Leonards Schuh

Tülip hält eine alte Ausgabe des Rolling Stone in der Hand, unschlüssig, ob er sie auch entsorgen soll, wie alle anderen, die er Jahre lang auf dem Estrich gelagert hat. Auf dem Titel ist dieses Foto von Leonard, das ihn im Arrangement eines Ukiyo-e Holzschnittes an einem Strand zeigt: Über ihm der blaue Himmel, unter ihm der goldene Sand, zur Linken der graublaue pazifische Ozean, auf der Höhe seines Ellenbogens bricht sich das Wasser. Hinter seiner Schulter verleiht die unscharfe weissgraue Kulisse einer Vergnügungsmeile dem Bild Tiefe. Kaum breiter als eine feine Linie trennen bewaldete Hügel den Himmel von der Erde. Statt des heiligen, schneebedeckten Gipfels des Fuji, steht neben Leonards rechter Schulter ein dunkles Riesenrad am Strand. Leonard, dieser grosse, alte Dichter unter den Songwritern, trägt einen Anzug, so kleidsam und schwarz wie seine Depressionen, den er mit einem weissen Hemd konterkariert. Tülip erinnert sich, dass er damals von einem Berg hinabgestiegen war. Die fünf Jahre vor dem Foto hatte Leonard im Zen-Kloster Mount Baldy gelebt, um seinem Meister und Freund Roshi zu dienen, der Kunst abzuschwören und dem Lärm des städtischen Molochs zu entfliehen. Um Ruhe zu finden vor der Boogie Street, die er auf dem damals eben veröffentlichten Album besingt. Tülip schüttelt lächelnd den Kopf: Der Kunst abzuschwören, als ob es Leonard nicht besser wissen müsste…

Über all die Jahre übt das Titelbild noch immer die gleiche Faszination auf Tülip aus. Das Foto dokumentierte die Rückkehr des Silberschopfes mit der goldenen Stimme, der zehn neue Lieder im Gepäck hatte. Bei der neuerlichen Bildbetrachtung versucht Tülip die Jahre seither auszublenden, Leonards weiteren Alben, das Konzert im Hallenstadion und das Wissen um seine Lebensgeschichte. Auf dem Bild hält Leonard in der rechten Hand, die er auf dem Knie abstützt, seine goldene Sonnenbrille. In der linken Hand hält er einen schwarzen Strandschuh, der den rechten Fuss verdeckt. Leonard ist barfuss. Immer wieder schaut sich Tülip die Füsse an. Was ist mit Leonards anderem Schuh geschehen? Warum hält er nur einen in der Hand? War der Fotograf zu schnell gewesen und Leonard konnte nur einen mitnehmen? Oder hatte er ihn irgendwo am Strand vergessen? Wenn Leonard aus dem Foto sprechen könnte, Tülip würde ihn nach dem Verbleib des anderen Schuhs fragen und sich erkundigen, was Leonard damit sagen möchte. War er noch immer mit einem Fuss im Kloster? War er dort in himmlische Gefilde aufgebrochen und nur noch mit einem Fuss in dieser schnöden Welt, mit ihrem Lärm und dem Schmutz der Boogie Street? Tülip schaut Leonard an: Gut sieht er aus, beinahe schon unverschämt. Die Jahre der Absenz scheinen wie ein Jungbrunnen auf ihn gewirkt zu haben.

Tülip legt das Heft mit Leonards Foto auf die restlichen Rolling Stone Ausgaben des Jahrgangs, bindet diese zusammen und trägt das Bündel nunmehr als Altpapier zur Strasse hinab. Nun kauert Leonard auf dem Strand am Strassenrand unter dem Stachelgebüsch und schaut Tülip unverändert aus dem Foto an und sieht seiner Entsorgung entgegen. Zurück in seiner Stube legt Tülip eine CD auf und lässt Leonard seine poetischen Lieder von Liebe und Hass singen. Während Tülip Leonards nuschelnder Bassstimme lauscht, sinniert er über dessen fehlenden Schuh. Schlussendlich geht Tülip an die Strasse und holt das Bündel mit der Ausgabe mit Leondards auf dem Titelbild wieder hoch. Das über zwölfjährige Magazin, dessen Titel es ziert, behält er, die anderen Ausgaben bindet Tülip erneut zusammen und trägt sie an den Strassenrand zurüch.

Wieder in seiner Wohnung setzt sich Tülip auf sein Sofa. Während er Leonards verträumt melancholischen Liedern lauscht, studiert er das Foto, entschlossen, das Geheimnis des fehlenden Schuhs zu lösen. Als ob ihn alles nichts anginge, kauert Leonard unverändert am Strand , über ihm der blaue Himmel, neben ihm der blaugraue pazifische Ozean, unter ihm der goldene Strand. Tülip fallen die Altersflecken auf Leonards Händen und die silberne Uhr mit weissem Zifferblatt am linken Arm auf. Je länger Tülip das Foto betrachtet, desto mehr scheint es ihm, dass nicht er es ist, der neugierig auf die abgebildete Person schaut, sondern dass es Leonard ist, der ihn vom Titelbild aus betrachtet. Sein Blick ist düster, melancholisch und trotz der Ruhe, den das Bild ausstrahlt, ist er durchdringend. Leonard hat trotz eines angedeuteten Lächelns seine Stirn in Falten gelegt. Ganz so, als ob er sich fragt, wer ihn da auf dem Titelbild anstarrt. Wer das sein mag, der ihn in seiner Stube taxiert. Und ob er beide Schuhe anhat oder aber barfuss ist?

Tülip weicht Leonards forschendem Blick aus und entdeckt des Rätsels Lösung: Leonards zweiter Schuh befindet sich auf dem Foto. Er war schon all die Jahre über da. Leonard trägt ihn am rechten Fuss und wird beinahe ganz durch den anderen Schuh, den Leonard in der Hand hält verdeckt. Tülip lächelt Leonard zufrieden an und schaut sich das Foto ein letztes Mal an. Dieses Rätsel hat er gelöst, dafür hält ihm das Bild ein weiteres bereit: im Sand sind keine Fussspuren zu sehen und Leonard sinkt auch nicht darin ein. So, als ob er noch immer ein wenig der Welt entrückt im Kloster auf Mount Baldy ist. •


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Leonards Schuh –2014  

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