Raggenbass

Raggenbass sass an diesem trüben Wintermorgen missmutig im Bus. Er war unterwegs zur Arbeit. Normalerweise fuhr er mit dem Auto hin, doch seine Frau Elsi war mit den Kindern im Bündnerland in den Ferien. Da sie das Auto nötiger hatte als er, war es ihm selbstverständlich vorgekommen, es ihr zu überlassen. Er hatte zwar noch einen vor sich hinrostenden Golf zu Hause, doch genierte sich Raggenbass, in ihm herumzufahren. Während Elsi wohl vergnügt an der Sonne beim Eislaufen oder Schlitteln war, sass er unter der Dauerhochnebeldecke und war auf dem Weg ins Büro, wo er einen besonders hinterhältigen Raubüberfall auf eine Seniorin aufzuklären hatte. Griesgrämig schaute Raggenbass zum Fenster auf die grauen, mit Grafitties verschmierten Fassaden hinaus. Die Aussicht auf einen weiteren frustrierenden Arbeitstag hellte seine Stimmung nicht gerade auf. Er war berüchtigt, sein bassig kehliges «Stadtpolizei Zürich, Raggenbass», das er jeweils ins Telefon bellte, liess noch jeden Anrufer zum verschüchterten Schuljungen werden. Raggenbass war sich bewusst, dass er als Polizist der Freund und Helfer der Bevölkerung war, schliesslich wusste er genau, was gut und böse war. Und da war es nur recht, wenn man ihm, einem Stellvertreter der Staatsgewalt, mit gebührenden Respekt sein Anliegen vorbrachte, er war ja schliesslich nicht Vertreter irgend eines Staates, sondern der Stadt Zürich. Fürwahr, mit seiner tiefen Stimme, seinem noch immer dunklen Bart, seinem strengen Blick und seiner Statur, die einer Birne ähnelte, war Raggenbass ein Mann mit autoritärer Ausstrahlung. Sinister starrte er zum Fenster hinaus. Vor ein paar Jahren hatte er im Tages Anzeiger gelesen, dass die Zürcher, kaum sässen sie in einem Tram oder Bus, von Missmut befallen würden. Raggenbass sah aus, als wollte er den Zeitungsartikel in alle Ewigkeit unwidersprochen lassen. Nichts, so schien es, konnte ihn aufheitern.

Plötzlich war sie dagesessen. Raggenbass konnte sich nicht erinnern, sie vorhin gesehen zu haben, er hätte es beschworen, der Platz ihm schräg gegenüber wäre noch frei gewesen. Auf einmal war es nicht mehr Montagmorgen. Wohl war es ein Trolleybus, der in Richtung Innenstadt unterwegs war, doch das Reiseziel war nicht mehr die Polizeikaserne. Raggenbass vergass den Überfall auf eine Seniorin. Die junge Frau zog ihn in seinen Bann. Er schätzte sie um die dreissig. Wobei ihn seine Polizeierfahrung lehrte, dass es Zwanzigjährige gab, die wie fünfunddreissig aussahen und umgekehrt. Aber diese Frau sah aus, wie es sich für ihr Alter gehörte. Warum er sich für sie interessierte, wusste Raggenbass nicht. Für einen Augenblick wog er das Für und Wider ab, ihr zu folgen um zu erfahren, wo sie arbeitete und dafür etwas später zur Arbeit zu kommen. Schlussendlich entschied er sich gegen eine Verfolgung. Ihr Haar war blond und lang, die Farbe echt. Über ihren zarten Ohren, die vor Kälte dunkelrot geworden waren, wellte es sich leicht. In ihren Ohrläppchen steckten kleine Ohrringe in die Edelsteine eingearbeitet waren. Vor seinem geistigen Auge sah sich Raggenbass in einem Gartenrestaurant, sie sass ihm gegenüber. In ihren Ohrenringen blitzte die warme Sommersonne auf. Er schaute ihr in die glasklaren Augen und war hin und weg – wie damals an diesem grauen Wintermorgen im Bus. Raggenbass blickte durch seine Brille in ihre Augen, sie waren nicht nur in seiner Phantasie glasklar. Ein feines Blitzen ihn ihren Augen verriet ihm, dass sie Kontaktlinsen trug. Er konnte es nicht glauben, was mit ihm geschah. Eigentlich wollte er sich nur am Anblick einer schönen Frau erfreuen und schon gingen seine Gedanken auf Wanderschaft.

Raggenbass schaute zum Fenster hinaus. Draussen schien es nicht mehr so kalt zu sein. Woran ihn nur ihre Nase erinnerte, fragte er sich. Tief in seinem Ohr spielte eine Melodie, die von weit her kam, die er vor Jahren einmal gemocht hatte. Verstohlen blickte er noch einmal die Frau an, die er Angie zu nennen beschloss. Sie las in einer Pendlerzeitung und schien ihn nicht zu bemerken. Auf der Titelseite der Zeitung war Michael Jackson abgebildet. Raggenbass’ Blick wanderte von Angies Gesicht auf das Jackson-Foto und wieder zurück. Irgendwie erinnerte ihn Angies schmale Nase an diejenige Michael Jacksons, oder vielmehr an das, was von ihr noch übrig geblieben war. Und nun wusste er auch wieder, was das für eine Melodie war, die in seinem Kopf herumspukte: Es war das Lied, das gleich nach Say Say Say kam, nur konnte er sich nicht mehr an dessen Titel erinnern. Raggenbass hatte damals die Platte von Paul McCartney gekauft, weil darauf das mit Michael Jackson gesungene Duett war. Raggenbass hielt nicht viel von Popmusik, aber Say Say Say war der Song seines Lebens. Der war am dreissigsten Geburtstag seines damaligen Bürokollegen vor- und rückwärts gespielt worden, an jener Fete, an der Raggenbass seine Elsi zum ersten Mal getroffen hatte. Ob es die Erinnerung an die Fete oder die Tatsache, dass Elsi mit den Kindern in den Sportferien war, konnte und wollte er sich nicht erklären. Schliesslich sah er sich in einer Diskothek zu Say Say Say tanzen und ihm gegenüber liess Angie graziös ihren Körper kreisen. Sie lächelte ihn an und sagte ihm, dass dieses Lied ihr ganz persönliches Lieblingslied sei. Dass es die selben Worte waren, die Elsi vor bald zwanzig Jahren gebraucht hatte, bemerkte Raggenbass nicht, vielmehr überlegte er sich, ob er korrekt gekleidet war und ob sein unauffälliger Kleidungsstil Angie gefiel.

Die Lautsprecherdurchsage der Leitstelle, die über eine Kollision in Schwamendingen informierte, holte ihn wieder in den Bus zurück. Doch Raggenbass nahm sie gar nicht wahr, denn in seinem Kopf schwirrte noch immer diese Melodie herum. Eigentlich wollte Raggenbass darüber brüten wie der Song nun hiess, doch hatte er das Gefühl, etwas an Angie übersehen zu haben; etwas, was er eben in seinem Discotagtraum auch gesehen hatte. Aber er war darin zu stark mit sich beschäftigt gewesen, als dass er sich noch hätte daran erinnern können. Noch so gern schaute Raggenbass Angie nochmals an. Er fand sie hinreissend, wie sie die Zeitung las. Er musterte ihr Gesicht. Anerkennend stellte er fest, dass sie auf ihren schmalen Lippen einen dezenten Lippenstift aufgetragen hatte, der gut zu ihrem blassen Teint mit Sommersprossen passte. Seit sich Raggenbass das Rauchen abgewöhnt hatte, nahm er wieder die Gerüche der Umwelt wahr. Er glaubte Angies Parfüm zu riechen. Es war kein Modeparfüm, das undefinierbar nach einer Mischung aus WC-Reiniger und Duschmittel roch; Raggenbass vermutete, dass es etwas wie Kölnisch Wasser war. Langsam senkte er seinen Blick über ihre zu kurze dunkelblaue Daunenjacke und er fragte sich, wo Angie wohl arbeitete. Er schaute auf ihre feingliedrigen Hände mit den zartrosa lackierten Fingernägeln. Einen Hinweis auf die berufliche Tätigkeit konnte er keinen finden. Er tippte auf Arztgehilfin oder Verkäuferin in einem Kosmetikgeschäft.
Doch das war es nicht gewesen, was ihn irritiert hatte und in ihm verfrühte Frühlingsgefühle auslösen liess. Er liess seinen Blick weiter über sein in die Lektüre vertieftes Gegenüber schweifen. Langsam näherte er sich Körperregionen, die Raggenbass nicht ohne zu erröten anschauen konnte. Angie trug eine anthrazitfarbene, figurbetonende Hose, deren Beine in schweren schwarzen Stiefeln verschwanden. Angie war kein dominanter Mensch, da war sich Raggenbass sicher. Vielmehr war sie ein armes Geschöpf, das jedem Modetrend nacheifern musste. Und die Mode schrieb den Frauen schwarze Stiefel vor. Unweigerlich dachte Raggenbass wieder an den Raubüberfall: Das einzige was die Seniorin vom Täter gesehen hatte, waren schwarze Stiefel gewesen. Und dass es ein Mann gewesen war. Ein Türke oder Jugoslawe, hatte sie noch zu Protokoll gegeben. Raggenbass war erleichtert über die Tatsache, dass Angie nicht ins Täterprofil passte, obwohl sie schwarze Stiefel trug. Doch so lange sie ihm gegenüber sass, wollte er nicht an die Arbeit denken. Schleunigst liess er seinen Blick ihrem wohlgeformten Schenkel hochgleiten, um am Auslöser seiner Verwirrung hängen zu bleiben. Raggenbass glaubte zu wissen, dass die Damenhosen in letzter Zeit so geschnitten waren, dass man, ob man wollte oder nicht, bei einer sitzenden Frau einen Blick auf ihren Slip und auf mehr oder weniger nackte Haut erhaschen konnte. Verstohlen schaute Raggenbass in ihr Gesicht, doch Angie war weiterhin in ihre Lektüre vertieft. Bevor er zum Fenster hinausschaute, warf er noch einen heimlichen Blick auf das wenige weisse Stückchen Haut, das zu ihrem schwarzen mit Spitzen verzierten Slip kontrastierte. Beides war zwischen der grauen Hose und dem schwarzen Rollkragenwollpullover, der unter der zu kurzen dunkelblauen Daunenjacke hervorkam, zu sehen.

Raggenbass schaute zum Fenster hinaus. Der Bus kam gut vorwärts, während sich auf der anderen Spur die Fahrzeuge stauten, die er nicht mehr wahr nahm. Er war mit Angie alleine in der Stube, sie las die Zeitung. Sie trug diese graue Hose, die sie im Bus getragen hatte, und ein dunkelblaues Shirt. Als er ein Stück ihres schwarzen Slips auf ihrer weissen Haut hevorblitzen sah, ging er auf sie zu und küsste sie auf die Stirn. Raggenbass schielte auf Angie. Nein, ihre Brustgrösse liess sich der Daunenjacke wegen nicht abschätzen. Er liess seinen Blick über die Limmat und die Stadt in die Ferne schweifen. Angie kniete vor ihm auf dem Bett, sie trug ausser ihrem Slip nichts mehr ausser einer fein geschmiedete Kette, an der ein goldenes Kreuz zwischen ihren Brüsten hing. Sie küssten sich und er zog ihr den Slip aus. Sie sanken nieder und er legte sich auf sie. Ob es zu viel Arbeit für einen Montagmorgen war oder einfach die Tatsache, dass er in dieser Position nur noch Angies Gesicht, nicht aber ihren perfekten Körper sah, kam ihm irrelevant vor, auf jeden Fall vollzog er in Gedanken einen Stellungswechsel, so dass er unten lag. Hinter Raggenbass hustete jemand so fürchterlich, dass er sich wieder im winterlichen Zürich auf dem Weg zur Arbeit befand. Hoffentlich war übers Wochenende keiner vom Team krank geworden. Raggenbass konnte es sich nicht leisten, mit reduziertem Personalbestand zu arbeiten. Zuviel Arbeit stand an.
Auf einmal fiel es ihm wieder ein, wie der Song nach Say Say Say geheissen hatte: The Other Me. Obwohl er kein Englisch verstand, wusste Raggenbass, dass dies das andere Ich bedeutete. The Other Me hatte ihm immer gut gefallen, denn die Vorstellung eines anderen Ichs faszinierte ihn. Noch waren sie nicht beim Central angelangt, wo er aufs Tram wechseln musste. Raggenbass fragte sich, was sein anderes Ich wohl tun würde. Gedankenverloren schaute er Angie an, welche die Zeitung zusammenlegte und unauffällig zwischen sich und ihren Nachbar schob. Sein anderes Ich würde sie nun ansprechen und zu einer Tasse Kaffee einladen, war sich Raggenbass sicher. Er aber ärgerte sich darüber, dass sie die Zeitung nicht wieder in den Dispenser zurücklegen sondern auf dem Sitz liegen lassen würde. Der Bus bog ins Neumühlequai ein. In welche Richtung Angie wohl gehen würde und ob er ihr nicht doch folgen sollte, fragte er sich. Sie lächelte ihn an und stand auf. Obwohl er sich wie ein Weltmeister anstrengte, verzogen sich seine Mundwinkel kein bisschen.

Angies Lächeln liess ihn auf einer rosa Wolke entschweben. Vergessen waren der Hochnebel und der kalte Wintertag. Elsi und die Kinder existierten nicht mehr. Er hatte nur Angies lächelndes Gesicht vor sich. Wie lange er in der Erinnerung schwelgte, wusste Raggenbass nicht. Er fühlte sich auf einmal beobachtet. Er schaute sich um und stellte fest, dass er sich in der Strassenbahn befand. Da er nur eine Station fahren musste, hatte er sich nicht um einen Sitzplatz bemüht. Aber wer beobachtete ihn? Und warum? Raggenbass setzte eine ernste Miene auf und liess seinen harten Polizistenblick durch den Tramwagen schweifen. Die meisten Leute lasen in einer Zeitung oder blickten stumm vor sich hin. Einige schauten auch aufs Limmatquai und die grüngrau dahinfliessende Limmat. Enttäuscht stellte Raggenbass fest, dass Angie nicht im Tram war. Es kamen nur zwei Leute in Frage: Da wäre der Schuljunge, der ihn wohl wegen seines Bierbauchs unter dem blauen Regenmantel anstarrte. Der Junge konnte es nicht sein, da war sich Raggenbass sicher. Also kam nur der junge Herr mit dem Ohrring in Frage. Er war es. Raggenbass war überzeugt davon. Wenn nur schon das Tram über der Kreuzung wäre, aber seine Kollegen von der Verkehrsabteilung wussten nichts von seiner Not und liessen stattdessen den Verkehr zirkulieren, obwohl eigentlich das Tram Vorfahrt hätte. Raggenbass wurde nicht gern beobachtet. Er stand nicht gerne im Mittelpunkt. Warum starrte ihn der andere bloss an? Wenn das Tram endlich fahren würde, so schaute er sicher anderswo hin, dachte Raggenbass. Endlich setzte sich das Gefährt in Bewegung. Doch noch immer fühlte er sich beobachtet. Wie unangenehm ihm das war! Was konnte er dagegen tun? Die Schweiz war ein freies Land, da durfte jeder anstarren wen er mochte. Da war es sinnlos, den Gaffer anzuschnauzen und zu verlangen, dass dieser gefälligst, wie jeder andere auch, zum Fenster hinaus schaue. Was konnte er tun? Weil ihm nichts anderes einfiel, schaute Raggenbass zurück. Der andere trug einen schwarzen Ledermantel. Er hatte einen zierlichen Körper und machte alles in allem einen ziemlich geleckten Eindruck. Raggenbass blickte den anderen streng an, in der Hoffnung, dass er endlich wegschauen würde. Stattdessen erdreistete sich dieser und lächelte ihn auch noch an.

Noch vor wenigen Augenblicken war Raggenbass in das wunderschöne Lächeln Angies versunken gewesen. Das hätte für den ganzen Tag und darüber hinaus gereicht. Und auch wenn sein Gegenüber eine alte Frau gewesen wäre, die ihn angelächelt hätte, so hätte er sich darüber gefreut. Warum lächelte der Lackaffe ihn bloss an? Was für eine bizarre Belustigung, unbescholtene Bürger am Montagmorgen anzustarren! Raggenbass wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Er stellte fest, dass die Strassenbahn noch immer näher beim Central als bei der Rudolf Brun Brücke, der nächsten Haltestelle, war. Raggenbass freute sich, den Gaffer ausgetrickst zu haben indem er ihm den Rücken zuwandte. Weit gefehlt – noch immer fühlte er sich beobachtet. Als Polizist wusste er, wann er beobachtet wurde und wann nicht. Raggenbass wurde langsam wütend. Er spürte, wie die Blicke auf seinem Rücken umherwanderten. Er schluckte leer. Nun spürte er die Blicke auf seinem Hintern verharren. Sie brannten sich beinahe ein. Wollte der etwas von ihm? Raggenbass drehte sich wieder um. Der Lackaffe lächelte noch immer. Hatte er ihm noch zugeblinzelt? Raggenbass schaute demonstrativ an ihm vorbei.

Das Tram verlangsamte die Fahrt. Raggenbass drehte sich ab und begab sich zur Türe vor ihm. Und wenn das nun ein Homosexueller wäre, fragte sich er sich erschrocken. Er war sich sicher, dass der Typ schwul war und ihn anschaute. Darum hatte er auch dieses Lächeln auf den Lippen. Es war kein schönes Lächeln wie bei Angie gewesen, es war ein schmutziges Grinsen. Raggenbass fühlte sich geekelt. Er stieg aus und musste warten, da die Ampel rot war. Er war sich sicher, dass ihn der Gaffer weiterhin anstarrte. Als die Strassenbahn abgefahren war, überquerte er die Strasse und ging über die Rudolf Brun Brücke. Glücklicherweise war der junge Mann im Tram geblieben. Der hatte keine Manieren, empörte sich Raggenbass. Man starrte nicht einfach Leute an. Raggenbass war sich sicher, dass der Typ etwas von ihm gewollt hatte. Und wenn er sich dabei unanständige Sachen gedacht hatte? Wahrscheinlich hatte er sich ausgemalt, was er und Raggenbass zusammen anstellen würden. Raggenbass fröstelte es bei dem Gedanken und er war froh, sich wieder mit der überfallenen Rentnerin beschäftigen zu dürfen. Nach der Brücke überquerte er den Zebrastreifen und ging Rampe zur Uraniawache hoch. Angie hatte er bereits vergessen. Stattdessen war er froh, dass das Gelände mit Kameras überwacht wurde. Vor noch nicht allzu langer Zeit war die Treppe zur Rampe hoch ein beliebter Treffpunkt für Homosexuelle gewesen. Die Kameras vermittelten Raggenbass ein Gefühl von Sicherheit, den seit ihrer Installation treffen sich die paarungsbedürftigen Männerfreunde an anderen Orten. Beispielsweise in der Herrentoilette des Globus-Warenhaus, wie die lokale Presse erst kürzlich genüsslich berichtet hatte, nachdem das Kaufhaus einem Homosexuellen Ladenverbot gegeben hatte, weil dieser die Toiletten mit seinem Schlafzimmer verwechselt hatte. Sollten die doch ihre Neigung ausleben wie jeder normale Bürger auch, dachte Raggenbass verärgert. Noch einmal bestätigte er sich in Gedanken, dass man sich nicht in aller Öffentlichkeit unanständige Dinge mit seinem Gegenüber vorstellte. Der Gaffer wusste nicht, was sich gehörte. Er, Alois Raggenbass, würde nie schmutzige Dinge über sein Gegenüber denken!

Doch das Thema schien Raggenbass nicht mehr loszulassen. Kaum war im Innern des Amtshauses, begegnete ihm Inspektor Steger, ein bekennender Homo. Raggenbass grüsste Steger freundlich, denn dieser war seiner Ansicht nach in Ordnung. Der Inspektor hatte für diejenigen, die es interessierte, sein Coming out gegeben und damit war die ganze Angelegenheit erledigt gewesen. Denn verbunden mit seinem Geständnis hatte Steger die ganze Abteilung an ein Konzert des schwulen Männerchors Schmaz eingeladen gehabt, das Raggenbass so gut gefallen hatte, dass er sich im Anschluss eine CD des Chores gekauft hatte.
Ob es die hervorbrechende Sonne oder an den Erfolgen der Ermittler lag, interessierte Raggenbass eine Stunde später nicht, als sich seine Laune zu bessern begann. Eigentlich hatte der Tag doch gut begonnen: Jemand hatte ihn angelächelt, stellte er auf dem Weg zur Cafeteria fest. Elsi war kein Morgenmensch. Irgendwie, so gestand sich Raggenbass auf dem Gang in die Kantine ein, schmeichelte es ihm, dass ihn ein Homosexueller unanständig angeguckt hatte. Ausgerechnet ihn, einen dicken Glatzkopf über seiner Lebensmitte. Er trank einen Schluck Kaffee und dann war sie wieder da: die Melodie. Doch es war nun Raggenbass, der The Other Me sang.

 


 
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