Razzia
«Guten
Morgen allerseits, dies ist die letzte Lagebesprechung vor
dem Einsatz», begrüsste Raggenbass an einem kalten
Herbstmorgen sein Team. «Unser Objekt wurde im Volkshaus
gesichtet. Lucien Navarre hat heute seinen eigenen Stand.
Spelterini hat sein Hotel verlassen und wird in etwa zehn
Minuten im Volkshaus erwartet. Das heisst, wir machen uns
auf den Weg dorthin. Miraget wird als erster rein gehen.»
«Ich? Kommt gar nicht in Frage.»
«Es gibt keine Diskussion darüber. Du kennst dich
in der Szene aus.»
«Ich kann für Jahre an keine Börse mehr gehen,
wenn ruchbar wird, dass ich als Spitzel gearbeitet habe. Meine
ganze Sammlung wird dahin vegetieren!», protestierte
Miraget. Doch vergebens.
«Du hast schon Schallplatten gesammelt, als du Polizist
gewesen bist. Die Händler, welche dich kennen, wissen
das. Wir machen ja keine Razzia gegen unsere braven Händler,
die allenfalls Raubpressungen vertreiben.»
«MP3 sei dank, das lohnt sich heute nicht mehr»,
meinte Miraget. «Die Aufnahme des Rolling Stones Konzert
im Hallenstadion von 1969 ist heute einfacher im Internet
denn an einer Schallplattenbörse zu finden.»
«Na also. Alles gar kein Problem für dich»,
meinte Raggenbass. «Ich erwarte von dir auch nicht mehr,
als dass du rein gehst, Spelterini beobachtest und uns per
Handy mitteilst, wann wir mit der Razzia beginnen können.
Als Privater darfst du sowieso nicht bei einer Polizeiaktion
teilnehmen.»
«RocknRoll baby, das wird heiter»,
sprach Miraget.
«Gehen wir nur gegen Navarres Stand vor?», erkundigte
sich Inspektor Steger.
«Im Prinzip schon. Wenn ihr aber an einem Stand jemanden
eine Straftat verüben sieht, dann schlagt ihr auch zu.
Aber erst, wenn wir Spelterini haben! Und vergesst nicht:
Einen Joint zu rauchen ist legal, bloss der Handel Marihuana
ist strafbar. Noch Fragen?», schloss Raggenbass seine
Ausführungen.
«Ja!», sagte Miraget bestimmt, «gibst du
mir sechs Franken?»
Verdattert schaute Raggenbass seinen ehemaligen Mitarbeiter
an.
«Der Eintritt ins Volkshaus kostet sechs Franken. Ich
zahl doch nicht dafür, damit die Stapo ihre Razzia
durchführen kann. Bei aller Sympathie die ich für
diesen Verein hege.»
«Dafür auf Kosten der Steuerzahler deine Schallplattensammlung
aufbessern...», frozelte Lili Weber. Miraget formte
mit den Fingern eine Pistole, zielte auf seine Nachfolgerin
in Raggenbass' Team und drückte ab.
«Ich ziehs dir vom Honorar ab!», antwortete
der Komissar lachend, während Miraget die Finger an den
Mund führte und wie ein Pistolero den imaginären
Rauch fort blies. Raggenbass griff nach seinem Portmonnaie
und klaubte drei Zweifränkler hervor. Er gab Miraget
die Münzen, klatschte danach in die Hände und rief:
«An die Arbeit, Kinder!»
Eine Taube pickte Brosamen auf dem Helvetiaplatz zusammen,
als sie plötzlich einen Schatten wahr nahm. Erschocken
flog der Vogel auf und setzte sich auf den Brunnenrand. Als
die Taube zurückblickte, sah sie drei Autos an der Stelle
stehen, an der sie vor wenigen Augenblicken noch Krumen gepickt
hatte. Miraget war bei Raggenbass mitgefahren. Der Kommissar
gab ihm die Hand und wünschte ihm viel Erfolg. Miraget
bedankte sich und stieg aus. Er schloss die Türe und
zog danach seine braune Lederjacke straff. Er schritt über
den Platz auf das Volkshaus zu. Beim Zebrastreifen musste
er warten, weil die Ampel auf Rot stand. Miraget atmete tief
durch. Wohl war ihm bei der Sache nicht. Seit Jahren ging
er an jede Schallplattenbörse in Zürich. Die Händler
kannten ihn. Doch für Navarres Gepäck würde
Miraget das war für ihn Ehrensache sein
Leben geben. Wenn auch aus zweierlei Gründen bloss schweren
Herzens. Erstens wäre er gestorben und zweitens würde
er dann nicht wissen, ob die Tapes ihren rechtmässigen
Besitzern retourniert worden wären.
«Na toll, und ich muss den Eintritt selber blechen!»,
hörte er Lili Webers Stimme hinter sich. Er drehte sich
nach ihr um.
«Ich komme auch mit. Jemand muss doch den Beatlesfan
überwachen, damit er nicht selber mit den Bändern
abhaut», feixte sie grinsend.
«Lieber Gott, der du bist im Himmel und zeitweise auch
auf Erden. Mach bitte, dass das nicht wahr ist... Lieber lass
ich mir Yesterday and Today von den Beatles
mit Butcher-Cover für ein Butterbrot durch die Lappen
gehen, als dass mich Lili an die Börse begleitet»,
murmelte Miraget. Zu ihr gewandt meinte er: «Weisst
du überhaupt, wovon du sprichst? Ich dachte, du würdest
bloss Techno hören.»
«Hey Junge, ich war auch schon an einem Fussballmatch.
Da singen sie immer GC Züri ole zur Melodie
von Yellow Submarine.»
«In den Logen des Hardturms bist du gewesen, während
unsereins sich mit der Fankurve begnügen musste.»
«Jetzt werd' bloss nicht eifersüchtig. Ein Fan
gehört in die Fankurve und eine Dame in die Loge. Und
nun komm, es ist grün. Schliesslich ist Sonntag und ich
möchte noch etwas von meinem freien Tag haben!»
«Von wegen... Dame... ausgerechnet du!», gab Miraget
zurück. Doch Lili Weber hörte ihn nicht mehr, sie
hatte bereits die Strasse überquert. Da die Ampel bereits
wieder auf gelb gewechselt hatte, schickte sich Miraget an,
die Strasse zu überqueren. Sie gingen am Restaurant Volkshaus
vorbei und schritten auf den Haupteingang des selbigen zu,
der sich in der Mitte des graubraunen Gebäudes befand.
«Ich habe gelesen, dass du bloss die Shift-Taste gedrückt
halten musst, wenn du eine CD in den Computer einlegst und
dann wäre der Kopierschutz aufgehoben», sagte Lili
Weber auf der Höhe der Buchhandlung. «Aber bloss
bei den CDs von Sony.»
«Das habe ich auch gelesen», sprach Miraget, «aber
es waren die CDs von Bertelsmann. Wobei das nun keine Rolle
mehr spielt, seit die beiden fusioniert haben.»
«Und wenn du mit einem Leuchtmarker am Rand der CD entlang
fährst, ist der Kopierschutz auch dahin», sprach
sie. Mittlerweile haben sie den Eingang erreicht. Obwohl die
Schallplattenbörse erst seit einer Stunde im Gang war,
kamen bereits erste Besucher mit stolzem Blick und vollen
Taschen heraus.
«Der Kopierschutz versagt total, wenn du eine CD auf
einer normalen Stereoanlage kopierst. Vorausgesetzt, du hast
nicht so ein kompaktes Billigding, sondern eine bei der du
die einzelnen Komponenten mit den roten und weissen Kabeln
zusammensteckst. Rote und weisse Kabel gelten als analog.
Der Kopierschutz funktioniert bloss digital», erläuterte
Miraget, während sie anstanden.
«Ich dachte, die rotweissen Kabel wären so veraltet
wie das heile Bergwelt Image mit der Schweizer Fahne in der
Tourismusbranche», meinte Lili Weber trocken. Miraget
lachte laut heraus.
«Der ist gut, der könnte von mir sein!»
«Eben... drum sag' ich's ja!», meinte sie und
schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.
Kurz darauf gab Miraget der Dame mit dunklem fettigem Haar,
die im Eingangsbereich zwischen der Eingangstüre und
derjenigen ins Foyer hinter einem Tischchen sass, sein Eintrittsgeld
und liess sich danach von einem Studenten, der wohl den Rausschmeisser
mimte, sein Handgelenk stempeln. Danach konnte er das Foyer
der Volkshaus betreten. Links und rechts von ihm waren zwei
Stände, die hauptsächlich Schallplatten verkauften.
Neben dem Durchgang in den grossen Saal hatte der Secondhand-CD-Laden
Silver Disc seinen Stand aufgebaut. Miraget erblickte Yves,
den grossen, schlanken Verkäufer und winkte ihm zu. Dieser
winkte zurück und deutete an, dass Miraget bei ihm vorbeikommen
sollte. Er nickte Yves zu und gab ihm mit einem Handzeichen
zu verstehen, dass er später bei ihm vorbeischauen werde.
Er schaute sich nach Lili Weber um, die noch immer beim Eingang
stand und mit verzweifeltem Blick in ihrem Portemonnaie kramte.
Sie schaute in jede Tasche und öffnete jeden Reissverschluss
daran. Miraget war erstaunt, wie gross Lili Webers Geldbörse
war. Da er immer blank war, kam ihm selbst sein kleines Portemonnaie
zu gross vor. Schlussendlich fand Lili Weber noch eine säuberlich
zusammengelegte Zehnernote. Sie gab der Frau hinter dem Tischchen
den Geldschein, die sich unterdessen begonnen hatte, eine
Zigarette zu drehen.
«Das ist kein Tatoo, das ist der Stempel von gestern
Abend», meinte Lili Weber, während sie dem Studenten
ihren linken Unterarm zum Stempeln hinhielt.
«Wenn du so weiter machst, können wir Ende Woche
deinen Unterarm ins Kunsthaus geben», meinte Miraget,
als sie endlich bei ihm stand. Sie überhörte seine
Bemerkung. «Also Maestro. Und nun sag mir, wie es weiter
geht», sagte sie stattdessen.
«Gut, hier im Foyer hast du wenige Stände. Der Silver Disc hat hier seinen Stammplatz.»
«Aha. Den langen, schlanken Verkäufer mit der Frisur
kenne ich. Der hat mich auch schon bedient. Ist ein cooler
Typ.» Sie meinte Yves, der seinen Kopf bis auf einen
Pferdeschwanz rasiert hatte.
«Es gibt noch Stände oben auf dem Balkon, die meisten
sind aber im Saal und auf der Bühne», fuhr Miraget
mit seinen Erläuterungen fort.
«Das ist ja immens. Immerhin werden seit bald zwanzig
Jahren keine Platten mehr hergestellt.» Als sich Miraget
räusperte, fügte sie schnell an: «Ausser für
DJs und Kleinauflagen für Sammler.»
«Wenn wir Pech haben, so ist Navarres Stand mitten im
Gewühl im Saal.»
Lili Weber schaute Miraget fragend an.
«Oben auf dem Balkon wäre eine Razzia wesentlich
einfacher...»
«Du und deine Händler!», fuhr sie ihn an.
«Ich meinte strategisch. Wenn Spelterini bewaffnet ist...»
«Schon gut, ich habe verstanden. Gehen wir rein?»
Im grossen Saal des Volkshaus waren den Wänden entlang
Stände. Im Saalinnern gab es zur Bühne hin zwei
weitere Standreihen, mit Ständen auf beiden Seiten, so
dass es drei Korridore gab, durch die sich das Publikum schlängelte.
«Linksum und danach auf die Bühne», raunte
Miraget.
«Weshalb? Rechts hat es weniger Leute!», flüsterte
Lili Weber zurück.
«Weil ich erstens wie beim Lesen immer links beginne
und zweitens sich der Aufgang zur Bühne auf der linken
Seite befindet.»
«Hat was, das zweite Argument», antwortete sie.
«Aber weshalb treffen wir uns auf der Bühne?»
«Um uns einen Überblick zu verschaffen. Mir fällt
aber noch etwas besseres ein: Ich geh links herum, du rechts.
Wenn wir Spelterini nicht gesehen haben, findet die Übergabe
an einem Stand im Mittelgang statt.» Lili Weber nickte.
«Hast du noch weitere Fragen?»
«Ja, eine doofe Frage: Verkauft nicht jeder Stand irgend
welche Beatlesplatten? Wie finde ich heraus, welcher darunter
für unsere Beobachtungen interessant sein könnte,
wenn Lucien Navarre gerade eben mal für kleine Jungs
musste und eine Stellvertretung seinen Stand betreut?»
«Gute Frage!», sagte Miraget und ging zum ersten
Stand neben sich. Er verschaffte sich einen Überblick
über die Ordnung in den Kisten. Oft führten die
Händler ein allgemeines Alphabet und dann ein separates
für die Musiker mit einem umfangreichen Katalog.
«Dire Straits, Deep Purple... Cream... Beatles und Solo»,
las Miraget. Er griff wahllos in das Abteil der Beatles und
nahm eine LP heraus. Er hielt sie Lili Weber hin. Sie schaute
die Platte an, deren Cover ziemlich zerschlissen war. Miraget
wollte die Platte wieder zurücklegen, doch das Vinyl
rutschte langsam durch einen Riss in der Hülle hinaus
und fiel zu Boden.
«Herrgott Sack!», fluchte Miraget und nahm die
bereits ziemlich zerkratzte und staubige Platte wieder auf.
Er legte die Scheibe und das Cover auf die Beatleskiste. Als
er den wütenden Blick des Verkäufers sah, bemerkte
er:
«Ist eh nichts wert, die Scheibe. Rock 'n'
Roll ist bloss eine Compilation, die in den 70er-Jahren
nach der Trennung der Band erschienen ist, um noch etwas Geld
zu machen.»
«Aber die gibt es nicht auf CD!», antwortete der
Händler.
«Gott sei dank nicht!», sagte Miraget und zog
die grinsende Lili Weber mit sich vom Stand fort. Er hörte
den Händler ihm Verwünschungen nachrufen.
«Eigentlich wollte ich dir vorhin sagen, dass die meisten
der Stände hier drin mehr oder minder gute Ware mit sich
führen», fuhr Miraget unbeirrt fort. «Aber
damit hat es sich schon. Wir suchen einen Stand der Qualitätsware
vertreibt.»
«Und wie erkenne ich den? Ich nehme nicht an, dass ich
bei jedem Stand zuerst die Platten auf den Boden werfen muss.»
«Nein, so ein Händler wie der vorhin gehört
gar nicht an die Börse. Siehst du den Stand dort hinten?»
«Der mit dem Rastamann?»
«Nein, der daneben mit den Postern.» Lili Weber
nickte.
«Dieser Stand ist ein heisser Kandidat. Das eine Poster
ist ein Konzertplakat von Lou Reeds Deutschlandtour 1979,
das andere ist eine Affiche von der Kind of Magic
Tour von Queen, 1986. Daneben hängen irgend
welche Awards und goldene Schallplatten. Dieser Händler
vertreibt nicht bloss Tonträger, sondern auch Memorabilia.
Wenn auch zu horrenden Preisen.»
«Und wir suchen nach Originalbändern.»
«Richtig. Wir suchen nach Bändern. In den 60er-Jahren
gab es noch keine Musikasetten. Damals waren es die Spulenbänder,
wie bei den Filmprojektoren, die wir in der Schule hatten,
bis sie sich endlich einen Videorekorder angeschafft haben.»
«Und diese Spulen hatten fast die Grösse einer
Schallplatte», bemerkte Lili Weber und blickte nochmals
zum Stand mit den Postern hin.
«Also, in fünf Minuten auf der Bühne»,
sagte Miraget.
Als Miraget auf die Bühne kam, war Lili Weber bereits
dort und wühlte in einer Kiste mit CD Singles.
«Schau, All That She Wants von Ace
of Base. Gott, ich liebte dieses Stück!», sagte
sie, hielt Miraget die CD hin und begann den Refrain des Songs
zu singen. Miraget hielt ihr eine rote Maxisingle von U2 hin.
«Trent Reznors Remix von Vertigo.
Damit habe ich mir eine Versteigerung auf eBay erspart.»
«Auf Kosten der Steuerzahler», feixte Lili Weber.
«Raggenbass hat mir bloss den Eintritt bezahlt!»
«A propos, wenn man vom Teufel spricht...», sagte
sie und nickte in Richtung des Eingangs. Miraget erkannte
Raggenbass und Inspektor Steger, die den grossen Saal betreten
hatten.
«Ich habe ihm angerufen. Navarres Stand ist im Mittelgang.»
«Was hast du? Das war mein Job!»
«Bitte sehr!», sagte Lili Weber genervt und hielt
Miraget ihr Mobiltelefon hin, «Du bist schlimmer als
ein Kind! Aber wenn du unbedingt möchtest, darfst du
gerne Onkel Al die gute Nachricht überbringen.»
Miraget winkte ab, doch dann zögerte er einen Moment.
«Zeig mir nochmals dein Handy.» Sie gab ihm das
Telefon.
«Du hast Spelterinis Fahndungsfoto als Bildschirmhintergrund?!?»
Sie zuckte mit den Schultern, während sie das Handy wieder
entgegen nahm und es in ihrer Handtasche versorgte.
«Lili, du brauchst definitv einen Mann», konstatierte
Miraget kopfschüttlend.
Miraget und Lili Weber blätterten beim Stand in der hinteren
rechten Bühnenecke eine Kiste mit Maxi Singles durch.
Vom Saal aus konnten sie nicht gesehen werden. Raggenbass
drängte sich zwischen sie und begann in der CD-Kiste
daneben zu blättern.
«Genauso werden wir Spelterini hops nehmen», sprach
er vor sich hin. «Eines von euch von links, das andere
von rechts. Ich komme von hinten und verhafte ihn. Steger
und die anderen bilden in einem Abstand von zwei Metern einen
Kreis um uns. Sobald ich von hinten an Spelterini herantrete
gibt Steger per Handy den Uniformierten den Befehl, den Saal
zu stürmen und das verschnürte Paket in Empfang
zu nehmen. In weniger als drei Minuten wird der Spuk vorüber
sein und die Schallplattenbörse kann wieder wie gewohnt
funktionieren.»
«Ich bin doch mit von der Partie?», erkundigte
sich Miraget.
«Und du hast bereits etwas gekauft?», fragte Lili
Weber.
«Ja und ja», antwortete Raggenbass.
«Na los, spann uns nicht auf die Folter, was ist es?»,
erkundigte sich Lili Weber.
«The Complete Montreux Sessions von
Miles Davies», sprach Miraget anerkennend. Raggenbass'
Augen leuchteten für einen Moment.
«Sag niemals nie», bemerkte Miraget. Lili Weber
zwinkerte Raggenbass zu, als wollte sie ihm mitteilen, dass
sie es ihm doch prophezeit hatte, dass er etwas kaufen würde.
«Sag jetzt nichts!», meinte er zu seiner Assistentin
und griff sich in die Hosentasche. «An meinem Bein hat
es vibriert», sagte er und holte sein Handy hervor.
«SMS von Steger. Der Fisch ist im Netz. Wir brauchen
es bloss noch heraus zu ziehen.»
Pierpaolo Spelterini trug einem beigen Trenchcoat. Er war
ein kleiner, grauhaariger Italiener mit Schnauz. Er blätterte
an einem Stand, der vor allem Schallplatten und Memorabilia
aus den 1950er- bis 1980er-Jahren verkaufte, die Kiste mit
den Beatlesplatten durch. Lucien Navarre, ein ungefähr
fünfzig jähriger grau melierter Franzose mit einer
Gauloise im linken Mundwinkel hob eine weitere Kiste hoch
und stellte sie vor Spelterini hin.
«Hier 'abe ich noch mehr Beatles. Sind sie auch an den
Apple-Künstler interessiert?» Spelterini nickte
und begann in der Kiste zu stöbern. Er zog die fünfte
LP heraus, eine auf dem DDR-Label Amiga erschienene Best-of-
Kompilation von John Lennon und hielt sie dem Verkäufer
hin.
«Diese 'ier?», fragte Navarre nach einem Augenblick?
«Gerne. Haben sie noch mehr? Was ist in dieser Filmschachtel
dort hinten?»
«Das ist eine Originial-Filmrolle von A Hard
Day's Night, die damals in den Kinos gezeigt wurden.
Nicht das restaurierte Material, das sie manchmal bei Reprisen
zeigen.»
«Schwarzweiss Filme haben noch Atmosphäre»,
meinte Spelterini. Navarre nickte und wies Spelterini darauf
hin, dass die Rolle extrem rar sei.
«Nehmen Sie Scheck?» Der Händler nickte erneut
und nannte den Preis. Spelterini holte seine Brieftasche hervor
und begann einen Scheck auszufüllen. Während er
schrieb, trat ein blonder Herr neben ihm und blätterte
die Beatleskiste durch und kommentierte dabei die einzelnen
Platten. Dann drängte sich eine grossegewachsene schlanke,
schwarzhaarige Frau in einer Jeansjacke zu seiner rechten
hin. Sie hielt Navarre eine Schallplatte hin und sprach mit
ihrem Begleiter, der die Beatleskiste durchblätterte:
«Hast du gesehen? Diese hier hat einen Reissverschluss
um die Hülle zu öffnen. Witzig, was sich damals
die Rolling Stones einfallen liessen.»
«Ja, das ist Sticky Fingers»,
sagte Miraget, nachdem er einen Blick auf die LP geworfen
hatte.
«Andy Warhol 'at das Cover gestaltet», erklärte
Navarre bevor er einen letzten Zug von seiner Zigarette nahm.
«Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute mit einem
echten Warhol heimkehre und das zu so einem tollen Preis»,
meinte Lili Weber beeindruckt und gab Navarre die Platte.
«Der Monsieur war vor mir an der Reihe...», sagte
sie, als der Verkäufer ihr den Preis nennen wollte. Sie
griff in ihre Handtasche und fasste ihre Dienstwaffe, weil
sie sah, dass sich Raggenbass hinter Spelterini stellte. Spelterini
hatte den Scheck fertig ausgefüllt und hielt ihn dem
Händler hin. Navarre nahm ihn dankend entgegen und versorgte
ihn in der Kasse. Er nahm die in einer Aluminiumbox verstaute
Filmrolle und hielt sie seinem Kunden hin. Als Spelterini
die Rolle an sich nehmen wollte, spürte er einen sanften
Druck von hinten. Er glaubte, dass jemand hinter ihm durchwollte
und bog sich etwas über die Plattenkisten während
er die zwei Rollen mit beiden Händen fasste. Die Person
hinter ihm machte die Bewegung mit, der Druck wurde fordernder.
Es begann ihm zu dämmern, dass ihm jemand eine Waffe
an den Körper hielt.
«Pierpaolo Spelterini, ich verhafte sie wegen Hehlerei!»,
sagte Raggenbass. Danach überschlugen sich die Ereignisse.
Spelterini hielt die Filmrolle fest umklammert, drehte sich
in Richtung Ausgang ab und rammte gleichzeitig der Frau neben
ihm seinen Ellenbogen in den Bauch. Lili Weber verschlug es
den Atem und es wurde ihr für einen Moment schwarz vor
den Augen. Sie liess ihre Handtasche zu Boden fallen während
ihre Knie nachgaben. Spelterini stiess sie unsanft zur Seite
und drückte sich an ihr vorbei. Miraget verfolgte die
Szene aus dem Augenwinkel.
«Die Tapes!», fuhr es ihm durch den Kopf und er
schickte sich an, Spelterini zu stellen. Doch zuerst musste
er Raggenbass umrunden. Er sah, wie Lili Weber mit dem Rücken
an den Stand des Franzosen knallte und danach unsanft auf
dem Boden aufsetze. Er realisierte, wie sich Spelterini am
völlig perplexen Inspektor Steger vorbei drückte
und dann an Abstand gewann, weil er fünf Meter freien
Raum vor sich hatte. Auch die anderen zivil gekleideten Polizisten
waren von der Situation völlig überrascht. Einzig
Miraget handelte, er kurvte um Raggenbass, sprang über
Lili Webers Beine und zog gleichzeitig seine Pistole.
«Haltet ihn!», rief Raggenbass kommandierend.
«Die Bullen!», riefen Händler von der Eingangshalle
in den Saal.
«Die Bullen!», echote es von verschiedenen Ständen
im Saal.
«Scheisse, der Dicke hat eine Knarre!», rief der
Verkäufer am Stand neben Navarre. Drei uniformierte Polizisten
betraten den Saal. Sie mussten sich aber zuerst einen Überblick
über die Lage verschaffen. Ihr Befehl hatte gelautet,
die bereits verhaftete Zielperson in Gewahrsam zu nehmen.
Nun drohte die Lage zu eskalieren. Hinter einem Stand begann
eine Frau hysterisch zu schreien, weil sie Miraget mit der
Waffe gesehen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah dieser
bereits einen Katastrophenfilm mit Geiselnahme und Schiesserei
ablaufen.
Inspektor Steger sah Miraget an sich vorbeieilen und gleichzeitig
seine Pistole entsichern. Irgendwoher hörte er die Polizeischreie.
Da Raggenbass bei Lili Weber stand, überliess er seine
verletzte Kollegin ihrem Schicksal und drehte sich um, um
Miraget Verstärkung zu geben. Dieser hatte nun seinerseits
fünf Meter Raum vor sich. Die Tatsache, dass das Gespräch
mit den Kinospulen von Hard Day's Night bloss
die Tarnung war, verlieh ihm Flügel, denn die Filmrollen
für das Kino waren wesentlich grösser als die Rolle,
die Spelterini davon trug. Durch den Lärm neugierig geworden,
drehten sich zwei Sammler am untersten Stand, die gemeinsam
in einer Kiste mit Raritäten geblättert hatten,
in die Richtung des Lärms weiter oben im Mittelgang um.
Der hintere, ein kurzhaariger, etwas korpulenter Typ in einer
Jeansjacke der Elevation Tour von U2 trat
in den Gang, damit er an seinem Kollegen vorbeischauen konnte
und versperrte so den direkten Fluchtweg. Spelterini verlangsamte
ob des unerwartet aufgetretenen Hindernisses. Miraget konnte
zu ihm aufschliessen. Instinktiv trat der kurzhaarige wieder
einen Schritt zurück. Gleichzeitig machte der zweite
Sammler, der eine Jeansjacke mit einem Flaming Pie
Pin von Paul McCartney auf der linken Brusttasche trug,
einen Schritt zur Seite und war nun seinerseits dem Flüchtenden
im Weg. Ehe er einen Schritt zur Seite machen konnte, streifte
ihn Spelterini, der ins Taumeln geriet, da er über die
Füsse des Sammlers stolperte. Gleichzeitig sprang Miraget
Spelterini an, der durch die Wucht des Stosses in den Rücken
plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürte. Er
flog vornüber während ihn das Gewicht von Miraget
zu Boden drückte. Spelterini ruderte mit den Händen
ohne die Rolle loszulassen. Dennoch hatte er so viel Tempo,
so dass seine Füsse keinen richtigen Halt mehr auf dem
Boden fanden und er kopfüber in den Stand neben dem Eingang
knallte und benommen zu Boden ging. Miragets Kopf war auf
der Höhe von Spelterinis Schulterblättern, als dieser
in die Harassen knallte, weshalb er vom Stoss fast nichts
abkriegte. Er fiel auf den Italiener, rollte sich zur Seite
und sprang wieder auf. Ausser ihm durfte niemand mehr die
Beatles-Tapes in die Finger kriegen. Der vorderste uniformierte
Polizist hatte die Situation erfasst und eilte zu Spelterini
hin, seine beiden Kollegen folgten ihm. Sie drehten den Italiener
auf den Rücken und sahen, dass er aus einer Platzwunde
an der Stirn blutete. Miraget nahm die Filmrolle mit den Tapes
an sich und ging auf die beiden perplexen Sammler zu.
«Danke Jungs, das habt ihr grossartig gemacht!»,
sagte er und klopfte ihnen anerkennend auf die Schultern.
Raggenbass war in einer Zwickmühle. Sollte er Spelterini
und Miraget nachhetzen oder sich um Lili Weber kümmern,
die am Boden lag? Als er sah, dass sich Steger an die Verfolgung
Spelterinis machte und drei uniformierte Polizisten den Saal
betraten, glaubte er als Verantwortlicher für die Razzia
sich um seine verletzte Assistentin kümmern zu können.
Er kniete neben Lili Weber hin und nahm ihren Arm.
«Geht's?», fragte er sie besorgt. Nachdem sie
röchelnd nach Atem gerungen hatte und einmal durchgeatmet
hatte, spürte sie den Schmerz in ihrer Magengegend. Noch
etwas bleich im Gesicht schaute sie Raggenbass an und nickte
ihm fast unmerklich zu. Lucien Navarre hatte erstaunt den
Ereignissen vor seinem Stand zugesehen. Als er wieder einen
klaren Gedanken fassen konnte, blickte er in Raggenbass ernstes
Gesicht, der ihn mit einer Waffe bedrohte.
«Lucien Navarre?», fragte Raggenbass. Der Franzose
bejahte verblüfft.
«Je vous arrête!»
Lili Weber setzte sich auf und hielt mit beiden Armen ihren
schmerzenden Unterleib. Sie atmete ein paar Mal tief durch
und fluchte. Verschwommen nahm sie wahr, dass Raggenbass mit
jemandem auf französisch sprach. Das konnte nur der Händler
sein, dachte sie, der hatte mit einem Akzent gesprochen, als
er Spelterini bedient hatte. Langsam begann sie sich wieder
an die Ereignisse zu erinnern. Sie hatte dem Verkäufer
die Platte mit dem Reissverschluss gegeben und wollte ihre
Pistole ziehen, als Raggenbass hinter Spelterini trat und
ihn verhaften wollte. Danach hatte der Italiener sich gegen
sie gedreht und sie hatte einen heftigen Schlag in ihre Nierengegend
erhalten, was ihr die Sinne geraubt hatte. Das nächste
woran sie sich erinnern konnte, war Raggenbass Stimme und
sein besorgter Blick, als er vorhin neben ihr gekniet war.
Spelterini war nirgends mehr. Spelterini...
«Na warte, du Schwein!», stiess sie zwischen den
Zähnen hervor. Wenn sie verletzt worden war, wurde sie
oft jähzornig. Sie schaute Richtung Ausgang und sah Miraget,
die Uniformierten und eine Menschenmenge. Sie tastete nach
ihrer Handtasche und suchte nach ihrer Pistole. Als sie diese
gefunden hatte, nahm sie die Waffe und erhob sich unter Schmerzen.
Wütend schritt Lili Weber den Mittelgang hinab. Sie ging
an den beiden Sammlern vorbei, die neben Miraget standen.
Der bulligere der beiden telefonierte, der blonde schaute
beinahe ehrfürchtig mit Miraget in die geöffnete
Filmrolle. Sie drückte sich durch die Menschenmenge.
Spelterini sass noch immer am Boden, einer der Uniformierten
klebte ihm gerade notdrüftig ein Pflaster auf die Stirn.
Spelterinis Hände waren bereits mit Handschellen gefesselt,
der Italiener sass auf dem Boden. Als der Uniformierte sich
erhob, trat Lili Weber an seine Stelle. Spelterini schaute
auf und erkannte die Frau wieder, die er gerammt und zur Seite
gestossen hatte, weil sie ihm im Weg gestanden hatte.
«Erkennst du mich noch, du Arsch? Bist ein richtiger
Held, wehrlose Frauen in den Magen zu treten! Was, wenn ich
schwanger gewesen wäre?», schrie sie ihn an und
fuchelte dabei mit ihrer Dienstwaffe vor Spelterini herum.
«Wenigstens kriegen wir dich, du Gefährdung der
Öffentlichkeit! Du bist wegen einer Tätlichkeit
gegen Beamte dran!» Inspektor Steger, der mittlerweile
daneben stand, erkannte die kritische Situation. Er hatte
Lili Webers Jähzorn schon einmal während einer Paintball-Schiessübung
erlebt, bei der sie einen Kopfschuss erwischt hatte. Während
sie mit Kopfschmerzen davon gekommen war, hatte sie ihren
unglücklichen Kollegen verprügelt und ihm die Nase
und eine Rippe gebrochen. Lili Weber richtete ihre Waffe wie
ein Gangsta Rapper auf Speltereini, indem sie die Pistole
mit beiden Händen fasste und diese nach links abdrehte
und mit gestreckten Armen auf ihr Opfer zielte.
«Nicht, Lili!», schrie Steger und machte einen
Satz auf seine Kollegin zu. Doch er kam zu spät. Während
alle wie die Maus die Schlange die Pistole anstarrten, trat
Lili Weber Spelterini mit aller Kraft in die Bauchregion.
Spelterini zuckte unter dem Tritt zusammen und kippte zur
Seite.
«Da hast du deine Hard Day's Night, du Wichser!», schimpfte sie und trat Spelterini nochmals.
Da sie aber bereits von Inspektor Steger zur Seite gestossen
wurde, traf sie nur den Oberschenkel des Italieners. Inspektor
Steger schirmte mit seinem Körper Spelterini ab, drückte
Lili Weber von ihm fort und fasste ihre Arme, die er in die
Höhe drückte.
«Komm Lili, lass gut sein!», sprach er beruhigend
auf sie ein. Spelterini rang röchelnd und pfeifend nach
Atem. Lili Webers Anspannung liess nach, ihre Arme erschlafften,
so dass Steger ihr die Waffe abnehmen konnte.
«Es ist vorbei. Es ist alles gut», sprach er weiterhin
beruhigend auf sie ein, während er erleichtert feststellte,
dass die Pistole noch gesichert war. «Es ist vorbei»,
sagte er und steckte die Waffe ein.
Lucien Navarre wurde von weiteren, unterdessen im Volkshaus
eingetroffenen, zivil gekleideten Beamten in Gewahrsam genommen.
Raggenbass sicherte seine Pistole, steckte sie wieder ein
und schritt in Richtung Ausgang. Zuerst sah er Miraget mit
zwei Herren diskutieren, die Filmrolle hatte er geöffnet.
Dann hörte er Lili Webers wutentbrannte Stimme. Als er
realisierte, dass sie ihre Dienstwaffe gezogen hatte, stockte
ihm der Atem. Für einen Moment befürchtete er, dass
die Situation ausser Kontrolle geraten könnte. Als zu
schweres Damoklesschwert sah er vor seinem geistigen Auge
die Pressekonferenz vom Nachmittag über seinem Kopf hängen.
Dann sah er Inspektor Stegers beherzten Einsatz. Die anderen
Personen kamen ihm wie Schaufensterpuppen vor, während
Spelterini, Lili Weber, Steger und er sich bewegten. Unterdessen
hatte Raggenbass zu Steger auf-geschlossen.
«Ist ja gut. Es ist vorbei. Das war alles ein bischen
viel für deine erste Razzia!», sprach er als er
hinzutrat und registrierte, dass Inspektor Steger ihre Waffe
an sich genommen hatte. Lili Weber schaute ihn aus ihren gletscherblauen,
von Tränen feuchten Augen an. Sie zitterte am ganzen
Leib.
«Du bist gut gewesen, Mädchen!», sprach Raggenbass
und drückte sie an sich, wähernd er ihr seinen Arm
um die Taille legte. «Und jetzt gehen wir einen Kaffee
trinken!», sprach er im selben väterlichen Tonfall.
Sie nickte und murmelte danke, das Zittern liess nach. Entgegen
seiner Stimme hielt Raggenbass Lili Weber fest umklammert
und stiess sie mit bestimmten Druck vor sich her. Erst als
sie das Volkshaus verlassen hatten, liess er sie los. Wortlos
ging sie einen halben Schritt vor ihm und steuerte das Restaurant
an. Raggenbass öffnete ihr die Türe, sie drückte
sich an ihm vorbei und betrat den Raum. Sie setzte sich an
einen der ersten Tische bei den Fenstern. Auf dem Helvetiaplatz
standen neben den drei Autos, mit denen sie gekommen waren,
Streifenwagen. Raggenbass zog seinen blauen Regenmantel aus
und setzte sich Lili Weber gegenüber, nachdem er Pfeife
und Tabak aus der Tasche genommen hatte.
«Alles in Ordnung?» fragte er sie. Sie nickte,
doch ihre Körpersprache und ihre versteinerte Maske verrieten
das Gegenteil.
«Ich... äh... ich», begann sie, «entschuldige
bitte, ich hab's verbockt!». Ein Haufen Elend sass Raggenbass
gegenüber.
«Hast du nicht. Eins auf den Ranzen zu kriegen ist unser
Berufsrisiko. Und wir sind froh, dass Spelterini nicht geschossen
hat. Wenn schon, war es mein Fehler gewesen. Ich hätte
das Risiko voraussehen müssen.»
Ein tamilischer Kellner kam und nahm die Bestellung auf, Raggenbass
bestellte zwei Kaffee und einen Cognac für Lili Weber.
«Ich habe vorhin total die Nerven verloren.»
«Du bist schon den ganzen Tag über nervös
gewesen und hattest dein Mundwerk nicht immer unter Kontrolle.
»
«Ich weiss, das ist mein Problem. Aber dass ich ausraste...»
«Werden wir in Griff kriegen. Genauso wie deine Nervosität
vor dem Einsatz.»
«Ich habe Angst. Das wird eine riesige Untersuchung
geben und ich werde eine Disziplinarstrafe erhalten.»
«Es wird keine Untersuchung geben. Bis morgen Mittag
schreibst du mir den Entwurf des Rapports, den wir beide dann
beenden.»
«Aber...»
«Kein Aber. Du bist verletzt worden. Danach hast du
etwas wütend den Gefangenen verhört, wobei du etwas
übermotiviert an die Sache gegangen bist. Das war dein
einziger Fehler den du aufgrund der noch mangelnden Praxis
begangen hast. Dein Vorgesetzter hat die nötigen Disziplinarmassnahmen
bereits angeordnet. Punkt.» Ungläubig schaute Lili
Weber Raggenbass an, der seelenruhig seine Pfeife stopfte.
«Morgen rufe ich Annegret an. Sie ist Psychologin und
eine gute Bekannte meiner Frau», sprach er, während
er sich die Pfeife in den Mund steckte. Danach zündete
er sie an. «Du hast ein Gewaltproblem», sprach
er und blies den Rauch aus, ehe er nochmals an der Pfeife
zog. «Und an der Polizeischule hat man dir nicht beigebracht,
damit umzugehen.» Er zog ein weiteres Mal an seiner
Pfeife und blies den Rauch aus. «Deshalb werden wir
auf externe Kräfte zurückgreifen.» Lili Weber
schwieg noch immer. «Nun könnte er unsere Kaffees
bringen!», sprach Raggenbass und sog genüsslich
an seiner Pfeife.
«Die werden mich in der Luft zerreisen!», sagte
sie endlich.
«Wer?»
«Die Zeugen, die Presse. Morgen heisst es wieder, dass
bei der Stapo bloss Rambos arbeiten würden.»
«Nicht, so lange ich den Einsatz leite und mit der Presse
spreche. Spelterini ist gestürzt und hat eine Platzwunde
am Kopf. Es hat Blut gegeben. C'est tout. Die Mehrheit
im Saal hat gar nicht mitgekriegt, was sich abgespielt hat.»
«Bist du sicher?»
«Absolut. Eine grosse, dunkelhaarige Frau haben knapp
zwanzig Personen gesehen, davon sind ein Dutzend Polizisten
und zwei Verbrecher.»
«Mmh», gab Lili Weber wenig überzeugt von
sich. Der Kellner brachte die Bestellung. Als er sich vom
Tisch entfernte fuhr Raggenbass mit seiner Analyse der Situation
fort.
«Die Tatsache, dass wir gestohlene, unveröffentlichte
Aufnahmen der Beatles an der Schallplattenbörse sicher
gestellt und den Dieb verhaftet haben, wird die Berichterstattung
dominieren.» Noch immer ungläubig blickte sie Raggenbass
an. «Es wird heissen, dass unter dramatischen Umständen
Pierpaolo Spelterini, ein international gesuchter Hehler von
Kunstwerken, an der internationlen CD- und Schallplattenbörse
in Zürich festgenommen werden konnte. Und nun trink deinen
Cognac, danach geht es dir wieder besser.» Lili Weber
lächelte und nahm das Glas.
«Prosit Raggenbass. Auf dass du recht hast.»
«Bestimmt», sagte er und trank seinen Kaffee auf
einmal aus.
«So, nun muss ich zurück und nach dem Rechten sehen.
Wir sehen uns später im Büro.»
«Okay. Bringst du mir meine Handtasche und die Schallplatte
mit, die ich am Stand verloren habe? Es war Platte der Rolling
Stones mit einem Reissverschluss in der Hülle, den man
öffnen kann.» Raggenbass nickte und legte fünfundzwanzig
Franken auf den Tisch.
«Wow, eine Powerfrau», sagte der Sammler mit dem Flaming Pie zu Miraget, als er sah, wie Lili Weber
Spelterini trat.
«Oh ja, das ist sie», sprach Miraget, «aber
sonst ganz ist sie ganz umgänglich.»
«Das sieht man.»
«Nochmals danke für eure Hilfe», sagte Miraget
und wandte sich ab.
«Wen hast du angerufen?», fragte der blonde Sammler.
«Der Redaktion. Ich wurde eben beauftragt, einen Bericht
zu machen.»
«Schon wieder? Radio Zürileu hat doch erst letztes
Jahr über die Börse berichtet», feixte der
blonde, bevor er anfügte, «du kennst ja die Regeln.
Mich darfst du immer interviewen. Musst mir bloss das MP3
File des Beitrages mailen.»
«Um 14.00 Uhr ist die Medienkonferenz», sagte
Miraget, der die Unterhaltung noch gehört hatte.
«Wo?», fragte der Journalist.
«Am üblichen Ort. Aber frag zur Sicherheit in der
Redaktion nach. Und noch was, Elevation Tour und Flaming
Pie: Der Vorfall vorhin hat nicht statt gefunden.»
«Wie bitte?», fasste der Elevation Tour genannte
Journalist nach.
«Bis jetzt glaubte ich den Medien ja nicht, aber nun
habe ich's mit eigenen Augen gesehen, dass bei der Stapo Rambos
arbeiten...», fügte Flaming Pie an.
«Deine Stimme kenne ich doch...», sagte Miraget.
«Du bist der Brunner, der die Nachrichten liest.»
«Und Sie sind?»
«Miraget. Nochmals: Der Typ ist gestürzt und hat
sich dabei den Kopf gestossen. Dass er über euch beide
gestolpert ist, das dürft ihr gerne noch euren Enkeln
erzählen. Aber...»
«Schon gut, ich habe verstanden. Was kriegen wir dafür?»,
fragte der blonde. Miraget grinste breit.
«Zeigt mir mal eure Taschen», forderte er die
beiden auf. «Na los, Flaming Pie, du hast mir doch eben
vom Stand mit den Bootlegs im Foyer berichtet. Her mit den
Taschen. Wir haben Anweisung, jegliche Straftat hier drin
zu unterbinden. Weshalb ich gezwungen bin, sämtliche
Raubkopien zu beschlagnahmen.»
«Höre ich da einen gewissen Unterton?», fragte
Christoph Brunner.
«Es sei denn...», antwortete Miraget.
«Ich sprech' es mit der Redaktion ab. Ich habe genau
gesehen, dass die schwarzhaarige Frau den anderen getreten
hat.»
«Welche schwarzhaarige Frau?», fragte Miraget
ganz Unschludslamm.
«Eben war sie noch da!», stellte Brunner verblüfft
fest.
«No woman no article», verhunzte Miraget
einen Titel von Bob Marley. «Ich weiss nicht, von wem
ihr redet. Aber wenn ihr die Dame seht, bestellt ihr einen
Gruss von mir.»
Um sechs Uhr Abends sassen Lili Weber, Miraget, Paul Steiner
und Ewan Earle von EMI Records mit Raggenbass in dessen Büro.
Eben waren in den Nachrichten von Schweizer Radio DRS und
Radio Zürileus ein Bericht über die Festnahme von
Pierpaolo Spelterini gesendet worden. Lili Webers Ausraster
war in Christoph Brunners Bericht mit keinem Wort erwähnt
worden. Erleichert sass sie auf ihrem Stuhl.
«Mr. Raggenbass, on behalf of EMI Records, I'd like
to thank you», sprach Ewan Earle.
«Nichts zu danken. Ich habe bloss meinen Job getan.»
«Sie wissen nicht, wie wichtig die Tapes für uns
sind!», ergänzte Paul Steiner. «Auch dir,
Miraget, möchte ich danken. Dein Hinweis auf die internationale
Schallplatten- und CD-Börse hat sich als richtig erwiesen.
Und dein Tipp mit Kommissar Raggenbass war nochmals Gold wert.»
Miraget nickte.
«Was heisst, dein Tipp mit Kommissar Raggenbass war
Gold wert?», fragte Lili Weber erstaunt.
«Als die Bänder vor sechs Wochen aus den Archiven
gestohlen worden waren, haben unsere Versicherung und wir
alle Hebel in Gang gesetzt, sie wieder zurück zu erhalten.»
«Wobei du wissen musst, dass das Archiv mit den unveröffentlichten
Beatlesaufnahmen besser geschützt ist als Fort Knox»,
fügte Miraget an.
«Das nicht ganz», meinte Paul Steiner schmunzelnd,
«doch sie sind sehr gut gesichert. Nur eben, vor sechs
Wochen gab es Revisionsarbeiten an der Lüftung. Und so
ist es den Dieben gelungen, die Tapes zu stehlen. Scotland
Yard fand schnell heraus, dass es beim Diebstahl Ähnlichkeiten
gab zu anderen Kunstdiebstählen, bei denen Bilder aus
europäischen Museen gestohlen worden waren. Die Spuren
aller Diebstähle führten zu Lucien Navarre. Vor
drei Wochen wollte Scotland Yard in Bromely bei London Navarre
in seinem Kunstantiquariat festnehmen. Doch Navarre entkam.
Die Polizeiaktion war insofern erfolgreich, weil er keine
Gemälde mitnehmen konnte. So konnten Werke von Renoir,
Van Gogh, Picasso, Basquiat und Munch sicher gestellt werden.
Es wurden gar Artefakte gefunden, die nach dem Einmarsch der
Amerikaner und Briten im Irak aus dem Nationalmuseum in Bagdad
verschwunden waren. Doch die Beatlestapes blieben verschollen.
Über die Ermittlungen muss ich euch ja wohl nichts erzählen.
Letzte Woche erhielt einen Anruf von Ewan, der mir die ganze
Geschichte erzählte und dabei erwähnte, dass Navarre
wohl in der Schweiz sei.»
«Das klingt ja alles wie in einem Thriller. Dennoch
verstehe ich die Verbindung zu Miraget noch nicht»,
monierte Lili Weber.
«Ganz einfach, ich kenne Miraget schon länger.
Zufälligerweise haben wir uns letztes Wochenende getroffen.
Und da ich weiss, dass er nicht bloss ein guter Privatdetektiv
ist, sondern auch ein grosser Beatlesfan, habe ich ihn beauftragt,
Nachforschungen über Navarre anzustellen.»
«Und am Mittwoch war die ominöse kurzfristig anberaumte
Konferenz, an der Raggenbass teilnehmen musste», schloss
Miraget den Bericht.
«Und worüber wurde an dieser Konferenz gesprochen?»,
hackte Lili Weber nach.
«Neben den anwesenden Herren hier waren noch Leute von
England, der Bundeskiminalpolizei, der Kantonspolizei Zürich
sowie der Stapo dabei. Zuerst wurden wir über den Fall
informiert, danach hatten wir noch etwas Weiterbildung in
Sachen internationalem Kunstschmuggel. Die Vertreter der Bundeskriminalpolizei
informierten uns, dass Spelterini am Dienstag die Schweizer
Grenze bei Chiasso überschritten hatte», ergänzte
Raggenbass.
«Und dann ging es daran, den Plan für das Wochenende
auszuarbeiten», schloss Miraget.
«Nett, dass ich doch noch erfahre, weshalb ich meinen
Bauch geopfert habe», meinte Lili Weber augenzwinkernd.
«Du meinst, für eine Angelegenheit mit solcher
Tragweite würdest du es wieder tun?», fragte Miraget.
«Das nicht gerade. Aber bei so einer grossen Kiste mitzuwirken,
hat trotzdem Spass gemacht», sagte sie und griff nach
der Sticky Fingers LP, die auf ihrem Schreibtisch lag.
Danach begann sie mit dem Reissverschluss zu spielen.
«Nun möchte ich aber doch noch hören, was
wir heute gerettet haben», sagte Raggenbass. Ewan Earles
Blick verfinsterte sich. Doch Miraget ging zu einer Stereoanlage,
die mit einem Spulentonband verbunden war.
«We have to check if we' ve got the right tapes»,
sagte Miraget. Raggenbass, der kein Englisch sprach, nickte.
«I guess this would not be in the sense of the Beatles»,
sprach Earle.
«Neither a Rolling Stones tape in the Beatles' archive
would be!», sagte Miraget bestimmt und drückte
die Play-Taste. «And we have to be proud, that the
City Police of Zurich still is able to play 1 inch tapes»,
fügte er an. Unterdessen begann das Band zu laufen, aus
den Lautsprechern hörte man die Stimme von George Martin,
der die Nummer des Takes und den Titel angab. Dann hörte
man Paul McCartney anzählen. Musik erklang für wenige
Augenblicke, dann brach sie ab. John Lennon und Paul McCartney
sprachen durcheinander. Nach einem kurzen Moment Stille hörte
man Ringo Starr die Drumsticks achtmal zusammenschlagen, danach
setzte die Musik wieder ein. Andächtig lauschten die
Anwesenden den vertrauten und doch so anders klingenden Songs.
«Eins nähme mich noch Wunder», sprach Raggenbass
als Ewan Earle und Paul Steiner gegangen waren. Sie hatten
die Tapes wieder in eine rote Archivschachtel von EMI Records
verstaut und diese in einem Aktenkoffer eingeschlossen.
«Als ich das Volkshaus verlassen hatte, lief ich doch
prompt einem Journalisten von Tele Züri in die Arme.
Wie haben die's geschafft, so schnell an die Information über
die Ereignisse an der Schallplattenbörse zu kommen?»
«Ganz einfach, weil sie einen Tipp gekriegt hatten»,
sagte Miraget. Raggenbass und Lili Weber schauten ihn fragend
an.
«Die Typen, die Spelterini zu Fall gebracht haben, waren
von der Presse. Der eine der beiden war Christoph Brunner
von Radio Zürileu und hat gleich nachdem die ganze Chose
vorbei gewesen war, mit der Redaktion telefoniert. Der andere
war vom RockStar Magazine.»
«Saupack!», entfuhr es Raggenbass. Miraget schnalzte
verneinend mit der Zunge.
«Alles halb so wild, unsere Kung Fu Lili hat er ja nicht
in seiner Berichterstattung erwähnt. Wobei ich da noch
etwas nachhelfen musste.»
«Jesses Gott!», sagte Lili Weber, «Ich weiss
genau, welche beiden das waren. Und wie hast du das hingekriegt,
dass die Presse nicht auf mir rumhackt?»
«Die beiden sind Sammler wie ich. Und so habe ich sie
an ihrer empfindlichsten Stelle gepackt.»
«Und die wäre?», erkundigte sich Raggenbass.
«Ich verrat's dir, wenn wir wieder einmal wegen Kunstraub
ermitteln!», sagte Miraget bestimmt.
Eine halbe Stunde später setzte er sich in seinen schwarzen
Citroën Pluriel. Aus seiner Jackentasche nahm er eine
Musikasette hervor und wollte sie in den Radio schieben.
«Shit, weshalb haben alle modernen Autos bloss noch
CD-Spieler?», fragte er sich und legte die Kassette
auf den Beifahrersitz. Miraget fuhr los und spurte in den
Sonntagabendverkehr ein.
«Saupack!», ahmte er grinsend Raggenbass nach,
während er vor einer roten Ampel am Bahnhofquai hielt.
«I am deeply sorry, dear Ewan. You were terribly
right, ein Sammler bleibt ein Sammler. Aber du kannst
versichert sein, meine Sammlung ist eine Einbahnstrasse. Was
einmal drin ist, kommt nicht wieder heraus!», sprach
Miraget, griff nach der Kassette und küsste sie.
«White Album Sessions, Herbst 1968...»,
sagte er und küsste nochmals die Kassette. Hinter ihm
hupte der nachfolgende Autofahrer, weil die Ampel schon längst
auf grün stand.
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