Am
1. Juni 1967 erschien «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts
Club Band» von den Beatles. Es war die erste Platte,
die eindeutig Paul McCarteys Handschrift trug. Im Vergleich
zur damaligen Popmusik war «Sgt. Pepper» mehr
als nur ein revolutionäres Album. Was die Welt damals
zu hören bekam, war in der Art noch nie zu hören
gewesen. Auf den Tag 40 Jahre danach veröffentlicht Paul
McCartney sein jüngstes Album «Memory Almost Full».
Wer ein zweites «Sgt. Pepper» erwartet, wird ebenso
enttäuscht werden wie diejenigen, welche bloss ein weiteres
nettes Album mit «Silly Love Songs» befürchtet
haben. Denn «Memory Almost Full» ist ein kreatives
Feuerwerk witziger Ideen, wie es McCartney zuletzt vor vier
Jahrzehnten mit den divergierenden Beatles gezündet hatte.
das Innere nach aussen gekehrt
Seine spannendste Musik hatte er damals geschrieben, die zwischen
dem Hardrock-Song «Helter Skelter», der Ballade
«Hey Jude», dem kammermusikalischen «She’s
Leaving Home» und dem folkigen «Mothers Nature
Son» hin und her pendelte. Dieselbe Spannweite öffnet
sich beim Hören von «Memory Almost Full»:
Bittersüsse an «Eleanor Rigby» erinnernde
Streicher eröffnen «Only Mama Knows», bevor
sie von einer Hardrockgitarre geerdet werden, um am Ende den
Song wieder in höhere Sphären entschwinden zu lassen.
Und in «Mr. Bellamy» spannt McCartney den musikalischen
Bogen mit einem galoppierendem Klavier, Gitarrenseufzern und
einer wirbelnden Klarinette aus dem Jazz-Zeitalter zu den
Ambient-Klängen seines 98er-Album «Rushes».
Es sind dies die genialen Momente auf dem Album.
Als Laienpsychologe ist man versucht zu behaupten, dass sowohl
die bunten letzten Beatles-Alben wie die neue Platte McCartneys
das hörbare Bild aufgewühlter Seelen sind. Vor vierzig
Jahren zerbrachen die Beatles unter teilweise wüsten
Streitereien. Gleichzeitig heirateten zumindest John und Paul
die Frauen ihres Lebens. Die innere Spannung zwischen den
Konflikten bei der Arbeit und dem privaten Glück waren
sicher Grund für einige der besten Songs John Lennons,
George Harrisons und Paul McCartneys. Vier Jahrzehnte später
scheint letzterer dieselben Gefühlen mit umgekehrten
Vorzeichen nochmals zu durchleben: Dem Glück, mit einer
guten Tourband ausverkaufte Tourneen zu bestreiten, drei sehr
guten Popalben und mit «Ecce Cor Meum», einem Oratorium, das eben erst bei den
Brit Awards als bestes Klassikalbum des letzten Jahres ausgezeichnet
wurde, stehen die privaten Katastrophen vom Krebstod seiner
ersten Frau Linda und der noch immer andauernde Scheidungskrieg
mit seiner zweiten Frau Heather Mills gegenüber.
Tod als Ausganspunkt
So erstaunt nicht, dass Paul McCartney «Memory Almost
Full» als sehr persönliches Album beschreibt. In
vielen der Songs setzt er sich ohne dabei sentimental zu werden
mit seiner Jugend und den gemeinsamen Anfängen mit John
Lennon auseinander. In der Rocknummer «Ever Present
Past» hofft er, dass es noch nicht zu spät ist,
um über die viel zu schnell vergangene Zeit nachzudenken.
In der Gänsehaut erzugenden Ballade «You Tell Me»,
lässt sich der greise Erzähler von seiner Partnerin
versichern, dass seine Erinnerungen real sind. Im Ohrwurm
«Vintage Close» beschreibt er, dass man die alten
Kleider ruhig ausziehen könne. Man sollte nicht an der
Vergangenheit festklammern, sondern den Schritt in die Zukunft
wagen. Und dort wartet der Tod. Paul McCartney hat ganz klare
Vorstellungen über seinen Todestag: Er wünscht sich
in «End Of The End», dass die Leute glücklich
sind, seine Songs spielen und sich Anektoden aus seinem Leben
erzählen. Und obwohl er ein gutes Leben hatte, wäre
das Ende der Enden nur der Ausgangspunk zu einer Reise an
einen viel besseren Ort.
In «Feet
In The Clouds» erzählt und Paul, dass er in der
Schule als Träumer den Kopf in den Wolken und ihn
der Lehrer deswegen getadelt hatte. Doch statt stromlinienförmig
zu werden, löste er das Problem auf seine Weise und ging
fortan kopfüber, mit den Füssen in den Wolken. Im
Mittelteil des Songs, welcher den Wechsel symbolisiert, verzerrt
er die Phrase «find it very very hard» dermassen
und multipliziert seine Stimme in einen Chor, dass man unweigerlich
an den Opéra-Comique-Part in der «Bohemian Rhapsody»
von Queen denken muss, allerdings ist McCartneys Instrumentalbegleitung
weniger bombastisch als die von Queen. Seine helle Freude
hätte Freddie Mercury hingegen an der zweiten Bombastnummer
«House Of Wax» gehabt. Immerhin klingt McCartney
mit seinem Ausflug in die 80er-Jahre moderner als die meisten
Retrorockbands, die sich auf frühen 70er-Jahre konzentrieren.
die zurückgewiesene Hälfte
Die Aufnahmen für das Album begannen im Herbst 2003 und
wurden für die Arbeiten mit Nigel Goodrich, der das 2005
erschienene Album «Chaos And Creation In The Backyard»
produziert hatte, unterbrochen, da dieser bloss die Hälfte
der Songs verwenden wollte. Vor einem Jahr war Paul McCartney
mit den anderen ins Studio zurückgekehrt. Er schätzt,
dass noch ungefähr die Hälfte des Materials die
unverändeten Fassungen von 2003 sind. Mutlosigkeit muss
sich der Ex-Beatle nicht vorwerfen lassen, denn er hat für
einmal auch die möglichen peinlichen Momente auf der
Platte stehen lassen. Seine Stimme ist längst nicht mehr
die kräftigste und so wäre in «Nod Your Head»
eine Verdoppelung der Stimme oder ein anderer Sänger
ebenso vorteilhafter gewesen wie ein Kunstpfeifer bei «Dance
Tonight» und «End Of The End». Nachlässigkeiten,
die Paul McCartney vor der Beatles-Anthology und seiner Versöhnung
mit seiner Vergangenheit nie passiert wären. Und so finden
sich auf «Memory Almost Full» einige Songs mit
dem Potenzial für Klassiker, während man bei den
anderen Nigel Goodrichs Vorbehalte zu verstehen beginnt.

Das Album ist ein bewusster Blick zurück in alte Tage, ohne dabei alt zu klingen.
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