Versuch einer Rekonstruktion
14. Dezember 2018
Selbst Paul McCartney konnte die ursprüngliche Version von «Red Rose Speedway» nicht mehr rekonstruieren. Das nun im Rahmen der «Archive Collection» herausgegebene Doppelalbum überzeugt dennoch.
Bewertung: * * * * *


Links zu den folgenden Kapiteln:
Findungsprozess auf der Bühne
die Versionen
die erstmals veröffentlichten Songs
die bis 1990 noch veröffentlichten Songs
Fazit


Bemerkung:
Im Rahmen der «Archive Collection» Wiederveröffentlichung von «Red Rose Speedway» wurde auch das ursprünglich gedachte Doppelalbum herausgegeben. Dieser Artikel behandelt ausschliesslich dieses Doppelalbum. Eine ausführliche Besprechung und Nacherzählung der Entstehungsgeschichte des ursprünglichen Albums finden Sie im Artikel «Red Rose Speedway».


«Red Rose Speedway» erschienen im Mai 1973 und war kommerziell ein Schritt in die richtige Richtung. Das Album konnte sich in allen relevanten Märkten in den Top 15 platzieren. In den USA und Spanien reichte es zur Chartspitze, in England zu Platz 5. Das war weitaus besser als es «Wild Life» Ende 1971 getan hatte. Es war jedoch auch ein Schritt in die Komfortzone, denn ursprünglich war «Red Rose Speedway» als Doppelalbum mit Studio- und Liveaufnahmen und Songs aller Bandmitglieder geplant. Die ursprünglich veröffentlichte Version von «Red Rose Speedway» hinterlässt trotz den ansprechenden Verkaufszahlen einen schalen Beigeschmack, nicht zu letzt bei den Beteiligten, weil Paul McCartney für die Veröffentlichung nur noch auf Songs von ihm setzte, die zwar seine grosse musikalische Bandbreite dokumentierten, aber kein wirkliches Abbild der Band waren.

Findungsprozess auf der Bühne
1972 war für die Wings kein einfaches Jahr: Noch immer steckte Paul McCartney ungerecht viel negative Kritik ein, weil er die Trennung der Beatles öffentlich gemacht hatte. Zudem musste seine im Herbst 1971 gegründete Band Wings noch zu einer Einheit werden, wofür zwei Touren, die Universtitätstour im Frühling und die Europatour im Sommer 1972 unternommen wurden.

Paul entschied sich bewusst dagegen, eine Supergroup mit den besten Musikern, wie es Cream oder Blind Faith gewesen sind, zu gründen. Mit Denny Laine, der von den Moody Blues kam und Henry McCullough, der in Joe Cockers Grease Band und in der Band von «Jesus Christ Supestar» gespielt hatte, sowie Denny Seiwell, ein begnadeter New Yorker Studiomusiker, hatte McCartney sehr gute Musiker in der Band. Die Kritiker stürzten sich denn auch auf die bedauernswerte Linda, die mehr aus Liebe zu Paul als aus dem Wunsch, Musikerin zu sein, in die Band kam und zu Beginn das Klavierspiel lernen musste. So fand der musikalische Findungsprozess im Lauf des Jahres 1972 auf der Bühne statt, bevor die Wings im Herbst 1972 ins Studio gingen, um «Red Rose Speedway» einzuspielen.

Dennoch veröffentlichten die Wings 1792 drei Singles: «Give Ireland Back To The Irish», «Mary Had A Little Lamb» und «Hi, Hi, Hi», die allesamt in den USA und England die Top 30 erreichten, obwohl die BBC die erste und letzte Single boykottierte. Deshalb wäre die Veröffentlichung eines Doppelalbums ein selbstbewusstes und mutiges Zeichen von Paul McCartney und den Wings gewesen, in der Art von: «Seht her, das ist meine neue Band und dies ist unsere Musik. Wenn es euch gefällt, kauft es, und sonst lasst es bleiben.» Das war es aber nicht.

die Versionen
Es ist nicht überliefert, welche Songs auf dem geplanten Doppelalbum, das erstmals Ende 1972 hätte erscheinen sollen, gewesen wären. Selbst Paul McCartney und seinem Team ist es beim Zusammenstellen der Erstveröffentlichung in der «Archive Collection» 2018 nicht mehr gelungen, die ursprüngliche Version zu eruieren. Gesichert ist, dass am 13. Dezember 1972 vier Acetat Pressungen des Doppelalbums angefertigt wurden. Bis Ende 2018 galten diese als Referenz. Eines dieser Testalben war in Besitz von Denny Seiwell, das er Paul und seinem Team für im Rahmen der Archive-Collection-Recherchen zur Verfügung gestellt hat.

Die nun in der «Archive Collection» veröffentlichte neue Version des Doppelalbums unterscheidet sich von Seiwells Testpressung und wird deshalb auch offiziell «Red Rose Speedway: Reconstructed» genannt. Mit dem Untertitel: «A reconstructed version of its originally conceived double album», also eine rekonstruierte Version des ursprünglich konzipierten Doppelalbums. Im Begleitessay der Deluxe Version wird denn auch die Acetatpressung Seiwells als Referenz erwähnt.

Nachfolgende Tabelle zeigt die Veränderungen zwischen Denny Seiwells «Acetat Version» von 1972 und der 2018er-Rekonstruktion:

Acetat 13. Dezember 1972 Doppelalbum 2018
Seite 1:
Big Barn Bed *
My Love *
When The Night *
Single Pigeon *
Seite 1:
Night Out
Get On The Right Thing *
Country Dreamer +
Big Barn Bed *
My Love *
Seite 2:
Tragedy
Mama's Little Girl +
Loup (1st Indian On The Moon)*
I Would Only Smile ^
Seite 2:
Single Pigeon *
When the Night *
Seaside Woman +
I Lie Around +
The Mess (Live at The Hague) +
Seite 3:
Country Dreamer +
Night Out
One More Kiss *
Jazz Street
Seite 3:
Best Friend (Live in Antwerp)
Loup (1st Indian on the Moon) *
Medley: Hold Me Tight / Lazy Dynamite / Hands of Love / Power Cut *
Seite 4:
I Lie Around +
Little Lamb Dragonfly*
Get On The Right Thing*
1882 (live)
The Mess (Live At The Hague)+
Seite 4:
Mama's Little Girl +
I Would Only Smile ^
One More Kiss *
Tragedy
Little Lamb Dragonfly *

Legende:
* erschien auf dem Originalalbum 1973
+ wurde zwischen 1973 und 1990 anderweitig veröffentlicht
^ erschien 1980 auf Denny Laines Album «Japanese Tears»


Es gibt Autoren, die zweifeln die Authentizität von Denny Seiwells Acetat an, weil sich «My Love» darauf befindet. Dennoch ist es, wie mit der «Archive Collection» bewiesen, echt. Das Argument, dass Henry McCulloughs Gitarrensolo von «My Love» erst im Vorfeld der Aufzeichnung des TV Specials «James Paul McCartney» aufgenommen wurde, ist falsch. Paul hatte «My Love» bereits 1969 geschrieben und der Song war bei den 1972er-Touren fast schon in der endgültigen Version im Programm, nur noch nicht aufgenommen. Die Studioversion wurde im Oktober 1972 in den Abbey Road Studios eingespielt.

die erstmals veröffentlichten Songs
Sowohl die Acetat-Version von 1972 als auch die 2018er-Version des ursprünglichen Doppelalbums gefallen und sind besser als das schlussendlich veröffentlichte Album. Dies, weil beide Versionen mehr den Wings als Band entsprechen. «Ich hielt ‹Red Rose Speedway› für ein gutes Doppelalbum und es war mehr als nur ein Schaufenster für die Band», sagte Denny Laine.

1973 paul mcartney wings seaside woman red rose speedway booklet
paul mccartney wings red rose speedway reconstructed booklet 2018 1973
Oben eine Doppelseite aus dem Original-Booklet von 1973 mit «Power Cut» und der Collage zu «Seaside Woman», obwohl der Song gar nicht auf dem Album war. Unten die entsprechende Doppelseite aus dem 2018er-Booklet von «Red Rose Speedway Reconstructed». Der Grössenvergleich täuscht, das Original-Booklet ist 12” gross, das 2018er-Booklet nur 10”.


Das 2018er-Doppelalbum beginnt mit «Night Out», einer Disco-Nummer, die wohl aus einer Jam Session entstand und im Gegensatz zu den Jam-Sessions auf «Wild Life» noch überarbeitet wurde. Paul schreit dabei immer wieder «Night Out». Der eher schrille Song wurde von einem Kritiker als guter Yoko-Ono Song bezeichnet, denn ihre Arbeiten mit der Plastic Ono Band gingen in dieselbe musikalische Richtung. Es scheint, dass Paul nie ganz mit dem Song zufrieden gewesen war, da er ihn zu verschiedenen Zeiten während den 1970er-Jahren überarbeitete.

«Best Friend» ein Rocksong mit ähnlichem Drive wie «Hi, Hi, Hi», bei den Middle-Eight mimt Paul Elvis Presleys Gesang. «Tragedy» ist eine Coverversion einer Ballade von der Band «The Fleetwoods» aus Olympia, Washington von 1961.

Nicht verwendet wurden aus den Sessions: «Jazz Street», die Studio Version von «The Mess» sowie die Studio- und Liveversion von «1882». «Jazz Street» ist eine sechs minütige Jazzimprovisation, hauptsächlich auf dem Klavier und ein Highlight aus den «Red Rose Speedway»-Sessions. «1882» ist ein Bluesrock Song, der vor allem auch live gut zur Geltung gekommen war. Mit dem Weglassen des Reggaes, der Jazzimprovisation und den Bluesrock-Songs wurde dem ursprünglichen Album der rhytmische Zahn gezogen.

die bis 1990 veröffentlichten Songs
Eines der Hauptthemen in Paul McCartneys Werk zwischen 1968 und 1973 war die Flucht von der Stadt aufs Land, beginnend mit «Mother’s Nature Son» auf dem Weissen Album und seinem Album «RAM» von 1971, dem Thema zu Grunde liegt. «Country Dreamer» ist ein weiterer Song zum Thema Stadtflucht. Paul hatte den Song 1970 geschrieben und ein Demo während zu den «RAM»-Sessions mitgebracht, aufgenommen wurde er im September 1972. Denny Laine spielte den Bass, Paul die akustische Gitarre und Henry McCullough die Pedal-Steel Gitarre. Laut Denny Seiwell in Luca Perasis Buch «Recording Sessions 1969-2013» spielte McCullough zum ersten Mal eine Pedal Steel Gitarre.

«Seaside Woman» ist nach «Love Is Strange» auf «Wild Life» der zweite Reggae-Song, den die Wings aufnahmen. Wäre er 1973 auf «Red Rose Speedway» veröffentlicht worden, wäre er noch immer eine musikalische Sensation gewesen, da erst mit Eric Claptons Version von Bob Marleys «I Shot The Sheriff» (1974) Reggae einem Grossteil des westlichen, weissen Pop-Publikums bekannt wurde. Es ist eine doppelt verpasste Chance, denn der Song wurde von Linda geschrieben und hätte ihrer Glaubwürdigkeit gut getan. Man kann jedoch Paul und auch Linda McCartney verstehen, dass sie schlussendlich auf eine Veröffentlichung verzichteten, bei all den wüsten Artikeln, vor allem auch Linda gegenüber. Lindas nachträgliche Einschätzung, dass die «Red Rose Speedway» ein Album mit wenig Selbstvertrauen war, kann man auch auf «Seaside Woman» anwenden. Der Song wurde 1977 unter dem Pseudonym Suzy And The Red Stripes veröffentlicht und posthum auf Lindas Album «Wild Prarie» 1998. Die Version auf «Red Rose Speedway» unterscheidet sich im Solo von den beiden anderen Versionen.

«I Lie Around» ist nochmals ein Song über den Müssiggang auf dem Land. Der Basistrack wurde in New York während den «RAM»-Sessions aufgenommen, jedoch erst im Herbst 1972 überarbeitet und mit Denny Laines Gesang ergänzt. «Wir haben Denny einen von unseren Songs singen lassen. Wir versuchen so, jeden mal drankommen zu lassen, so dass wir eine feste Einheit werden» erzählte Paul in einem Interview. Anstelle auf «Red Rose Speedway» erschien «I Lie Around» auf der B-Seite der Single «Live And Let Die».

paul mccartney 1972 live wings
Denny Laine (links) und Paul McCartney live 1972. Foto aus dem Songbook von «Red Rose Speedway».


«The Mess» ist ein mehraktiger Rocksong mit mehreren Riffs und Rhythmen, der live noch an Intensität gewonnen hat. Es war eine Gelegenheit für Henry McCullough, sein Können zu zeigen und gilt als einer der besten Songs von den Wings. Man versteht, dass Paul McCartney sich zunächst für die Veröffentlichung einer Live-Version entschieden hat.

«I Would Only Smile» ist ein rockige Ballade von Denny Laine, deren Refrain Ohrwurm Qualitäten hat. Für die Version auf «Red Rose Speedway Reconstructed» wurde eine andere Version verwendet, als Denny Laine 1980 auf seinem Album «Japanese Tears» veröffentlicht hat. Sie entspricht der Liveversion von den 1972er-Touren.

«Mama’s Little Girl» ist ein Song von Paul über das Familienleben, den er 1971 erstmals einspielte. Denny Seiwell spielt afrikanische Perkussion. Wer Klarinette spielt, ist nicht überliefert. Die Wings arbeiteten den Song für das TV-Special «James Paul McCartney» aus, ohne ihn dann zu spielen. Weitere Überarbeitung erhielt der Song 1987, als Chris Thomas einige Songs für eine mögliche Verwendung als Single für «All The Best!» remixte. Schliesslich verwendte Paul 1990 den Song als B-Seite von «Put It There»

Verwendung der 1973 weggelassenen Songs:
The Mess (Live At Hague), B-Seite Single My Love, 1973
I Lie Around, B-Seite Single Live And Let Die, 1973
Country Dreamer, B-Seite Single Helen Wheels, 1973
Seaside Woman, Suzy & The Red Stripes, Single 1977
I Would Only Smile, Denny Laine, Album Japanese Tears, 1980
Mama’s Little Girl, B-Seite Single Put It There, 1990

Fazit
Kein Song, der 1972 auf einer Single erschien, war für eine weitere Veröffentlichung auf dem Album gedacht. Das ist eine Inkonsequenz McCartneys, denn die amerikanische Art, Singles aus Alben auszukoppeln, war in Europa Anfang der 1970er-Jahre angekommen. Paul McCartney hielt es aber meistens wie zu Beatleszeiten, dass keine Single auf ein Album kommt. Wobei im Fall von «Red Rose Speedway» «My Love» doch als Vorabsingle aus dem Album ausgekoppelt wurde. Es ist zwar müssig, darüber zu lamentieren, aber zumindest «Hi, Hi, Hi» und dessen B-Seite «C Moon» hätten dem Originalalbum gut getan. Und, wie die zwei verschiedenen Bonus-Audio Discs in der Standard bzw. Deluxe Version der «Archive Collection» zeigen, wären die Songs auch auf dem Doppelalbum kaum Fehl am Platz gewesen.

Es spricht für Paul McCartney und die Ernsthaftigkeit seiner «Archive Collection», dass zumindest eine Version des ursprünglichen Doppelalbums von «Red Rose Speedway» veröffentlicht wurde, denn die Songs waren alle auf Raubpressungen, oft in schlechter Klangqualität, erhältlich. Die Aufnahmen des Doppelalbums wurden 1972 von Paul McCartney produziert, ausser «Little Lamb Dragonfly», das Paul mit Beatles Produzent George Martin während den Aufnahmen zu «Live And Let Die» produzierte. Die digitale Restaurierung, das Abmischen im Multitrackverfahren und die neuerliche Reduktion auf analoge Bänder, um die originale Wärme der Klangfarbe zu erhalten, nahmen 2017/2018 Alex Wharton und Steve Orchad in den Abbey Road Studios vor.

Schlussendlich spielt es keine Rolle, dass nicht die Acetat-Version von Ende 1972, sondern eine neue «Reconstructed»-Version veröffentlicht wurde. Das Doppelalbum von «Red Rose Speedway» wäre auf jeden Fall die bessere Version als das ursrpünglich veröffentliche Album gewesen. Obwohl die Acetat-Version noch die mutigere Variante war als die 2018er-Version. Da in der Deluxe Edition auf der Bonus-Audio Disc alle weiteren Songs aus den «Red Rose Speedway» Sessions, inklusive den Singles von 1972 enthalten sind, kann man sich selber seine eigene Meinung über die richtige Version bilden.



Linda McCartney fotografierte das Cover für «Red Rose Speedway», hier ein weiteres, nicht verwendetes Foto aus der Serie..

 


Tracklist:
Night Out
Get On The Right Thing
Country Dreamer
Big Barn Bed
My Love
Single Pigeon
When The Night
Seaside Woman
I Lie Around
The Mess (Live At The Hague)
Best Friend (Live In Antwerp)
Loup (1st Indian On The Moon)
Medley:
• Hold Me Thight /
• Lazy Dynamite /
• Hands Of Love /
• Power Cut
Mama's Little Girl
I Would Only Smile
One More Kiss
Tragedy
Little Lamb Dragonfly



Das Album ist Teil der Deluxe Edition von «Red Rose Speedway» oder separat als Vinyl Doppelalbum erhältlich.

 

Labels:

Das Label der CD aus der Deluxe Edition der Archive Collection von «Red Rose Speedway» (oben) und das Label des Doppelalbums.


Links:
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Chronologie:
«Wings Over Europe
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