutig tiefsinnigen Lyrics und legt mit «The Troubles» sein kryptischtes und zugleich lyrisches Meisterwerk vor.
Bewertung * * * * *


Schönheit und U2 sind keine Synonyme. Einzig «All That You Can’t Leave Behind» (2000) konnte sich mit diesem Adjektiv schmücken. «Songs Of Innocence» ist das schönste U2-Album bisher. Thematisch erinnert sich die Band an ihre Jugend. Alt sind U2 noch nicht, höchstens kahl (The Edge) und grau (Adam Clayton). Musikalisch schlagen U2 die Brücke zu ihren ersten Alben. Doch Retrorock à la U2 bedeutet, dass es die Lyrics von 50 Jährigen sind, die sich in neuen Kleidern im Stil von anno Tobak an ihre Jugend erinnern.

Auch das Cover soll an die zwei frühere Alben erinnern: «Boy» von 1980 und «War» von 1983, worauf jeweils Peter Rowen, der jüngere Bruder von Bonos Jugendfreund Guggi abgebildet war. «Wenn man das Album kennt, erkennt man in der Bildsprache dessen Thema, also dass es viel schwieriger ist, die eigene Unschuld zu bewahren als diejenige von jemand anders», erklärt Bono gegenüber U2.com. Anstelle von Guggis Bruder Peter umklammert Larry Mullen Jr. seinen 18-jährigen Sohn Aaron Elvis zeigt.

Spurensuche nach dem vermissten 2009er-Album
U2 und leicht veröffentlichte Alben sind ebenfalls Antonyme. Auch «Songs Of Innocene» steht in der in der Tradition der Zangengeburten. Am 27. Februar 2009 erschien «No Line On The Horizon». In dessen Linernotes taucht bereits der Name «Songs Of Ascent» auf. Geplant war denn auch, analog wie 1991/1993 mit «Achtung Baby» und «Zooropa», eine schnelle Veröffentlichung der noch nicht fertig gestellten Songs. Neun Songs sollten es sein. Die Online-Händler kündigten eine Veröffentlichung im November 2009 an. Obwohl man in der Deluxe Version von «No Line On The Horizon» ein Foto von einer möglichen Tracklist für das Album «Songs Of Ascent» sieht, geschah nichts.
u2 2009 songs of ascent
Der einzige offizielle Hinweis auf das Album «Songs Of Ascent», der im Begleitbuch zu «No Line On The Horizon» abgebildete Flipchart mit den beiden Albumnamen.

Denn die Band brach auf ihre «360° Tour» auf und schob das Album auf die lange Bank geschoben. Wohl auch, weil sie mit dem Album noch nicht zufrieden war. Mit dem Start des zweiten europäischen Abschnittes im Herbst 2010 wurden nach und nach fünf unveröffentlichte Songs ins Programm aufgenommen: «Welcome To The Stingray Guitar» als Konzert Opener, die wunderbare Ballade «Northern Star», «Every Breaking Wave» und «Mercy». Alle diese fünf Songs spielte die Band an ihren beiden Zürcher Konzerten am 11. und 12. September 2010. Zum amerikanischen Record Store Day 2010 veröffentlichten U2 die in Brüssel aufgenommene Maxisingle «Mercy».

Allerdings erfolgte keine Veröffentlichung weiterer Songs. Für die Mitglieder ihres Fanclubs veröffentlichten U2 zwei Live-CDs der «360° Tour»: «U22» und «From The Ground Up - Edge's Picks». Doch sie enthielten keine unveröffentlichten, neuen Songs von «Songs Of Ascent», obwohl es Tausende von Ohrenzeugen davon gegeben hat. Der einzige Song aus den während der «360°-Tour» ist «Every Breaking Wave», der es auf «Songs Of Innocence» geschafft hat. Bereits 2009 wurde der Song als erste Single des bis heute unveröffentlichen Albums gehandelt.

Anders als bei ihren letzten Zangengeburten, dem Meisterwerk «Pop» (1997) und dem enttäuschenden letzten Album «No Line On The Horizon», veröffentlichten U2 «Songs Of Innocence» erst, nachdem die Band es als fertig erachtet hat. Sollte an «Pop» kein Ton mehr verändert werden, hätte eine weitere Überarbeitung «No Line On The Horizon» nicht geschadet. Obwohl das Album vor fünf Jahren in 33 Ländern die obersten Chartregionen erreichte, verkaufte es bloss noch 5 Millionen Mal, was eine Halbierung der Verkäufe von «How To Dismantle An Atomic Bomb» (2004) ist. Ob 5 oder 11 Millionen, das sind Spitzenwerte und nicht mit anderen Künstlern vergleichbar. Bono führte die Halbierung der Verkaufszahlen auf den Zusammenbruch der Musikindustrie zurück, die sich in den Jahren 2004 bis 2009 ebenfalls halbiert hatte. Dass es auch am schwachen Album lag, auf diese Idee war er nicht gekommen.

u2 360 Tour Hold Me Thrill Me Kiss Me Kill Me 2011
Bono während «Hold Me Thrill Me Kiss Me Kill Me» während der 360° Tour 2010/2011. Er trägt eine Lederjacke mit integrierten Lampen und singt in ein leuchtendes Mikrofon, welche den künstlichen Nebel erleuchen. Fotos davon wurden für die Singles «Mercy» und «Invisible» verwendet. – Foto: U2.com

Durch das Verschenken von «Songs Of Innocence» über iTunes haben in der ersten Woche nach Veröffentlichung 33 Millionen das Album gestreamt oder heruntergeladen. Durch das Verschenken und den exklusiven Vertriebsweg wird das Album auch nicht in den Hitparaden erfasst, die erfolgt erst bei der physischen Veröffentlichung Zum Apple-Deal folgt mehr weiter unten.

Mutter…
Nachdem Bono auf «Kite» auf «All That You Can't Leave Behind» und «Sometimes You Can't Make It On Your Own» auf «How To Dismantle An Atomic Bomb» das Sterben seines Vaters und die schwierige Beziehung, die er zu ihm hatte, reflektierte, ist nun wieder seine Mutter Iris an der Reihe. Bonos Mutter starb, als er 14 war. 1997, während seiner Midlife Crisis, widmete er ihr auf «Pop» «Mofo». Damals fand er es befremdlich, dass er sein ganzes Leben in einem Song ausdrücken könne. «Mother, am I still your son?» fragte er damals. Mit «Iris» löst sich Bono nun von seinen Schuldgefühlen an ihrem frühen Tod: «Iris says that I will be her death / It was not me / Free yourself». Schon die ersten Zeilen zeigen, dass er über ihren Tod hinweg ist, und sich versucht, in den jungen Mann von damals zu erinnern, der mit dem Verlust lernt umzugehen: «The star, that gives us light / has been gone a while. / But it’s not an illusion / The ache in my heart / is so much a part of who I am.»

In «I Will Follow» versuchte Bono damals dasselbe als knapp Zwanzigjähriger auszudrücken. In «Lemon» auf «Zooropa» (1993) beschreibt er den Ablösungs- und Trauerprozess und die Gefühle die er hatte, als er einen Film mit seiner Mutter angeschaut hatte: «She's gonna make you cry, she's gonna make you whisper and moan.» Dann nimmt er Bezug auf den Film: «A man makes a picture, a moving picture / through the light projected, he can see himself up close.» Es setzt der Refrain ein: «Midnight is where the day begins». Doch es sollte nochmals zwanzig Jahre dauern und «Mofo» hervorbringen», ehe er sich mit dem Lauf des Lebens arrangien konnte.

… und Gott
Die andere, nicht ganz einfache Beziehung von Bono ist diejenige mit Gott, obwohl er einst Prediger werden wollte. Böse Zungen behaupten denn auch, dass er es dennoch wurde. Nach ihrem ersten Album betete die Band über die Frage, ob sich Rock'n'Roll und Glauben miteinander verbinden lassen. Die Antwort lässt sich in Form von einem Dutzend weiterer Alben nachhören. Die härtesten Kritiker ihrer spiritueller Songs waren denn auch evangelikale Christen. Trotz gemeinsamen Gebeten im Studio und vor jedem Konzert sowie Songs wie das von Psalm 40 inspirierte «40», war die blosse Tatsache, dass U2 Rockstars sind, manch christlichem Geschwister Beweis genug , dass U2 zu wenig fromm sind. Bonos Antwort war 1987 «I Still Haven't Found What I'm Looking For», einer der wichtigsten Songs im Katalog der Band. Auf dem nachfolgendem Album «Rattle & Hum» (1988) wurde die Frömmigkeit der Band für die säkularen Fans zum Problem. Mit seiner wütenden Kampfansage Ban die evangelikalen Fernsehprediger bei der Liveversion von «Silver And Gold» verägerte Bono auch viele Fromme in den USA: «The God I belive in doesn't steal money from the poor and the sick», warf er ihnen vor.

adam clayton zurich 2010
Adam Clayton am 11. September 2010 im Letzigrund in Zürich.

Mit der Neuerfindung der Band mit dem 1991 erschienenen Album «Achtung Baby», versteckten U2 ihre alten Botschaften hinter Ironie und Maskerade und überforderte damit sowohl die säkularen wie frommen Fans. Um zu realisieren, dass der Song «Until The End Of The World» ein Gespräch von Jesus mit Judas Ischariot ist, bedurfte es einiger erläuternder Nachhilfe. Als dann Bono auf der folgenden «Zoo TV»-Tour sich als Teufel MacPhisto verkleidet hatte, der als müder, alter Rockstar George Bush Senior, die UNO oder die Königin von England anrief oder für das ganze Stadion bei einem Pizzakurier Pizza bestellte, verstand ihn niemand mehr.

Bei «Pop» (1997) kehrte Gott mit aller Macht zurück, Bono verzweifelte an ihm, er fragte in: «If God Will Send His Angels» ob es besser wäre, wenn Gott seine Engel senden würde und stellte ernüchtert fest: «Then they put Jesus in show business
/ Now it's hard to get in the door.»
Und verzweifelte in «Wake Up Dead Man»: «If there's an order in all of this disorder / is it like a tape recorder? / Can we rewind it just once more? / Wake up, dead man».

Nach dem Jahr 2000 und dem schönen «All That You Can't Leave Behind», verzieh die Welt U2 ihre Frömmigkeit. Männiglich schwärmte man von «Peace On Earth»: «Heaven on earth, we need it now» und nahm vier Jahre später zur Kenntnis, dass sich «Crumbs From Your Table» wieder einmal an die ultrafrommen Christen, die gerade den Irak völkerrechtswidrig unter anglo-amerikanischer Führung überfallen hatten, wandte: «You speak of signs and wonders / I need something other / I would believe if I was able / But I'm waiting on the crumbs from your table». Dabei wurde übersehen, dass Bono langsam wieder zur alten Glaubensträke zurückfand. Mehr noch, er schmetterte allen Christen und den beiden semitischen Weltreligionen unmissverständlich ihre Bruderkriege um die Ohren: «Lay down your guns / All your daughters of Zion / All your Abraham sons», sang er in «Love And Peace Or Else». Dabei trug er bei den Konzerten ein Strinband mit dem Halbmond, dem Davidstern und dem Kreuz. Und wiederholte immer wieder: «Jesus, Jahwe and Allah are one / Jesus, Jahwe and Allah are the same.» Das war 2005, während der «Vertigo Tour». Fast schon schnöde meinte Bono 2009 in «Stand Up Comedy»: «God is love and love is evolution's very best day».

Auf «Songs Of Innocence» ist der Glaube in aller Macht wieder zurück. Eine lyrische Sternstunde hatte Bono, als er tiefsinnig mehrdeutig mit «You’ve got a face not spoiled by beauty» «Song For Someone» beginnt. Es ist das Zwiegespräch zwischen einen Fünfzigjährigen, der im Gebet mit Gott eine erste Lebensbilanz zieht und zum Schuss kommt, dass er sich irgendwo, nur noch nicht am richtigen Ort aufhält: «And I’m a long long way from your Hill of Calvary / And I’m a long way from where I was and where I need to be / If there is a light you can’t always see.»

die Musik
Im U2-Katalog gibt es drei Arten von Alben: Bono-Alben wie «All That You Can’t Leave Behind», Edge-Alben wie «Zooropa», Meisterwerke wie «Joshua Tree», «Achtung Baby» oder «Pop» entstehen erst, wenn Bono und Edge musikalisch eine Einheit bilden. Obwohl «The Miracle (Of Joey Ramone)» und «Raised By Wolves» durch die kantigen Riffs von The Edge in Erinnerung bleiben, ist «Songs of Innocence» Bonos Album. Nicht nur wegen den Texten, sondern auch weil seine Stimme wie bei «All That You Can't Leave Behind» in den Vordergrund gemischt ist.

Musikalisch besuchen U2 vornehmlich ihre ersten Alben und kaschieren dabei, dass sie mit zunehmenden Alter mehr Freude an Streichern in ihrer Musik erhalten. So wie sie das bei bereits bei den letzten beiden Singles «Ordinary Love» und «Invisible» getan haben. Das Album strotzt nicht von neuen Einfällen, macht aber den durchzogenen Vorgänger «No Line On The Horizon» schnell vergessen. Die Songs sind perfekt abgemischt, vielleicht fast zu perfekt für U2 Verhältnisse. Das liegt daran, dass Danger Mouse und Paul Epsworth die Produzenten waren. Danger Mouse produzierte die Gorillaz, Beck oder The Good The Bad And The Queen und war Mitglied von Gnarls Barkley. Paul Epsworth wurde mit Adele berühmt, wirkte als Co-Autor mit Paul McCartney auf dessen letzten Album «New» mit. Dafür getrauten sich U2 mal, ein Album ohne die Mitwirkung von Brian Eno und Daniel Lanois zu veröffentlichen.

edge 360 tour zurich letzigrund
The Edge, live im Letzigrund am 11. September 2010.

U2 widerstanden der Versuchung, Joey Ramone selig mit einem Punksong die Reverenz zu erweisen. Neben Edges Riff ist «The Miracle (Of Joey Ramone)» zurückgenommen. Doch Bono brilliert mit den Texten über seine Adolesenz, als er die Musik der Ramones entdeckte: «I was young / not dumb / Just wishing to be blinded by you / Brand new / and we were pilgrims on our way.» Auch wenn Bono aus der Ich-Erzähler Perspektive berichtet, kann dies als kollektive Aussage der Band genommen werden.

Eine musikalische Neuerung hat «Songs Of Innocence», U2 haben den Chor-Gesang entdeckt. «California (There Is No End To Love)» beginnt mit einem im Chor gesungenen «Barbara, Santa Barbara», das geschickt in den wabernden Rhytmus eingemischt wird und Bilder der pazifischen Wellen evoziert. Auch der zweite Song für einen Punk-Pionier, «This Is Where You Can Reach Me Now», der Joe Strummer von The Clash gewidmet ist, beginnt mit einem im Chor gesungenen «Soldier, soldier».

Dennoch kommen die Fans von The Edge nicht zu kurz. Nicht nur wegen den knackigen Riffs. Sein Understatement tut dem Album gut. Dass das Album nach einem ordentlichen Start einen musikalischen Durchhänger hat, ist mehr an der konventionellen Produktionsweise des Albums gelegen, sodass Dutzendsongs von U2 wie «Volcano» auch so klingen, weil sie simple Songs mit einer Apreggio-Gitarrenbegleitung, Schlagzeug, Bass und Gesang sind. Doch im dritten Drittel löst die Band die Handbremse und legt mit «Raised By Wolves», «Sleep Like A Baby Tonight» und «This Is Where You Can Reach Me Now» gleich drei Songs von alter U2-Grandezza vor. Klangschicht über Klangschicht wird gelegt wird, man mehrmals hinhören, um all die musikalischen Finessen zu erkennen.

«Raised By Wolves» beginnt mit asthmathischen Atemgeräuschen. Bono singt mit metallener Stimme, bevor im Falsett «I don't belive anymore» singt und Edge mit einem kantigen Riff einen ersten Akzent setzt. Es ist U2 Rückkehr zum alten Thema des Nordirland-Konfliktes, den die Band mit «Sunday Bloody Sunday» (1983) und «Please» (1997) bereits behandelt hatte: «Blood in the house, blood on the street /
The worst things in the world are justified by belief».
Trotz Gitarrensolo ist das einsam gepsielte Klavier das bestimmende Soloinstrument. «Sleep Like A Baby Tonight» beginnt mit einem federnden E-Piano und Bono, bei so guter Stimme wie schon lange nicht mehr, singt mit Echohall. Edge setzt erst beim ersten Refrain ein und legt mit einem heiseren Gitarrensolo los. Gegen Ende des Songs sing Bono im Falsett, fast wie einst in den 80er-Jahren, ehe The Edge den Song mit seinem zweiten Solo, ebenfalls durch Echogeräte wabernd, erdet und zu einem Ende bringt.

«This Is Where You Can Reach Me Now» schliesst nahtlos daran an, denn der Basistrack ohne Bonos Gesang würde bereits als sehr gute instrumentale Nummer durchgehen. Es sind acht Gitarrenspuren mit verschiedenen Klangfarben und Rhythmen, die mit einander wetteifern. Das reicht beinahe an «Discothèque» von «Pop» mit seinen zehn verschiedenen Gitarrenspuren. «Sleep Like A Baby Tonight» und «This Is Where You Can Reach Me Now» sind der Höhepunkt eines Albums ohne Absturz und belegen eindrücklich, wie wichtig die Balance zwischen Bonos Gesang und Edges Virtuosität ist.

der lyrische Geniestreich zum Schluss
Das mystische «The Troubles», das U2 mit der schwedischen Sängerin Lykke Li eingespielt haben, beschreibt ein Gespräch zwischen Jesus und einem Sünder. Wie einst die Beatles bei «She Loves You» beginnt der Song mit dem hymnsichen Refrain, der hier aber die Anklage Gottes ist: «Somebody stepped inside your soul / little by little they robbed and stole / till someone else was in control» Es dämmert einem, dass Gott sein vernichtendes Urteil fällen wird. Doch die Musik ist zu hymnisch, zu sphärisch dazu. Und so kommt der Sünder, verkörpert von Bono, zu Wort: «You think it’s easier / to give up on the trouble if the trouble is destroying you / You think it’s easier / but before you threw me a rope / it was the one thing I could hold on to.» Es ist die alte, anklagende Gegenfrage: Gott, warum hast du so lange gebraucht? Wo bist Du die ganze Zeit über gewesen?

Noch immer spricht der Sünder, doch ob nun Jesus oder Satan der Adressat sind, bleibt dem Hörer überlassen: «I have a will for survival / So you can hurt me / then hurt me some more.» Ist das nun katholischer Demutsglaube oder nicht doch eher der trotzige Stinkefinger beim sich Erheben? Dann kommt der Trotz Gott gegenüber: «I can live with denial / You're not my troubles Anymore.» Hier wäre der erste Schluss angebracht, doch der Song geht noch weiter. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Ablehnung der Probleme. Ja, Atheisten können hier Bonos definitven Abfall von Gott hineinlesen.

u2 songs of innocence apple promotion 2014
Zehn Jahre nach der ersten Kollaboration mit Apple verschenkten U2 ihr Album allen iTunes Nutzern. Hier ein Standbild aus dem Apple-Werbespot, der mit «The Miracle (Of Joey Ramone) unterlegt ist. – Foto: u2.com

Doch eigentlich ist Satan nicht mehr das Problem des Sünders. Zunächst spricht Jesus: «God knows it’s not easy / taking on the shape of someone else’s pain.» Und dann gibt Bono den entscheidenden Hinweis, dass der Sünder durchs Gericht kommen wird: «God now you can see me / I’m naked and I’m not afraid / My body’s sacred and I’m not ashamed.» Nach dem Sündenfall wurden sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bewusst. Gott schenkte ihnen in seiner Gnade Kleider. Nun ist der Sünder sich seiner Nacktheit bewusst und schämt sich ihrer nicht mehr. Beschreibt der Song die Rückkehr nach Eden? Oder gar das Leben in der neuen Schöpfung? Nein, denn es folgt aus musikalischen Gründen nochmals der anklagende Refrain. Wären U2 so brillante Komponisten wie Paul McCartney oder Sting, sie hätten für den Schlussrefrain die Tonart von Moll auf Dur geändert, damit die Botschaft des Songs auch musikalisch verständlich wäre.

was steckt hinter dem Apple-Deal?
Dass U2 ihr neues Album während zwei Wochen allen Apple-Usern verschenken, ist nur konsequent, Anfang Jahr verschenkten sie die Single «Invisible» auf Kosten der Bank Of America und generierten 3 Millionen Downloads. Die Bank Of America überwies pro Download einen Dollar an Bonos Wohltätigkeitsorganisation RED. Solange U2 in Holland Steuern optimieren, ist das eine nette Geste nach dem Motto Geben ist seliger den Nehmen. Mehr nicht. Und als Fan bedanke ich mich auch artig dafür. Dennoch: Seit Jahr und Tag fragt sich der Autor, wenn er das Symbol für Artist auf seinem iPod anschaut und sich an den Apple Werbespot von 2004 erinnert, ob er nicht von einem Schattenriss von Bono angestarrt wird. Bonos Konterfei lässt sich nicht wechseln. Wer das geschenkte Album nicht möchte, braucht es nicht herunterzuladen.

Allen Unkenrufen beleidigter Kollegen zum Trotz, wird Verschenken auch nicht das Geschäftsmodell der Zukunft sein. Bono war bereits vor dem Börsengang von Facebook einer der Hauptkapitalgeber und ist seit dem Börsengang neben Paul McCartney der einzige Rock-Milliardär. Deswegen steckt hinter der Werbeaktion mehr als nur ein PR-Gag oder blosse Menschenliebe. U2 sind drei wiedergeborene, evangelikale Freikirchler und ein partysüchtiger Katholik, alles Denominationen, die dem Profit nicht abhold sind. Was also steckt hinter dem Geschenk?

Steve Jobs kämpfte jahrelang, damit iTunes zum digitalen Musikladen wurde. Er setzte sich durch, weil der Branche vor zwölf Jahren bereits die Felle davon schwammen. Einer seiner ersten Verbündeten war Bono. Stimmen die Gerüchte nur annährend, dann arbeiten U2 und Apple an einem völlig neuem digitalen Musikformat, das vor jeglicher Piraterie sicher sein soll. Spruchreif soll es in anderthalb Jahren sein und den Konsumenten die Musik multimedial in noch nie dagewesener Art präsentieren. Die Musikindustrie ist heute ein Schatten ihrer selbst, trotz Hi-Res-Downloads und FLAC Format, dem Hörgenuss schlechthin.

Apple liebt oder hasst man. U2 liebt oder hasst man. Was also spricht dagegen, wenn die beiden zusammenspannen? Erinnert man sich an die Zangengeburten der letzten U2-Alben, könnte dieses technische Format ein solches Phantom wie «Songs Of Ascent» werden. Folgt aber in den nächsten zwei Jahren das angekündigte neue Album, ob es nun «Songs Of Experience», wie gemunkelt wird oder doch eher «Songs Of Ascent» oder gar ganz anders heisst, und wird dieses zunächst exklusiv auf dem neuen Format veröffentlicht werden, so geht der Autor jede Wette ein, dass das neue Format kosten wird und weder U2 noch Apple das Album gratis zur Verfügung stellen. Deshalb ist das Geschenk der unschulidgen Songs nur ein als trojanisches Pferd verkleideter PR-Gag.

u2 2014 songs of innocence
U2014: Larry Mullen Jr., Adam Clayoton, Bono und The Edge Ebenfalls in klassisch grimmiger Stimmung, die sie befällt sobald sie für Fotos posieren müssen. – Foto: u2.com


u2 cover songs of innocence

Tracklist:
The Miracle (Of Joey Ramone)
Every Breaking Wave
California (There Is No End To Love)
Song For Someone
Iris (Hold Me Close)
Volcano
Raised By Wolves
Cedarwood Road
Sleep Like A Baby Tonight
This Is Where You Can Reach Me Now
The Troubles

Deluxe Version
CD 1: Studio Album

The Miracle (Of Joey Ramone)
Every Breaking Wave
California (There Is No End To Love)
Song For Someone
Iris (Hold Me Close)
Volcano
Raised By Wolves
Cedarwood Road
Sleep Like A Baby Tonight
This Is Where You Can Reach Me Now
The Troubles

CD 2 Bonus CD
Lucifer's Hands
The Crystal Ballroom
Every Breaking Wave (Acoustic)
California (Acoustic)
Raised by Wolves (Acoustic)
Cedarwood Road (Acoustic)
Song for Someone (Acoustic)
The Miracle (Of Joey Ramone) (Busker Version)
The Troubles (Alternative Version)
Sleep Like a Baby Tonight (Alternative Perspective by Tchad Blake)

u2 songs of innoence cover itunes

 

Links:
U2



Notenraster:
* Geld verschwendet
* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
* * * * gutes Album
* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk
   

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