Bestandesaufnahme
17. April 2023
Herbert Grönemeyer meldet sich mit einem überraschend guten Album zurück, das alles enthält, was ihn ausmacht und ihn als singenden Chronisten der Zeit zeigt.
Bewertung: * * * * *


Überraschend gut, so das Verdikt gleich zu Beginn. Einen solchen Kracher hat man von Herbert Grönemeyer kaum mehr erwartet: er ist beschwingt, unverkrampft, optimistisch und herausfordernd auf dem Ende März erschienenen Album «Das ist los». Es ist alles vorhanden, die Balladen, der Schmusepop und mit «Urverlust» besucht er nochmals das Album «Mensch» (2002). Dies ist kein Zufall, es sind nun 25 Jahre her, dass innert weniger Tage sein Bruder und seine Frau Anna starben. War es auf «Mensch» die schlichte Feststellung «Du fehlst», erkennt Gröni, dass die Zeit solche Wunden nicht heilen mag.

Als Singer/Songwriter alter Schule ist er engagiert, manchmal mit der Ernsthaftigkeit des Papstes, aber immer laut und deutlich links. Er ist zum kulturellen Gewissen Deutschlands geworden. Nach der Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands kämpfte Grönemeyer gegen das Erstarken der Neonazis und formulierte 1994 zeitlos in «Die Härte»: «Hart im Hirn, weich in der Birne, ohne Halt, einfältig und klein, auf der Suche nach einem Führer. Es ist hart, allein beschränkt zu sein.» Als wäre er ein Prophet und hätte das Zeitalter der Social Media mit einer Inflation an geistlosen Influencern ein Jahrzehnt bevor es mit diesem Wahn losging, vorausgesehen, sang er 1998 in «Selbstmitleid»: «Du stehst im Regen und du wirst nicht nass, es regnet an dir vorbei. Über deinen Lieblingswitz hat wieder niemand gelacht. Tu dir leid.»


«Das ist los» kann man gut mit politischen Ohren hören. Vordergründig ist «Deine Hand» ein romantisches Liebeslied. Doch die Zeilen: «Hoffnung ist gerade so schwer zu finden. Ich suche sie, ich schau nach links und fühl mich blind für Perspektiven, die uns weiterbringen» kann man als politische Feststellung nehmen. Fast schon ein spöttischer Kommentar erlaubt er sich in «Angstfrei»: «Wer nicht strampelt, klebt an der Ampel und wartet auf grün»

«Und immer wieder Neuanfang. Die Welt dreht sich im Schleudergang» heisst es im Titelsong, und dann geht der Wahn unserer Zeit los: «Bankenkrise, Emirat, Schuldenbremse, Windradpark, Lifehacks, Burnout, Horoskop (…) Avocado, Chiasamen, Hamsterräder, Grossalarm, Jeder sieht sich, jeder schreit (…) Kabul, Rom, Kaliningrad, Dürreschock am Aktienmarkt, Opt in, sign up, Hafermilch, Geheimcodes auf dem Nummernschild, Millionen Menschen unter Druck, Ohren zu und Fahrerflucht (…) Wer auf Selbsterhalt plädiert, hat’s Wort Armut nicht kapiert, Kryptokurse, Eigenheim und alles in die Cloud rein». Das Schlagwortgewitter wird zwischendurch mit der neckischen Frage: «Was ist, Kid, kriegst Du noch was mit?» unterbrochen, bevor Gröni den Refrain rappt: «Was ist los? Das ist, was ist los?» Manche haben in den Wirren dieser Tage den Überblick verloren. Grönemeyer hat sie in drei Minuten zusammengefasst. «Das ist los» ist ein Zeitzeugnis der frühen 2020er-Jahre.

Als Beobachter im Lockdown hat er Einiges fragwürdiges gesehen. So resümiert er in «Eleganz»: «Leg’ dir einfach keinen Zugzwang an. Nicht nur du weisst nicht wohin. Es braucht keinen Hauptgewinn. Kein Druck, kein Plan, wichtig ist nur, dass man Alltag kann.» Das hat die die zeitlose Klasse von «Momentan ist richtig, momentan ist gut, nichts ist wirklich wichtig, nach der Ebbe kommt die Flut» aus «Mensch» (2002) oder der simplen Feststellung, dass es Männer schwer lebensleicht haben.





Tracklist
Deine Hand
Das ist los
Herzhaft
Tau
Genie
Der Schlüssel
Angstfrei
Urverlust
Eleganz
Oh Oh Oh
Eine Tonne Blei
Behutsam
Turmhoch




 


Links:
Herbert Grönemeyer

Notenraster:
* Geld verschwendet
* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
* * * * gutes Album
* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk

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