Hassliebe Streaming

31. März 2023
Die Geschichte des Streamings ist älter als man gemeinhin glaubt.


Das Streaming und ich sind duzis, aber keine Freunde, obwohl es vorkommt, dass ich mit ihm ins Bett gehe und nächtens mit Kopfhörer mir noch etwas Musik gönne. Streaming mag praktisch sein, um eine Besprechung für diese Zeitung zu schreiben. Doch mir fehlt das haptische aber auch das Geld für eine neue streamingfähige Hifi-Anlage, die Musik in ordentlicher Qualität abspielt. 2005 hörte ich ein erstes Mal davon, anlässlich einer Vorab-Listening-Session bei EMI Records, Product Manager Carlo Pozzi erzählte, dass die Zeit der Promo-CDs vorbei wäre, dass es ein System geben würde, in dem die Songs online zur Verfügung stünden. Er sprach von MPN, dem Musik Promotion Network, auf dem die Promos gestreamt werden können.

wackelige Anfänge
Bereits Ende der 1980er-Jahre gab es erste Streaming-Medien, mit der Lancierung des WWWs, des World Wide Webs 1993, kamen Internetradios auf. Mit einer Webcam streamten U2 1996 während den Aufnahmen zu «Pop» verpixelte Bilder aus ihrem Studio. 1999 fand das NetAid-Konzert statt, ein elfstündiges Konzert in New York, London und Genf, von Radio, TV übertragen und im live im Netz gestreamt. 300 Linux-Server wurden eingesetzt. Viele Aussetzer und miserable Ton- und Bildqualität liessen es zu einem Flop werden. Auch Livestreams von Konzerten von Madonna und Paul McCartney brachten um Jahrtausendwende noch regelmässig die Server zum Absturz. Doch sie waren die Vorboten der heutigen Zeit.

der Pono-Player
Nach dem Platzen des Internet-Börsen-Booms lancierte Apple den iPod und den iTunes Store und schuf so die Grundlage für die digitale Verbreitung von Musik und Filmen. Allerdings noch mit Downloads, die Speicherplatz auf Festplatten benötigten. Die Qualität war lange das Hauptproblem, wie einst beim Videoformatstreit, bei dem sich mit VHS das schlechteste Format durchgesetzt hatte, wurde MP3 zum Massstab. Zwar schien der Qualitätsverlust den meisten Usern egal zu sein, sie luden sich die Musik auf ihre portablen Geräte mit miserablen Lautsprechern, doch Musiker störten sich sehr wohl daran. Neil Young gründete 2012 Pono, einen Online-Musikdienst mit eigenem Player. Der Anspruch war, Musik anzubieten, die wie im Tonstudio klinge. Die ersten Geräte wurden 2014 verschickt. Ein wirtschaftlicher Erfolg blieb aus. 2017 wurde Pono eingestellt. Die Leute wollten keinen eigenen Player mehr, auch der iPod ist mittlerweile Geschichte.


Mitte der 2000er-Jahre wurden die Promos durch das Music Promotion Network ersetzt.


Vor allem machte die Digitalisierung der Musik ungeheure Fortschritte, auf denselben Datenträgern bzw. Bandbreite lassen sich viel mehr Informationen speichern, man vergleiche eine Originalaufnahme des «Weissen Albums» der Beatles mit dem 2018er-Remix von Giles Martin. Gewiss haben auch die Produzenten gelernt, für die neuen Medien abzumischen. Plattformen wie Tidal haben sich der Klangqualität verschrieben.

rechtliche Fragen
Spotify ist schwedisch, und, um den alten Running Gag über Ikea, zu zitieren, dass immer eine Schraube fehlt, verwundert es nicht weiter, dass auch Spotify nicht komplett ist. Wie schon bei Lancierung der CDs und später bei den Downloads, sind die Streamingportale Ergänzungen zur Sammlung, kein Ersatz. In den 80er-Jahren wurde darauf verzichtet, die Singles der 60er- und 70er-Jahre neu auf CD herauszugeben. Anfang der 00er- Jahre und aktuell beim Streaming wiederholt sich dies.

Seit Anfang März sind sechs Alben von De la Soul verfügbar. Bislang verhinderten Lizenzprobleme von mehreren hundert Samples den digitalen Vertrieb. Allein auf «3 Feet High And Rising» sollen es über 70 Samples gewesen sein, die zur Veröffentlichung freigegeben waren, allerdings nicht digital. Kein Wunder, das Album erschien 1989, Spotify wurde 2006 gegründet. Ähnlich ist es in der Schweiz: Lange Zeit enthielten sich Züri West dem Streaming. Seit 2017 und dem Album «Love» ist die Band bei Apple Music verfügbar, seit dem 6. Dezember 2019 auch auf Spotify. «Dies, weil es zu viele Fans verärgert hätte, wenn sie uns nicht auf ihren gewohnten (Hör-)Kanälen hätten hören können», so Stefan Mischler von Weltrekords.

Jedoch, um beim Bild von der Schraube bei Ikea zu bleiben, sind die Lücken der digitalen Versionen der Züri West Alben schwerwiegend. Wer Songs wie «Lue zersch wohär de Wind wääit», «Johnny und Mary» oder «Mr wei nid grüble s’sisch scho rächt» streamen möchte, geht leer aus. Laueners Mundart-Adaptionen mögen Klassiker des Mundartrocks sein, aus Lizenzgründen sind sie online nicht erhältlich. Und noch auf etwas anderes weist Mischler hin: Die Streaming-Umsätzen kompensieren auch bei Platzhirschen wie Züri West die schrumpfenden CD-Einnahmen nicht.

Heimat Playlist
Es gibt sie aber doch noch, die hübsche Vorstellung zum Streaming. Anlässlich der Veröffentlichung von «Homeless Songs» fragte ich Stephan Eicher, wo Songs ihre Heimat hätten: «Sie sind irgend auf einem Server in Alaska zu Hause, weil es dort billiger ist, sie zu kühlen, oder irgend in einem alten Schweizer Militärbunker, wo sonst Militärbetten standen, Käse gelagert wurde, nebenan wird Gold gelagert und in einem Nebenstollen steht noch ein Server von Tidal oder Deezer.» Und fügt dann ernsthaft an: «Songs sind heute in Playlists zu Hause, was nicht so schlecht ist, denn das grösste musikalische Kunstwerk sind die Mixtapes auf Kassette gewesen. Deshalb machen mich Streams glücklich, weil die Playlists etwas von den Mixtapes haben. Die neue Heimat meiner Songs ist wohl jetzt in Playlists.» Immerhin etwas.


Selbst auf dem Smartphone lässt sich heute Musik in hervorragender Qualität hören.
Foto: Frederik Wandem/pixapay


Erschien am 31. März in der Ausgabe 3/2023

 


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Musikzeitung Loop

Notenraster:
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* * Eine EP hätts getan
* * * Okay
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* * * * * we are pleased
* * * * * * Meisterwerk

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