die Busfahrt
Er fiel
mir schon auf, als er am Meierhofplatz in den Bus einsteigen
wollte, wie er seine Pfeife in der linken Tasche seiner weissen
Trainerhose versorgte. Er war gross, hatte graues Haar und
einen Bierbauch. Ich schätzte ihn auf ungefähr sechzig
Jahre. Er lief an meinem Fenster vorbei, auf seiner Brust
war zwar kein Krokodil, aber doch in grün etwas wie Green
oder Öko aufgenäht. Ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit
mehr, da eine junge Frau mit klaren blauen Augen, dunklen
Haaren und einem Herrenhaarschnitt eine Kollegin traf, die
krauses, wuscheliges Haar hatte. Sie sass auf der Bank neben
mir und hatte zwei Instrumentenkoffer dabei. Einen Moment
später lief er an mir vorbei. Seine Hosentaschen hatte
er so vollgestopft, dass sie ausgebeult waren, auf seinem
Gesäss prangte ein Brombeerfleck. Zu seinem weissen Trainer
trug er dunkelrote Golferschuhe. Er setzte sich auf die Bank
hinter dem Buschauffeur.
Bei der
Lehenstrasse stieg eine alte Frau mit Krücken ein, er
überliess ihr seinen Platz und setzte sich schwerfällig
auf den Sessel mir gegenüber. Ich konnte seinen Atem
riechen, er roch nach Tabak, aber nicht nach Zigaretten.
«Aha, Raucher», dachte ich. Dann erinnerte ich
mich, dass ich ihn beim Pfeifeversorgen beobachtet hatte.
Er wandte sich an die Instrumentalistin und fragte sie, was
sie spiele, Vivaldi oder...
«Entschuldigen Sie, wir sind am Reden», sagte
die mit dem Herrenhaarschnitt hochnäsig.
«Ach so, ihr seid am Reden. Hochstehende Gespräche»,
erwiderte er überrascht in einem leicht gereizten, mit
ironischen Farben unterlegten, aber ruhigen Tonfall. Er schnaufte
hörbar aus und schaute aus dem Fenster, was ich auch
tat. Auf einem Balkon eines roten Hauses stand ein Mann, der
nur mit Unterhosen bekleidet war und wartete. Ich schaute
mein Gegenüber an, dann wieder zum Fenster hinaus. Unter
der Bananenbrücke floss der Verkehr dahin. Ich wusste
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Irgendwie wollte ich
lachen, getraute mich aber nicht, hatte nur das Gefühl
etwas tun zu müssen, aber ausser mir blöd vorzukommen
tat ich nichts. Er schaute mich an, ich schaute zurück
und zuckte mit den Schultern. Die Angelegenheit war für
mich erledigt für ihn bedeutete mein Schulterzucken
das Startsignal, sich seinen Frust von der Seele zu reden:
«Interessante Gespräche, wichtige Gespräche...»
Meine Fassade ihm zugewandt, versetzte ich mich in die Lage
der Instrumentalistin.
«Warten Sie einen Moment», oder «Violine»
hätte ich ihm geantwortet.
«Schon gestern, in der Beiz», fuhr er fort, «sind
zwei Frauen gewesen und haben die ganze Zeit gequatscht.»
Er sprach mit hoher Stimme und äffte das Gespräch
nach.
«Die taten das nur, um mich zu ärgern! Heute auch
wieder, aber zwei Männer! Zuerst rutschte ich einen Tisch
weiter, irgendwann reklamierte ich dann... Ich will nur in
Ruhe Mittag essen, das ist doch nicht zuviel verlangt. Wenn
das nicht geht, wechsle ich das Restaurant... Der Wirt machte
aber nur so.» Er ahmte mit den Händen die Geste
des Wirtes nach, beugte sich etwas vor und sagte:
«So wird man vom Opfer zum Täter, dabei hat man
nur reklamiert!» Ich gab einen nichtssagenden Laut von
mir und war froh, dass der Bus an der Lettenstrasse hielt.
Ein grossgewachsener älterer Herr mit blauer Mütze
stieg ein und blieb stehen.
«So rutschen Sie doch hinüber, damit dieser Herr
sitzen kann!» giftete er.
«Aber ich kann nicht», piepste die Instrumentalistin.
«So machen Sie wenigstens Platz, dass er nach hinten
ans Fenster kann!» Sie drehte sich zur Seite und der
Herr setzte sich. Mit einem Grinsen auf den Stockzähnen
quittierte die Szene.
«Die Oberklasse... Wie dieser Herr mit der blauen Kappe»,
sprach er, während er die Instrumentalistin schräg
anblickte.
«Die Oberklasse. Wie am Mittwochmorgen im Limmatspital...
Auf die Neun war ich für drei Tage bestellt. Um zehn
kam der erste, der sich um mich kümmerte. Um vier Uhr
(am Donnerstag) verliess ich das Spital wieder. Ich war schon
um halb drei reisefertig, blieb aber noch. Um halb zehn hatte
ich Vollnarkose gehabt, und wenn ich zusammenklappte, wäre
ich selber schuld. Zuvor kam mein Arzt. Zusammengeschissen
hat er mich, weil ich eine halbe Zigarette geraucht hatte.
Eine halbe Zigarette! Anstatt dass er sich erkundigt hätte,
wie die Operation verlaufen sei.» Er zeigte mir Narbe
auf der linken Hand.
«Nichtrauchen ist modern, nichts geht übers Nichtrauchen!»
Er warf einen verächtlichen Blick auf die mit dem Herrenhaarschnitt.
«Das einzig Positive in eineinhalb Tagen war die blonde
jugoslawische Krankenschwester eine schöne Frau
die mir ungebeten einen Liter Rhäzünser aufs
Zimmer brachte. Ganz anders das Universitätsspital. Dort
wurde ich gut behandelt!»
Der Bus fuhr an der griechisch-orthodoxen Kirche, deren Turm
an den Reaktor eines Atomkraftwerkes erinnert und am Letten
vorbei.
«Die werde ich vermissen das Restaurant in Thalwil.
Setzte mich der Wirt einfach vor die Türe. Ich
trinke viel, fünf bis sieben Liter pro Tag. Immer Wasser,
vielleicht mal ein Bier, wenns drin liegt.» Ich schaute
auf seinen Bauch und dachte: «wenns drin liegt».
«Er setzte mich vor die Tür, nachts um zwei. An
den Bahnhof hat er mich gesetzt, mit einer alten Lampe, die
nicht ging. Der Wartesaal war geschlossen, öffnet erst
um sechs, nach dem ersten Zug; dabei liess ich immer vierzig
bis achtzig Franken bei ihm liegen, und Trinkgeld gab ich
auch immer! Sie werden mich vermissen, wie ich sie auch. Da
waren ein Deutscher und eine Schweizerin hübsche
Frau die bedienten ganz gut. Eine Portugiesin
eine sehr schöne Frau leider verheiratet. Nicht
mit einem Schweizer - mit einem Portugiesen! Sie haben ein
kleines Mädchen. Die Familie ist das Wichtigste.»
Bewunderung und leichte Wehmut lagen in seiner Stimme.
«Ein Tamile war noch dort netter Kerl. Ja das
waren alle, es fehlte nur eine Negerin, dann wäre die
Welt komplett gewesen». Ich schmunzelte. Central, ich
musste aussteigen. Er stand vor mir auf und wünschte
dem Chauffeur und mir einen guten Tag. Auch die beiden Frauen
mussten aussteigen, benutzten aber eine der hinteren Türen.
Er, der im Bus schwerfällig lief, ging leicht und recht
schnell über die Strasse Richtung Limmatquai. Sicher
wird er irgendwem von den beiden unfreundlichen jungen Frauen
erzählen. Ich frage mich, ob er auch den jungen Herrn
erwähnen wird, der ihm zugehört hat, oder ob er
nur über die Jugend lästern wird. |
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