Storys


Razzia

«Guten Morgen allerseits, dies ist die letzte Lagebesprechung vor dem Einsatz», begrüsste Raggenbass an einem kalten Herbstmorgen sein Team. «Unser Objekt wurde im Volkshaus gesichtet. Lucien Navarre hat heute seinen eigenen Stand. Spelterini hat sein Hotel verlassen und wird in etwa zehn Minuten im Volkshaus erwartet. Das heisst, wir machen uns auf den Weg dorthin. Miraget wird als erster rein gehen.»
«Ich? Kommt gar nicht in Frage.»
«Es gibt keine Diskussion darüber. Du kennst dich in der Szene aus.»
«Ich kann für Jahre an keine Börse mehr gehen, wenn ruchbar wird, dass ich als Spitzel gearbeitet habe. Meine ganze Sammlung wird dahin vegetieren!», protestierte Miraget. Doch vergebens.
«Du hast schon Schallplatten gesammelt, als du Polizist gewesen bist. Die Händler, welche dich kennen, wissen das. Wir machen ja keine Razzia gegen unsere braven Händler, die allenfalls Raubpressungen vertreiben.»
«MP3 sei dank, das lohnt sich heute nicht mehr», meinte Miraget. «Die Aufnahme des Rolling Stones Konzert im Hallenstadion von 1969 ist heute einfacher im Internet denn an einer Schallplattenbörse zu finden.»
«Na also. Alles gar kein Problem für dich», meinte Raggenbass. «Ich erwarte von dir auch nicht mehr, als dass du rein gehst, Spelterini beobachtest und uns per Handy mitteilst, wann wir mit der Razzia beginnen können. Als Privater darfst du sowieso nicht bei einer Polizeiaktion teilnehmen.»
«Rock’n’Roll baby, das wird heiter», sprach Miraget.
«Gehen wir nur gegen Navarres Stand vor?», erkundigte sich Inspektor Steger.
«Im Prinzip schon. Wenn ihr aber an einem Stand jemanden eine Straftat verüben sieht, dann schlagt ihr auch zu. Aber erst, wenn wir Spelterini haben! Und vergesst nicht: Einen Joint zu rauchen ist legal, bloss der Handel Marihuana ist strafbar. Noch Fragen?», schloss Raggenbass seine Ausführungen.
«Ja!», sagte Miraget bestimmt, «gibst du mir sechs Franken?»
Verdattert schaute Raggenbass seinen ehemaligen Mitarbeiter an.
«Der Eintritt ins Volkshaus kostet sechs Franken. Ich zahl’ doch nicht dafür, damit die Stapo ihre Razzia durchführen kann. Bei aller Sympathie die ich für diesen Verein hege.»
«Dafür auf Kosten der Steuerzahler deine Schallplattensammlung aufbessern...», frozelte Lili Weber. Miraget formte mit den Fingern eine Pistole, zielte auf seine Nachfolgerin in Raggenbass' Team und drückte ab.
«Ich zieh’s dir vom Honorar ab!», antwortete der Komissar lachend, während Miraget die Finger an den Mund führte und wie ein Pistolero den imaginären Rauch fort blies. Raggenbass griff nach seinem Portmonnaie und klaubte drei Zweifränkler hervor. Er gab Miraget die Münzen, klatschte danach in die Hände und rief: «An die Arbeit, Kinder!»

Eine Taube pickte Brosamen auf dem Helvetiaplatz zusammen, als sie plötzlich einen Schatten wahr nahm. Erschocken flog der Vogel auf und setzte sich auf den Brunnenrand. Als die Taube zurückblickte, sah sie drei Autos an der Stelle stehen, an der sie vor wenigen Augenblicken noch Krumen gepickt hatte. Miraget war bei Raggenbass mitgefahren. Der Kommissar gab ihm die Hand und wünschte ihm viel Erfolg. Miraget bedankte sich und stieg aus. Er schloss die Türe und zog danach seine braune Lederjacke straff. Er schritt über den Platz auf das Volkshaus zu. Beim Zebrastreifen musste er warten, weil die Ampel auf Rot stand. Miraget atmete tief durch. Wohl war ihm bei der Sache nicht. Seit Jahren ging er an jede Schallplattenbörse in Zürich. Die Händler kannten ihn. Doch für Navarres Gepäck würde Miraget – das war für ihn Ehrensache – sein Leben geben. Wenn auch aus zweierlei Gründen bloss schweren Herzens. Erstens wäre er gestorben und zweitens würde er dann nicht wissen, ob die Tapes ihren rechtmässigen Besitzern retourniert worden wären.
«Na toll, und ich muss den Eintritt selber blechen!», hörte er Lili Webers Stimme hinter sich. Er drehte sich nach ihr um.
«Ich komme auch mit. Jemand muss doch den Beatlesfan überwachen, damit er nicht selber mit den Bändern abhaut», feixte sie grinsend.
«Lieber Gott, der du bist im Himmel und zeitweise auch auf Erden. Mach bitte, dass das nicht wahr ist... Lieber lass ich mir ‚Yesterday and Today’ von den Beatles mit Butcher-Cover für ein Butterbrot durch die Lappen gehen, als dass mich Lili an die Börse begleitet», murmelte Miraget. Zu ihr gewandt meinte er: «Weisst du überhaupt, wovon du sprichst? Ich dachte, du würdest bloss Techno hören.»
«Hey Junge, ich war auch schon an einem Fussballmatch. Da singen sie immer ‚GC Züri ole’ zur Melodie von ‚Yellow Submarine’
«In den Logen des Hardturms bist du gewesen, während unsereins sich mit der Fankurve begnügen musste.»
«Jetzt werd' bloss nicht eifersüchtig. Ein Fan gehört in die Fankurve und eine Dame in die Loge. Und nun komm, es ist grün. Schliesslich ist Sonntag und ich möchte noch etwas von meinem freien Tag haben!»
«Von wegen... Dame... ausgerechnet du!», gab Miraget zurück. Doch Lili Weber hörte ihn nicht mehr, sie hatte bereits die Strasse überquert. Da die Ampel bereits wieder auf gelb gewechselt hatte, schickte sich Miraget an, die Strasse zu überqueren. Sie gingen am Restaurant Volkshaus vorbei und schritten auf den Haupteingang des selbigen zu, der sich in der Mitte des graubraunen Gebäudes befand.
«Ich habe gelesen, dass du bloss die Shift-Taste gedrückt halten musst, wenn du eine CD in den Computer einlegst und dann wäre der Kopierschutz aufgehoben», sagte Lili Weber auf der Höhe der Buchhandlung. «Aber bloss bei den CDs von Sony.»
«Das habe ich auch gelesen», sprach Miraget, «aber es waren die CDs von Bertelsmann. Wobei das nun keine Rolle mehr spielt, seit die beiden fusioniert haben.»
«Und wenn du mit einem Leuchtmarker am Rand der CD entlang fährst, ist der Kopierschutz auch dahin», sprach sie. Mittlerweile haben sie den Eingang erreicht. Obwohl die Schallplattenbörse erst seit einer Stunde im Gang war, kamen bereits erste Besucher mit stolzem Blick und vollen Taschen heraus.
«Der Kopierschutz versagt total, wenn du eine CD auf einer normalen Stereoanlage kopierst. Vorausgesetzt, du hast nicht so ein kompaktes Billigding, sondern eine bei der du die einzelnen Komponenten mit den roten und weissen Kabeln zusammensteckst. Rote und weisse Kabel gelten als analog. Der Kopierschutz funktioniert bloss digital», erläuterte Miraget, während sie anstanden.
«Ich dachte, die rotweissen Kabel wären so veraltet wie das heile Bergwelt Image mit der Schweizer Fahne in der Tourismusbranche», meinte Lili Weber trocken. Miraget lachte laut heraus.
«Der ist gut, der könnte von mir sein!»
«Eben... drum sag' ich's ja!», meinte sie und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.

Kurz darauf gab Miraget der Dame mit dunklem fettigem Haar, die im Eingangsbereich zwischen der Eingangstüre und derjenigen ins Foyer hinter einem Tischchen sass, sein Eintrittsgeld und liess sich danach von einem Studenten, der wohl den Rausschmeisser mimte, sein Handgelenk stempeln. Danach konnte er das Foyer der Volkshaus betreten. Links und rechts von ihm waren zwei Stände, die hauptsächlich Schallplatten verkauften. Neben dem Durchgang in den grossen Saal hatte der Secondhand-CD-Laden Silver Disc seinen Stand aufgebaut. Miraget erblickte Yves, den grossen, schlanken Verkäufer und winkte ihm zu. Dieser winkte zurück und deutete an, dass Miraget bei ihm vorbeikommen sollte. Er nickte Yves zu und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er später bei ihm vorbeischauen werde. Er schaute sich nach Lili Weber um, die noch immer beim Eingang stand und mit verzweifeltem Blick in ihrem Portemonnaie kramte. Sie schaute in jede Tasche und öffnete jeden Reissverschluss daran. Miraget war erstaunt, wie gross Lili Webers Geldbörse war. Da er immer blank war, kam ihm selbst sein kleines Portemonnaie zu gross vor. Schlussendlich fand Lili Weber noch eine säuberlich zusammengelegte Zehnernote. Sie gab der Frau hinter dem Tischchen den Geldschein, die sich unterdessen begonnen hatte, eine Zigarette zu drehen.
«Das ist kein Tatoo, das ist der Stempel von gestern Abend», meinte Lili Weber, während sie dem Studenten ihren linken Unterarm zum Stempeln hinhielt.
«Wenn du so weiter machst, können wir Ende Woche deinen Unterarm ins Kunsthaus geben», meinte Miraget, als sie endlich bei ihm stand. Sie überhörte seine Bemerkung. «Also Maestro. Und nun sag mir, wie es weiter geht», sagte sie stattdessen.
«Gut, hier im Foyer hast du wenige Stände. Der Silver Disc hat hier seinen Stammplatz.»
«Aha. Den langen, schlanken Verkäufer mit der Frisur kenne ich. Der hat mich auch schon bedient. Ist ein cooler Typ.» Sie meinte Yves, der seinen Kopf bis auf einen Pferdeschwanz rasiert hatte.
«Es gibt noch Stände oben auf dem Balkon, die meisten sind aber im Saal und auf der Bühne», fuhr Miraget mit seinen Erläuterungen fort.
«Das ist ja immens. Immerhin werden seit bald zwanzig Jahren keine Platten mehr hergestellt.» Als sich Miraget räusperte, fügte sie schnell an: «Ausser für DJs und Kleinauflagen für Sammler.»
«Wenn wir Pech haben, so ist Navarres Stand mitten im Gewühl im Saal.»
Lili Weber schaute Miraget fragend an.
«Oben auf dem Balkon wäre eine Razzia wesentlich einfacher...»
«Du und deine Händler!», fuhr sie ihn an.
«Ich meinte strategisch. Wenn Spelterini bewaffnet ist...»
«Schon gut, ich habe verstanden. Gehen wir rein?»

Im grossen Saal des Volkshaus waren den Wänden entlang Stände. Im Saalinnern gab es zur Bühne hin zwei weitere Standreihen, mit Ständen auf beiden Seiten, so dass es drei Korridore gab, durch die sich das Publikum schlängelte.
«Linksum und danach auf die Bühne», raunte Miraget.
«Weshalb? Rechts hat es weniger Leute!», flüsterte Lili Weber zurück.
«Weil ich erstens wie beim Lesen immer links beginne und zweitens sich der Aufgang zur Bühne auf der linken Seite befindet.»
«Hat was, das zweite Argument», antwortete sie. «Aber weshalb treffen wir uns auf der Bühne?»
«Um uns einen Überblick zu verschaffen. Mir fällt aber noch etwas besseres ein: Ich geh links herum, du rechts. Wenn wir Spelterini nicht gesehen haben, findet die Übergabe an einem Stand im Mittelgang statt.» Lili Weber nickte.
«Hast du noch weitere Fragen?»
«Ja, eine doofe Frage: Verkauft nicht jeder Stand irgend welche Beatlesplatten? Wie finde ich heraus, welcher darunter für unsere Beobachtungen interessant sein könnte, wenn Lucien Navarre gerade eben mal für kleine Jungs musste und eine Stellvertretung seinen Stand betreut?»
«Gute Frage!», sagte Miraget und ging zum ersten Stand neben sich. Er verschaffte sich einen Überblick über die Ordnung in den Kisten. Oft führten die Händler ein allgemeines Alphabet und dann ein separates für die Musiker mit einem umfangreichen Katalog.
«Dire Straits, Deep Purple... Cream... Beatles und Solo», las Miraget. Er griff wahllos in das Abteil der Beatles und nahm eine LP heraus. Er hielt sie Lili Weber hin. Sie schaute die Platte an, deren Cover ziemlich zerschlissen war. Miraget wollte die Platte wieder zurücklegen, doch das Vinyl rutschte langsam durch einen Riss in der Hülle hinaus und fiel zu Boden.
«Herrgott Sack!», fluchte Miraget und nahm die bereits ziemlich zerkratzte und staubige Platte wieder auf. Er legte die Scheibe und das Cover auf die Beatleskiste. Als er den wütenden Blick des Verkäufers sah, bemerkte er:
«Ist eh nichts wert, die Scheibe. ‚Rock 'n' Roll’ ist bloss eine Compilation, die in den 70er-Jahren nach der Trennung der Band erschienen ist, um noch etwas Geld zu machen.»
«Aber die gibt es nicht auf CD!», antwortete der Händler.
«Gott sei dank nicht!», sagte Miraget und zog die grinsende Lili Weber mit sich vom Stand fort. Er hörte den Händler ihm Verwünschungen nachrufen.
«Eigentlich wollte ich dir vorhin sagen, dass die meisten der Stände hier drin mehr oder minder gute Ware mit sich führen», fuhr Miraget unbeirrt fort. «Aber damit hat es sich schon. Wir suchen einen Stand der Qualitätsware vertreibt.»
«Und wie erkenne ich den? Ich nehme nicht an, dass ich bei jedem Stand zuerst die Platten auf den Boden werfen muss.»
«Nein, so ein Händler wie der vorhin gehört gar nicht an die Börse. Siehst du den Stand dort hinten?»
«Der mit dem Rastamann?»
«Nein, der daneben mit den Postern.» Lili Weber nickte.
«Dieser Stand ist ein heisser Kandidat. Das eine Poster ist ein Konzertplakat von Lou Reeds Deutschlandtour 1979, das andere ist eine Affiche von der ‚Kind of Magic Tour‘ von Queen, 1986. Daneben hängen irgend welche Awards und goldene Schallplatten. Dieser Händler vertreibt nicht bloss Tonträger, sondern auch Memorabilia. Wenn auch zu horrenden Preisen.»
«Und wir suchen nach Originalbändern.»
«Richtig. Wir suchen nach Bändern. In den 60er-Jahren gab es noch keine Musikasetten. Damals waren es die Spulenbänder, wie bei den Filmprojektoren, die wir in der Schule hatten, bis sie sich endlich einen Videorekorder angeschafft haben.»
«Und diese Spulen hatten fast die Grösse einer Schallplatte», bemerkte Lili Weber und blickte nochmals zum Stand mit den Postern hin.
«Also, in fünf Minuten auf der Bühne», sagte Miraget.

Als Miraget auf die Bühne kam, war Lili Weber bereits dort und wühlte in einer Kiste mit CD Singles.
«Schau, ‚All That She Wants’ von Ace of Base. Gott, ich liebte dieses Stück!», sagte sie, hielt Miraget die CD hin und begann den Refrain des Songs zu singen. Miraget hielt ihr eine rote Maxisingle von U2 hin.
«Trent Reznors Remix von ‚Vertigo’. Damit habe ich mir eine Versteigerung auf eBay erspart.»
«Auf Kosten der Steuerzahler», feixte Lili Weber.
«Raggenbass hat mir bloss den Eintritt bezahlt!»
«A propos, wenn man vom Teufel spricht...», sagte sie und nickte in Richtung des Eingangs. Miraget erkannte Raggenbass und Inspektor Steger, die den grossen Saal betreten hatten.
«Ich habe ihm angerufen. Navarres Stand ist im Mittelgang.»
«Was hast du? Das war mein Job!»
«Bitte sehr!», sagte Lili Weber genervt und hielt Miraget ihr Mobiltelefon hin, «Du bist schlimmer als ein Kind! Aber wenn du unbedingt möchtest, darfst du gerne Onkel Al die gute Nachricht überbringen.» Miraget winkte ab, doch dann zögerte er einen Moment.
«Zeig mir nochmals dein Handy.» Sie gab ihm das Telefon.
«Du hast Spelterinis Fahndungsfoto als Bildschirmhintergrund?!?» Sie zuckte mit den Schultern, während sie das Handy wieder entgegen nahm und es in ihrer Handtasche versorgte.
«Lili, du brauchst definitv einen Mann», konstatierte Miraget kopfschüttlend.

Miraget und Lili Weber blätterten beim Stand in der hinteren rechten Bühnenecke eine Kiste mit Maxi Singles durch. Vom Saal aus konnten sie nicht gesehen werden. Raggenbass drängte sich zwischen sie und begann in der CD-Kiste daneben zu blättern.
«Genauso werden wir Spelterini hops nehmen», sprach er vor sich hin. «Eines von euch von links, das andere von rechts. Ich komme von hinten und verhafte ihn. Steger und die anderen bilden in einem Abstand von zwei Metern einen Kreis um uns. Sobald ich von hinten an Spelterini herantrete gibt Steger per Handy den Uniformierten den Befehl, den Saal zu stürmen und das verschnürte Paket in Empfang zu nehmen. In weniger als drei Minuten wird der Spuk vorüber sein und die Schallplattenbörse kann wieder wie gewohnt funktionieren.»
«Ich bin doch mit von der Partie?», erkundigte sich Miraget.
«Und du hast bereits etwas gekauft?», fragte Lili Weber.
«Ja und ja», antwortete Raggenbass.
«Na los, spann uns nicht auf die Folter, was ist es?», erkundigte sich Lili Weber.
«‚The Complete Montreux Sessions’ von Miles Davies», sprach Miraget anerkennend. Raggenbass' Augen leuchteten für einen Moment.
«Sag niemals nie», bemerkte Miraget. Lili Weber zwinkerte Raggenbass zu, als wollte sie ihm mitteilen, dass sie es ihm doch prophezeit hatte, dass er etwas kaufen würde.
«Sag jetzt nichts!», meinte er zu seiner Assistentin und griff sich in die Hosentasche. «An meinem Bein hat es vibriert», sagte er und holte sein Handy hervor. «SMS von Steger. Der Fisch ist im Netz. Wir brauchen es bloss noch heraus zu ziehen.»

Pierpaolo Spelterini trug einem beigen Trenchcoat. Er war ein kleiner, grauhaariger Italiener mit Schnauz. Er blätterte an einem Stand, der vor allem Schallplatten und Memorabilia aus den 1950er- bis 1980er-Jahren verkaufte, die Kiste mit den Beatlesplatten durch. Lucien Navarre, ein ungefähr fünfzig jähriger grau melierter Franzose mit einer Gauloise im linken Mundwinkel hob eine weitere Kiste hoch und stellte sie vor Spelterini hin.
«Hier 'abe ich noch mehr Beatles. Sind sie auch an den Apple-Künstler interessiert?» Spelterini nickte und begann in der Kiste zu stöbern. Er zog die fünfte LP heraus, eine auf dem DDR-Label Amiga erschienene Best-of- Kompilation von John Lennon und hielt sie dem Verkäufer hin.
«Diese 'ier?», fragte Navarre nach einem Augenblick?
«Gerne. Haben sie noch mehr? Was ist in dieser Filmschachtel dort hinten?»
«Das ist eine Originial-Filmrolle von ‚A Hard Day's Night’, die damals in den Kinos gezeigt wurden. Nicht das restaurierte Material, das sie manchmal bei Reprisen zeigen.»
«Schwarzweiss Filme haben noch Atmosphäre», meinte Spelterini. Navarre nickte und wies Spelterini darauf hin, dass die Rolle extrem rar sei.
«Nehmen Sie Scheck?» Der Händler nickte erneut und nannte den Preis. Spelterini holte seine Brieftasche hervor und begann einen Scheck auszufüllen. Während er schrieb, trat ein blonder Herr neben ihm und blätterte die Beatleskiste durch und kommentierte dabei die einzelnen Platten. Dann drängte sich eine grossegewachsene schlanke, schwarzhaarige Frau in einer Jeansjacke zu seiner rechten hin. Sie hielt Navarre eine Schallplatte hin und sprach mit ihrem Begleiter, der die Beatleskiste durchblätterte: «Hast du gesehen? Diese hier hat einen Reissverschluss um die Hülle zu öffnen. Witzig, was sich damals die Rolling Stones einfallen liessen.»
«Ja, das ist ‚Sticky Fingers’», sagte Miraget, nachdem er einen Blick auf die LP geworfen hatte.
«Andy Warhol 'at das Cover gestaltet», erklärte Navarre bevor er einen letzten Zug von seiner Zigarette nahm.
«Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute mit einem echten Warhol heimkehre und das zu so einem tollen Preis», meinte Lili Weber beeindruckt und gab Navarre die Platte. «Der Monsieur war vor mir an der Reihe...», sagte sie, als der Verkäufer ihr den Preis nennen wollte. Sie griff in ihre Handtasche und fasste ihre Dienstwaffe, weil sie sah, dass sich Raggenbass hinter Spelterini stellte. Spelterini hatte den Scheck fertig ausgefüllt und hielt ihn dem Händler hin. Navarre nahm ihn dankend entgegen und versorgte ihn in der Kasse. Er nahm die in einer Aluminiumbox verstaute Filmrolle und hielt sie seinem Kunden hin. Als Spelterini die Rolle an sich nehmen wollte, spürte er einen sanften Druck von hinten. Er glaubte, dass jemand hinter ihm durchwollte und bog sich etwas über die Plattenkisten während er die zwei Rollen mit beiden Händen fasste. Die Person hinter ihm machte die Bewegung mit, der Druck wurde fordernder. Es begann ihm zu dämmern, dass ihm jemand eine Waffe an den Körper hielt.
«Pierpaolo Spelterini, ich verhafte sie wegen Hehlerei!», sagte Raggenbass. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Spelterini hielt die Filmrolle fest umklammert, drehte sich in Richtung Ausgang ab und rammte gleichzeitig der Frau neben ihm seinen Ellenbogen in den Bauch. Lili Weber verschlug es den Atem und es wurde ihr für einen Moment schwarz vor den Augen. Sie liess ihre Handtasche zu Boden fallen während ihre Knie nachgaben. Spelterini stiess sie unsanft zur Seite und drückte sich an ihr vorbei. Miraget verfolgte die Szene aus dem Augenwinkel.
«Die Tapes!», fuhr es ihm durch den Kopf und er schickte sich an, Spelterini zu stellen. Doch zuerst musste er Raggenbass umrunden. Er sah, wie Lili Weber mit dem Rücken an den Stand des Franzosen knallte und danach unsanft auf dem Boden aufsetze. Er realisierte, wie sich Spelterini am völlig perplexen Inspektor Steger vorbei drückte und dann an Abstand gewann, weil er fünf Meter freien Raum vor sich hatte. Auch die anderen zivil gekleideten Polizisten waren von der Situation völlig überrascht. Einzig Miraget handelte, er kurvte um Raggenbass, sprang über Lili Webers Beine und zog gleichzeitig seine Pistole.
«Haltet ihn!», rief Raggenbass kommandierend.
«Die Bullen!», riefen Händler von der Eingangshalle in den Saal.
«Die Bullen!», echote es von verschiedenen Ständen im Saal.
«Scheisse, der Dicke hat eine Knarre!», rief der Verkäufer am Stand neben Navarre. Drei uniformierte Polizisten betraten den Saal. Sie mussten sich aber zuerst einen Überblick über die Lage verschaffen. Ihr Befehl hatte gelautet, die bereits verhaftete Zielperson in Gewahrsam zu nehmen. Nun drohte die Lage zu eskalieren. Hinter einem Stand begann eine Frau hysterisch zu schreien, weil sie Miraget mit der Waffe gesehen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah dieser bereits einen Katastrophenfilm mit Geiselnahme und Schiesserei ablaufen.

Inspektor Steger sah Miraget an sich vorbeieilen und gleichzeitig seine Pistole entsichern. Irgendwoher hörte er die Polizeischreie. Da Raggenbass bei Lili Weber stand, überliess er seine verletzte Kollegin ihrem Schicksal und drehte sich um, um Miraget Verstärkung zu geben. Dieser hatte nun seinerseits fünf Meter Raum vor sich. Die Tatsache, dass das Gespräch mit den Kinospulen von ‚Hard Day's Night’ bloss die Tarnung war, verlieh ihm Flügel, denn die Filmrollen für das Kino waren wesentlich grösser als die Rolle, die Spelterini davon trug. Durch den Lärm neugierig geworden, drehten sich zwei Sammler am untersten Stand, die gemeinsam in einer Kiste mit Raritäten geblättert hatten, in die Richtung des Lärms weiter oben im Mittelgang um. Der hintere, ein kurzhaariger, etwas korpulenter Typ in einer Jeansjacke der ‚Elevation Tour’ von U2 trat in den Gang, damit er an seinem Kollegen vorbeischauen konnte und versperrte so den direkten Fluchtweg. Spelterini verlangsamte ob des unerwartet aufgetretenen Hindernisses. Miraget konnte zu ihm aufschliessen. Instinktiv trat der kurzhaarige wieder einen Schritt zurück. Gleichzeitig machte der zweite Sammler, der eine Jeansjacke mit einem ‚Flaming Pie’ Pin von Paul McCartney auf der linken Brusttasche trug, einen Schritt zur Seite und war nun seinerseits dem Flüchtenden im Weg. Ehe er einen Schritt zur Seite machen konnte, streifte ihn Spelterini, der ins Taumeln geriet, da er über die Füsse des Sammlers stolperte. Gleichzeitig sprang Miraget Spelterini an, der durch die Wucht des Stosses in den Rücken plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürte. Er flog vornüber während ihn das Gewicht von Miraget zu Boden drückte. Spelterini ruderte mit den Händen ohne die Rolle loszulassen. Dennoch hatte er so viel Tempo, so dass seine Füsse keinen richtigen Halt mehr auf dem Boden fanden und er kopfüber in den Stand neben dem Eingang knallte und benommen zu Boden ging. Miragets Kopf war auf der Höhe von Spelterinis Schulterblättern, als dieser in die Harassen knallte, weshalb er vom Stoss fast nichts abkriegte. Er fiel auf den Italiener, rollte sich zur Seite und sprang wieder auf. Ausser ihm durfte niemand mehr die Beatles-Tapes in die Finger kriegen. Der vorderste uniformierte Polizist hatte die Situation erfasst und eilte zu Spelterini hin, seine beiden Kollegen folgten ihm. Sie drehten den Italiener auf den Rücken und sahen, dass er aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. Miraget nahm die Filmrolle mit den Tapes an sich und ging auf die beiden perplexen Sammler zu.
«Danke Jungs, das habt ihr grossartig gemacht!», sagte er und klopfte ihnen anerkennend auf die Schultern.
Raggenbass war in einer Zwickmühle. Sollte er Spelterini und Miraget nachhetzen oder sich um Lili Weber kümmern, die am Boden lag? Als er sah, dass sich Steger an die Verfolgung Spelterinis machte und drei uniformierte Polizisten den Saal betraten, glaubte er als Verantwortlicher für die Razzia sich um seine verletzte Assistentin kümmern zu können. Er kniete neben Lili Weber hin und nahm ihren Arm.
«Geht's?», fragte er sie besorgt. Nachdem sie röchelnd nach Atem gerungen hatte und einmal durchgeatmet hatte, spürte sie den Schmerz in ihrer Magengegend. Noch etwas bleich im Gesicht schaute sie Raggenbass an und nickte ihm fast unmerklich zu. Lucien Navarre hatte erstaunt den Ereignissen vor seinem Stand zugesehen. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, blickte er in Raggenbass ernstes Gesicht, der ihn mit einer Waffe bedrohte.
«Lucien Navarre?», fragte Raggenbass. Der Franzose bejahte verblüfft.
«Je vous arrête!»

Lili Weber setzte sich auf und hielt mit beiden Armen ihren schmerzenden Unterleib. Sie atmete ein paar Mal tief durch und fluchte. Verschwommen nahm sie wahr, dass Raggenbass mit jemandem auf französisch sprach. Das konnte nur der Händler sein, dachte sie, der hatte mit einem Akzent gesprochen, als er Spelterini bedient hatte. Langsam begann sie sich wieder an die Ereignisse zu erinnern. Sie hatte dem Verkäufer die Platte mit dem Reissverschluss gegeben und wollte ihre Pistole ziehen, als Raggenbass hinter Spelterini trat und ihn verhaften wollte. Danach hatte der Italiener sich gegen sie gedreht und sie hatte einen heftigen Schlag in ihre Nierengegend erhalten, was ihr die Sinne geraubt hatte. Das nächste woran sie sich erinnern konnte, war Raggenbass Stimme und sein besorgter Blick, als er vorhin neben ihr gekniet war. Spelterini war nirgends mehr. Spelterini...
«Na warte, du Schwein!», stiess sie zwischen den Zähnen hervor. Wenn sie verletzt worden war, wurde sie oft jähzornig. Sie schaute Richtung Ausgang und sah Miraget, die Uniformierten und eine Menschenmenge. Sie tastete nach ihrer Handtasche und suchte nach ihrer Pistole. Als sie diese gefunden hatte, nahm sie die Waffe und erhob sich unter Schmerzen.

Wütend schritt Lili Weber den Mittelgang hinab. Sie ging an den beiden Sammlern vorbei, die neben Miraget standen. Der bulligere der beiden telefonierte, der blonde schaute beinahe ehrfürchtig mit Miraget in die geöffnete Filmrolle. Sie drückte sich durch die Menschenmenge. Spelterini sass noch immer am Boden, einer der Uniformierten klebte ihm gerade notdrüftig ein Pflaster auf die Stirn. Spelterinis Hände waren bereits mit Handschellen gefesselt, der Italiener sass auf dem Boden. Als der Uniformierte sich erhob, trat Lili Weber an seine Stelle. Spelterini schaute auf und erkannte die Frau wieder, die er gerammt und zur Seite gestossen hatte, weil sie ihm im Weg gestanden hatte.
«Erkennst du mich noch, du Arsch? Bist ein richtiger Held, wehrlose Frauen in den Magen zu treten! Was, wenn ich schwanger gewesen wäre?», schrie sie ihn an und fuchelte dabei mit ihrer Dienstwaffe vor Spelterini herum. «Wenigstens kriegen wir dich, du Gefährdung der Öffentlichkeit! Du bist wegen einer Tätlichkeit gegen Beamte dran!» Inspektor Steger, der mittlerweile daneben stand, erkannte die kritische Situation. Er hatte Lili Webers Jähzorn schon einmal während einer Paintball-Schiessübung erlebt, bei der sie einen Kopfschuss erwischt hatte. Während sie mit Kopfschmerzen davon gekommen war, hatte sie ihren unglücklichen Kollegen verprügelt und ihm die Nase und eine Rippe gebrochen. Lili Weber richtete ihre Waffe wie ein Gangsta Rapper auf Speltereini, indem sie die Pistole mit beiden Händen fasste und diese nach links abdrehte und mit gestreckten Armen auf ihr Opfer zielte.
«Nicht, Lili!», schrie Steger und machte einen Satz auf seine Kollegin zu. Doch er kam zu spät. Während alle wie die Maus die Schlange die Pistole anstarrten, trat Lili Weber Spelterini mit aller Kraft in die Bauchregion. Spelterini zuckte unter dem Tritt zusammen und kippte zur Seite.
«Da hast du deine ‚Hard Day's Night’, du Wichser!», schimpfte sie und trat Spelterini nochmals. Da sie aber bereits von Inspektor Steger zur Seite gestossen wurde, traf sie nur den Oberschenkel des Italieners. Inspektor Steger schirmte mit seinem Körper Spelterini ab, drückte Lili Weber von ihm fort und fasste ihre Arme, die er in die Höhe drückte.
«Komm Lili, lass gut sein!», sprach er beruhigend auf sie ein. Spelterini rang röchelnd und pfeifend nach Atem. Lili Webers Anspannung liess nach, ihre Arme erschlafften, so dass Steger ihr die Waffe abnehmen konnte.
«Es ist vorbei. Es ist alles gut», sprach er weiterhin beruhigend auf sie ein, während er erleichtert feststellte, dass die Pistole noch gesichert war. «Es ist vorbei», sagte er und steckte die Waffe ein.

Lucien Navarre wurde von weiteren, unterdessen im Volkshaus eingetroffenen, zivil gekleideten Beamten in Gewahrsam genommen. Raggenbass sicherte seine Pistole, steckte sie wieder ein und schritt in Richtung Ausgang. Zuerst sah er Miraget mit zwei Herren diskutieren, die Filmrolle hatte er geöffnet. Dann hörte er Lili Webers wutentbrannte Stimme. Als er realisierte, dass sie ihre Dienstwaffe gezogen hatte, stockte ihm der Atem. Für einen Moment befürchtete er, dass die Situation ausser Kontrolle geraten könnte. Als zu schweres Damoklesschwert sah er vor seinem geistigen Auge die Pressekonferenz vom Nachmittag über seinem Kopf hängen. Dann sah er Inspektor Stegers beherzten Einsatz. Die anderen Personen kamen ihm wie Schaufensterpuppen vor, während Spelterini, Lili Weber, Steger und er sich bewegten. Unterdessen hatte Raggenbass zu Steger auf-geschlossen.
«Ist ja gut. Es ist vorbei. Das war alles ein bischen viel für deine erste Razzia!», sprach er als er hinzutrat und registrierte, dass Inspektor Steger ihre Waffe an sich genommen hatte. Lili Weber schaute ihn aus ihren gletscherblauen, von Tränen feuchten Augen an. Sie zitterte am ganzen Leib.
«Du bist gut gewesen, Mädchen!», sprach Raggenbass und drückte sie an sich, wähernd er ihr seinen Arm um die Taille legte. «Und jetzt gehen wir einen Kaffee trinken!», sprach er im selben väterlichen Tonfall. Sie nickte und murmelte danke, das Zittern liess nach. Entgegen seiner Stimme hielt Raggenbass Lili Weber fest umklammert und stiess sie mit bestimmten Druck vor sich her. Erst als sie das Volkshaus verlassen hatten, liess er sie los. Wortlos ging sie einen halben Schritt vor ihm und steuerte das Restaurant an. Raggenbass öffnete ihr die Türe, sie drückte sich an ihm vorbei und betrat den Raum. Sie setzte sich an einen der ersten Tische bei den Fenstern. Auf dem Helvetiaplatz standen neben den drei Autos, mit denen sie gekommen waren, Streifenwagen. Raggenbass zog seinen blauen Regenmantel aus und setzte sich Lili Weber gegenüber, nachdem er Pfeife und Tabak aus der Tasche genommen hatte.
«Alles in Ordnung?» fragte er sie. Sie nickte, doch ihre Körpersprache und ihre versteinerte Maske verrieten das Gegenteil.
«Ich... äh... ich», begann sie, «entschuldige bitte, ich hab's verbockt!». Ein Haufen Elend sass Raggenbass gegenüber.
«Hast du nicht. Eins auf den Ranzen zu kriegen ist unser Berufsrisiko. Und wir sind froh, dass Spelterini nicht geschossen hat. Wenn schon, war es mein Fehler gewesen. Ich hätte das Risiko voraussehen müssen.»
Ein tamilischer Kellner kam und nahm die Bestellung auf, Raggenbass bestellte zwei Kaffee und einen Cognac für Lili Weber.
«Ich habe vorhin total die Nerven verloren.»
«Du bist schon den ganzen Tag über nervös gewesen und hattest dein Mundwerk nicht immer unter Kontrolle. »
«Ich weiss, das ist mein Problem. Aber dass ich ausraste...»
«Werden wir in Griff kriegen. Genauso wie deine Nervosität vor dem Einsatz.»
«Ich habe Angst. Das wird eine riesige Untersuchung geben und ich werde eine Disziplinarstrafe erhalten.»
«Es wird keine Untersuchung geben. Bis morgen Mittag schreibst du mir den Entwurf des Rapports, den wir beide dann beenden.»
«Aber...»
«Kein Aber. Du bist verletzt worden. Danach hast du etwas wütend den Gefangenen verhört, wobei du etwas übermotiviert an die Sache gegangen bist. Das war dein einziger Fehler den du aufgrund der noch mangelnden Praxis begangen hast. Dein Vorgesetzter hat die nötigen Disziplinarmassnahmen bereits angeordnet. Punkt.» Ungläubig schaute Lili Weber Raggenbass an, der seelenruhig seine Pfeife stopfte. «Morgen rufe ich Annegret an. Sie ist Psychologin und eine gute Bekannte meiner Frau», sprach er, während er sich die Pfeife in den Mund steckte. Danach zündete er sie an. «Du hast ein Gewaltproblem», sprach er und blies den Rauch aus, ehe er nochmals an der Pfeife zog. «Und an der Polizeischule hat man dir nicht beigebracht, damit umzugehen.» Er zog ein weiteres Mal an seiner Pfeife und blies den Rauch aus. «Deshalb werden wir auf externe Kräfte zurückgreifen.» Lili Weber schwieg noch immer. «Nun könnte er unsere Kaffees bringen!», sprach Raggenbass und sog genüsslich an seiner Pfeife.
«Die werden mich in der Luft zerreisen!», sagte sie endlich.
«Wer?»
«Die Zeugen, die Presse. Morgen heisst es wieder, dass bei der Stapo bloss Rambos arbeiten würden.»
«Nicht, so lange ich den Einsatz leite und mit der Presse spreche. Spelterini ist gestürzt und hat eine Platzwunde am Kopf. Es hat Blut gegeben. C'est tout. Die Mehrheit im Saal hat gar nicht mitgekriegt, was sich abgespielt hat.»
«Bist du sicher?»
«Absolut. Eine grosse, dunkelhaarige Frau haben knapp zwanzig Personen gesehen, davon sind ein Dutzend Polizisten und zwei Verbrecher.»
«Mmh», gab Lili Weber wenig überzeugt von sich. Der Kellner brachte die Bestellung. Als er sich vom Tisch entfernte fuhr Raggenbass mit seiner Analyse der Situation fort.
«Die Tatsache, dass wir gestohlene, unveröffentlichte Aufnahmen der Beatles an der Schallplattenbörse sicher gestellt und den Dieb verhaftet haben, wird die Berichterstattung dominieren.» Noch immer ungläubig blickte sie Raggenbass an. «Es wird heissen, dass unter dramatischen Umständen Pierpaolo Spelterini, ein international gesuchter Hehler von Kunstwerken, an der internationlen CD- und Schallplattenbörse in Zürich festgenommen werden konnte. Und nun trink deinen Cognac, danach geht es dir wieder besser.» Lili Weber lächelte und nahm das Glas.
«Prosit Raggenbass. Auf dass du recht hast.»
«Bestimmt», sagte er und trank seinen Kaffee auf einmal aus.
«So, nun muss ich zurück und nach dem Rechten sehen. Wir sehen uns später im Büro.»
«Okay. Bringst du mir meine Handtasche und die Schallplatte mit, die ich am Stand verloren habe? Es war Platte der Rolling Stones mit einem Reissverschluss in der Hülle, den man öffnen kann.» Raggenbass nickte und legte fünfundzwanzig Franken auf den Tisch.

«Wow, eine Powerfrau», sagte der Sammler mit dem Flaming Pie zu Miraget, als er sah, wie Lili Weber Spelterini trat.
«Oh ja, das ist sie», sprach Miraget, «aber sonst ganz ist sie ganz umgänglich.»
«Das sieht man.»
«Nochmals danke für eure Hilfe», sagte Miraget und wandte sich ab.
«Wen hast du angerufen?», fragte der blonde Sammler.
«Der Redaktion. Ich wurde eben beauftragt, einen Bericht zu machen.»
«Schon wieder? Radio Zürileu hat doch erst letztes Jahr über die Börse berichtet», feixte der blonde, bevor er anfügte, «du kennst ja die Regeln. Mich darfst du immer interviewen. Musst mir bloss das MP3 File des Beitrages mailen.»
«Um 14.00 Uhr ist die Medienkonferenz», sagte Miraget, der die Unterhaltung noch gehört hatte.
«Wo?», fragte der Journalist.
«Am üblichen Ort. Aber frag zur Sicherheit in der Redaktion nach. Und noch was, Elevation Tour und Flaming Pie: Der Vorfall vorhin hat nicht statt gefunden.»
«Wie bitte?», fasste der Elevation Tour genannte Journalist nach.
«Bis jetzt glaubte ich den Medien ja nicht, aber nun habe ich's mit eigenen Augen gesehen, dass bei der Stapo Rambos arbeiten...», fügte Flaming Pie an.
«Deine Stimme kenne ich doch...», sagte Miraget. «Du bist der Brunner, der die Nachrichten liest.»
«Und Sie sind?»
«Miraget. Nochmals: Der Typ ist gestürzt und hat sich dabei den Kopf gestossen. Dass er über euch beide gestolpert ist, das dürft ihr gerne noch euren Enkeln erzählen. Aber...»
«Schon gut, ich habe verstanden. Was kriegen wir dafür?», fragte der blonde. Miraget grinste breit.
«Zeigt mir mal eure Taschen», forderte er die beiden auf. «Na los, Flaming Pie, du hast mir doch eben vom Stand mit den Bootlegs im Foyer berichtet. Her mit den Taschen. Wir haben Anweisung, jegliche Straftat hier drin zu unterbinden. Weshalb ich gezwungen bin, sämtliche Raubkopien zu beschlagnahmen.»
«Höre ich da einen gewissen Unterton?», fragte Christoph Brunner.
«Es sei denn...», antwortete Miraget.
«Ich sprech' es mit der Redaktion ab. Ich habe genau gesehen, dass die schwarzhaarige Frau den anderen getreten hat.»
«Welche schwarzhaarige Frau?», fragte Miraget ganz Unschludslamm.
«Eben war sie noch da!», stellte Brunner verblüfft fest.
«No woman no article», verhunzte Miraget einen Titel von Bob Marley. «Ich weiss nicht, von wem ihr redet. Aber wenn ihr die Dame seht, bestellt ihr einen Gruss von mir.»

Um sechs Uhr Abends sassen Lili Weber, Miraget, Paul Steiner und Ewan Earle von EMI Records mit Raggenbass in dessen Büro. Eben waren in den Nachrichten von Schweizer Radio DRS und Radio Zürileus ein Bericht über die Festnahme von Pierpaolo Spelterini gesendet worden. Lili Webers Ausraster war in Christoph Brunners Bericht mit keinem Wort erwähnt worden. Erleichert sass sie auf ihrem Stuhl.
«Mr. Raggenbass, on behalf of EMI Records, I'd like to thank you», sprach Ewan Earle.
«Nichts zu danken. Ich habe bloss meinen Job getan.»
«Sie wissen nicht, wie wichtig die Tapes für uns sind!», ergänzte Paul Steiner. «Auch dir, Miraget, möchte ich danken. Dein Hinweis auf die internationale Schallplatten- und CD-Börse hat sich als richtig erwiesen. Und dein Tipp mit Kommissar Raggenbass war nochmals Gold wert.» Miraget nickte.
«Was heisst, dein Tipp mit Kommissar Raggenbass war Gold wert?», fragte Lili Weber erstaunt.
«Als die Bänder vor sechs Wochen aus den Archiven gestohlen worden waren, haben unsere Versicherung und wir alle Hebel in Gang gesetzt, sie wieder zurück zu erhalten.»
«Wobei du wissen musst, dass das Archiv mit den unveröffentlichten Beatlesaufnahmen besser geschützt ist als Fort Knox», fügte Miraget an.
«Das nicht ganz», meinte Paul Steiner schmunzelnd, «doch sie sind sehr gut gesichert. Nur eben, vor sechs Wochen gab es Revisionsarbeiten an der Lüftung. Und so ist es den Dieben gelungen, die Tapes zu stehlen. Scotland Yard fand schnell heraus, dass es beim Diebstahl Ähnlichkeiten gab zu anderen Kunstdiebstählen, bei denen Bilder aus europäischen Museen gestohlen worden waren. Die Spuren aller Diebstähle führten zu Lucien Navarre. Vor drei Wochen wollte Scotland Yard in Bromely bei London Navarre in seinem Kunstantiquariat festnehmen. Doch Navarre entkam. Die Polizeiaktion war insofern erfolgreich, weil er keine Gemälde mitnehmen konnte. So konnten Werke von Renoir, Van Gogh, Picasso, Basquiat und Munch sicher gestellt werden. Es wurden gar Artefakte gefunden, die nach dem Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak aus dem Nationalmuseum in Bagdad verschwunden waren. Doch die Beatlestapes blieben verschollen. Über die Ermittlungen muss ich euch ja wohl nichts erzählen. Letzte Woche erhielt einen Anruf von Ewan, der mir die ganze Geschichte erzählte und dabei erwähnte, dass Navarre wohl in der Schweiz sei.»
«Das klingt ja alles wie in einem Thriller. Dennoch verstehe ich die Verbindung zu Miraget noch nicht», monierte Lili Weber.
«Ganz einfach, ich kenne Miraget schon länger. Zufälligerweise haben wir uns letztes Wochenende getroffen. Und da ich weiss, dass er nicht bloss ein guter Privatdetektiv ist, sondern auch ein grosser Beatlesfan, habe ich ihn beauftragt, Nachforschungen über Navarre anzustellen.»
«Und am Mittwoch war die ominöse kurzfristig anberaumte Konferenz, an der Raggenbass teilnehmen musste», schloss Miraget den Bericht.
«Und worüber wurde an dieser Konferenz gesprochen?», hackte Lili Weber nach.
«Neben den anwesenden Herren hier waren noch Leute von England, der Bundeskiminalpolizei, der Kantonspolizei Zürich sowie der Stapo dabei. Zuerst wurden wir über den Fall informiert, danach hatten wir noch etwas Weiterbildung in Sachen internationalem Kunstschmuggel. Die Vertreter der Bundeskriminalpolizei informierten uns, dass Spelterini am Dienstag die Schweizer Grenze bei Chiasso überschritten hatte», ergänzte Raggenbass.
«Und dann ging es daran, den Plan für das Wochenende auszuarbeiten», schloss Miraget.
«Nett, dass ich doch noch erfahre, weshalb ich meinen Bauch geopfert habe», meinte Lili Weber augenzwinkernd.
«Du meinst, für eine Angelegenheit mit solcher Tragweite würdest du es wieder tun?», fragte Miraget.
«Das nicht gerade. Aber bei so einer grossen Kiste mitzuwirken, hat trotzdem Spass gemacht», sagte sie und griff nach der Sticky Fingers LP, die auf ihrem Schreibtisch lag. Danach begann sie mit dem Reissverschluss zu spielen.
«Nun möchte ich aber doch noch hören, was wir heute gerettet haben», sagte Raggenbass. Ewan Earles Blick verfinsterte sich. Doch Miraget ging zu einer Stereoanlage, die mit einem Spulentonband verbunden war.
«We have to check if we' ve got the right tapes», sagte Miraget. Raggenbass, der kein Englisch sprach, nickte.
«I guess this would not be in the sense of the Beatles», sprach Earle.
«Neither a Rolling Stones tape in the Beatles' archive would be!», sagte Miraget bestimmt und drückte die Play-Taste. «And we have to be proud, that the City Police of Zurich still is able to play 1 inch tapes», fügte er an. Unterdessen begann das Band zu laufen, aus den Lautsprechern hörte man die Stimme von George Martin, der die Nummer des Takes und den Titel angab. Dann hörte man Paul McCartney anzählen. Musik erklang für wenige Augenblicke, dann brach sie ab. John Lennon und Paul McCartney sprachen durcheinander. Nach einem kurzen Moment Stille hörte man Ringo Starr die Drumsticks achtmal zusammenschlagen, danach setzte die Musik wieder ein. Andächtig lauschten die Anwesenden den vertrauten und doch so anders klingenden Songs.

«Eins nähme mich noch Wunder», sprach Raggenbass als Ewan Earle und Paul Steiner gegangen waren. Sie hatten die Tapes wieder in eine rote Archivschachtel von EMI Records verstaut und diese in einem Aktenkoffer eingeschlossen.
«Als ich das Volkshaus verlassen hatte, lief ich doch prompt einem Journalisten von Tele Züri in die Arme. Wie haben die's geschafft, so schnell an die Information über die Ereignisse an der Schallplattenbörse zu kommen?»
«Ganz einfach, weil sie einen Tipp gekriegt hatten», sagte Miraget. Raggenbass und Lili Weber schauten ihn fragend an.
«Die Typen, die Spelterini zu Fall gebracht haben, waren von der Presse. Der eine der beiden war Christoph Brunner von Radio Zürileu und hat gleich nachdem die ganze Chose vorbei gewesen war, mit der Redaktion telefoniert. Der andere war vom RockStar Magazine.»
«Saupack!», entfuhr es Raggenbass. Miraget schnalzte verneinend mit der Zunge.
«Alles halb so wild, unsere Kung Fu Lili hat er ja nicht in seiner Berichterstattung erwähnt. Wobei ich da noch etwas nachhelfen musste.»
«Jesses Gott!», sagte Lili Weber, «Ich weiss genau, welche beiden das waren. Und wie hast du das hingekriegt, dass die Presse nicht auf mir rumhackt?»
«Die beiden sind Sammler wie ich. Und so habe ich sie an ihrer empfindlichsten Stelle gepackt.»
«Und die wäre?», erkundigte sich Raggenbass.
«Ich verrat's dir, wenn wir wieder einmal wegen Kunstraub ermitteln!», sagte Miraget bestimmt.

Eine halbe Stunde später setzte er sich in seinen schwarzen Citroën Pluriel. Aus seiner Jackentasche nahm er eine Musikasette hervor und wollte sie in den Radio schieben.
«Shit, weshalb haben alle modernen Autos bloss noch CD-Spieler?», fragte er sich und legte die Kassette auf den Beifahrersitz. Miraget fuhr los und spurte in den Sonntagabendverkehr ein.
«Saupack!», ahmte er grinsend Raggenbass nach, während er vor einer roten Ampel am Bahnhofquai hielt.
«I am deeply sorry, dear Ewan. You were terribly right, ein Sammler bleibt ein Sammler. Aber du kannst versichert sein, meine Sammlung ist eine Einbahnstrasse. Was einmal drin ist, kommt nicht wieder heraus!», sprach Miraget, griff nach der Kassette und küsste sie.
«White Album Sessions, Herbst 1968...», sagte er und küsste nochmals die Kassette. Hinter ihm hupte der nachfolgende Autofahrer, weil die Ampel schon längst auf grün stand.

 


 
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