Apophis
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Er fühlte sich so frei und leicht wie ein Vogel. Wenn er diesen Augenblick nur mit seinen Lieben teilen könnte. An seine Familie denkend, jauchzte Kommander Petrus vor Glück und schlug einen Purzelbaum. Vergnügt lachte er auf und schaute glücklich zum Licht hinüber, da nahm er aus dem rechten Augenwinkel den drohenden Meteoritenschwarm wahr. Er eschrak heftig und begann im selben Augenblick unkontrolliert zu trudeln und drohte ins unendliche All abzudriften…

Wie es im Amerika dieser Tage üblich war, gehörte die Besatzung der «Genezareth» bereits zu den Stars des öffentlichen Lebens, bevor sie zu ihrer Mission aufgebrochen war. Ihr Start sollte an einem windigen Mittwochabend um 19.45 Uhr in Cape Canaveral erfolgen. Am selben Vormittag, mitten in den Startvorbereitungen zwischen Morgenrapport und dem Wetterbriefing am Nachmittag, hiess es für die sieben Besatzungmitglieder aber, die Grösse Amerikas fernsehgerecht den Daheimbleibenden zu demonstrieren. Das war bitter nötig, denn von Präsident Kennedys Raumfahrtprogramm, das vor dem Hintergrund des Kalten Krieges die Landung auf dem Mond und schlussendlich die Herrschaft über die Welt und den erdnahen Orbit ermöglicht hatte, war rund ein Menschenleben nach «Apollo 11» nicht mehr viel übrig geblieben. Schlimmer noch, Amerika war heute weiter davon entfernt, die führende Raumfahrtnation zu sein, als es dies 1957 nach dem Start des «Sputniks» durch die Sowjets gewesen war. Kaum war der Kalte Krieg vorbei gewesen, hatten einige Senatoren die Raumfahrt als teures Hobby für Fantasten betrachtet und das Budget der NASA nach belieben gestrichen. Zudem betrachteten dieselben Volksvertreter den Klimawandel, den die NASA-Satelliten bildlich dokumentierten, als linkes Märchen. Wegen den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den darauffolgenden ruinösen Rachefeldzügen in Afghanistan und im Irak, war ein grosser Teil der für die Raumfahrt vorgesehenen Mittel in bodenlose militärisch-irdische Fässer umgeleitet worden. Nach dem verheerenden Kollaps des Finanzsystems im Herbst 2008 und der folgenden staatlichen Rekordverschuldung, musste Präsident Obama 2011 das Ende des Space-Shuttle-Programms verkünden. Nach dem mutwillig provozierten staatlichen Shutdown zwei Jahre später und dem folgenden Beinahe-Staatsbankrott, begann es ersten Parlamentariern in Washington zu dämmern, wie kurzsichtig ihre auf den eigenen Benefit ausgerichtete Politik der vergangenen dreissig Jahre gewesen war. Aufgrund des grossen Forschungsaufwands zur Entwicklung neuer Raumfahrzeuge hatte sich die dem Steuerzahlenden als effizient angepriesene private Raumfahrt bereits als krude Fantasie einiger antietatistischer Apologeten entpuppt, bevor überhaupt nur der erste von leicht verschrobenen Internet-Milliadären finanzierte Orbiter seinen Jungfernflug absolvieren konnte. Mangels eigener moderner Raumtransporter vertrauten immer mehr amerikanische Hochschulen ihre Expeditionen den vereinten Europäern sowie den singulären Russen, Indern, Chinesen und Japanern an. Als sich diese dann zu allem Überdruss noch in den Zwanzigerjahren unseres Jahrhunderts erfrecht haten, bemannte Missionen zum Mond und Mars zu senden, drohte die amerikanische Mondlandung von 1969 zu einem ebenso verstaubten Ereignis in den Geschichtsbüchern zu werden, wie es die Landung von Kolumbus in der neuen Welt bereits geworden war.

Vor wenigen Jahren haben dann himmlische Probleme die Raumfahrt massiv verteuert und beinahe verunmöglicht. Im 20. und frühen 21. Jahrhundert hatte man die abgetrennten Raketenteile und ausrangierten Satelliten als künstlichen Ring um unseren Planeten kreisen lassen. Durch ihre ständigen Kollisionen würden sie sich parktischerweise selbst zu Staub verkleinern, hatte man naseweis gedacht, um gegen das Millennium festzustellen, dass schon ein winziger Splitter dieses Weltraumschrotts wegen seiner hohen Geschwindigkeit, mit der er die Erde umkreiste, im Kollisionsfall massive Schäden bei den getroffenen Satelliten anrichten konnte. Apophis verstärkte nun das menschgemachte Schrottproblem um ein Vielfaches und war zum grössten Feind der Raumfahrt geworden. Es war noch die NASA, die 2004 den 300 Meter grossen Asteroiden entdeckt und zum wahrscheinlichen Weltengericht erklärt hatte. Wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung kreuzte Apophis 2029 die Erde im geringen Abstand von 40 000 Kilometern, 2034 schrammte er mit nur noch 12 000 Kilometern vorbei. 2036 schien ein Aufprall unausweichlich zu sein. In einem gemeinsamen Willens- und Kraftakt beschloss die bedrohte Menschheit, Apophis mittels zweier gleichzeitig einschlagenden Atomraketen zu zerfetzen und ihn so von seiner fatalen Flugbahn abzulenken. Wegen Eifersuchtsszenen zwischen den Grossmächten waren es schlussendlich vier Atombomben gewesen: eine amerikanische und je eine russische, chinesische und indische. Unbesehen der Grösse des Atomschlages gegen den Meteoriten, war der Preis für dieses riskante Unterfangen hoch: Anstatt eines grossen, apokalyptischen Einschlages hat es nach einem spektakulären Trümmerregen, der als weltweit sichtbarer Meteoritenschauer auf Mutter Erde niedergegangen war, bis heute unzählige kleine Einschläge gegeben. Die übrig gebliebenen Apophistrümmer waren ein trotziges Mahnmal und zur grössten Gefahr für die geostationären Satelliten im Orbit geworden. An Raumfahrt war nur noch während bestimmter Zeitfenster im Jahr zu denken.

Wohl waren Hunderte Trümmer als Meteoriten in Amerika niedergegangen, doch die Gefahr, von einem Moment auf den anderen pulverisiert zu werden, war von der Bevölkerung als reeller und grösser empfunden worden, als es die Bedrohung durch Ureinwohner, Faschisten, Kommunisten und Dschihadisten je gewesen war. Heute, eine Dekade nach dem grössten von Menschen gemachten Feuerwerk, war die NASA wieder auf dem Weg zurück zu alter Grösse. Nun floss wieder mehr Geld in die nationale Raumfahrt, das man bei scheinbar unwichtigeren Budgetposten wie dem öffentlichen Verkehr, der Bildung, dem Gesundheitswesen, den Renten und der Instandhaltung der Infrastruktur einsparte. Was die Leute auch nicht weiter zu stören schien, solange man noch immer vom Tellerwäscher zum Millionär werden konnte. Oder wie Kommander Simon Petrus, der es vom einfachen Fischer von den Apostle Islands im Lake Superior zum Kapitän der «Genezareth» gebracht hat. Obwohl der neuerliche Aufschwung der Raumfahrt auf Kosten der Allgemeinheit ging, liessen sich die Massen in einer von Marketingstrategen gesteuerten Welle des Patriotismus dafür begeistern. Und so waren die Raumschiffbesatzungen zwar umstrittene Helden, doch sie brachten mit ihren Missionen im Sonnensystem die amerikanische Bevölkerung wieder zum Träumen von einer Zukunft, in der alles möglich zu sein schien. Und so war es gekommen, dass die sieben Besatzungsmitglieder der «Genezareth» mitten in den Startvorbereitung, zwischen Morgenrapport und dem Wetterbriefing, nach Miami geflogen wurden, um im «Sun Life» Stadion fernsehgerecht zur Mittagszeit wohltätige Organisationen während der Essensausgabe an Obdachlose und Bedürftige zu unterstützen und Autogramme zu verteilen.

Der Start am Abend war problemlos erfolgt. Die «Genezareth» durchquerte den Apophis’schen Trümmergürtel ohne Komplikationen, lediglich ein punktgrosser Metallsplitter eines ehemaligen Fernmeldesatelliten war mit der Cockpitscheibe kollidiert. Nach einem sonst ereignislosen Flug zum Mond waren drei Tage Aufenthalt in der Forschungsstation «Neil Armstrong» am Südhang des Plato-Kraters im Mare Imbrium vorgesehen. Die «Genezareth» hatte Instrumente für ein Biolabor transportiert und sollte nun Professor Andreas vom Massachusetts Institute Of Technology und vier seiner Studenten zur Erde zurückbringen. Sie hatten ein Treibhaus eingerichtet, worin ein Experiment mit genmanipulierten Pflanzen durchgeführt werden sollte. Diese würden dereinst in den schwebenden Gärten des geplanten Habitates «Genesis» auf dem Mars gezüchtet werden. Sie sollten besser der kosmischen Strahlung widerstehen. Der Rückflug zur Erde verzögerte sich wegen starker Sonnenwinde, welche die Kommunikation zwischen der «Genezareth» und dem Kontrollzentrum in Houston verunmöglicht hatten, um zwei Tage.

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Der Mond hinter dem Seitenruder und der Erde. – Foto: nasa.gov

Thomas Dydimos, Navigator auf der «Genezareth», trat seine Schicht an. Zusammen mit Kommander Petrus und dem ersten Offizier, Bartholomew, sollte er den Orbiter sicher zur Erde pilotieren.
«Freut euch, in zwei Tagen können wir in ein saftiges Steak und einen gegrillten Maiskolben beissen», frohlockte er und fügte an: «Wir sind zwar erst acht Tage da draussen, aber wie habe ich die feste Nahrung vermisst. Ich hoffe schwer, dass die Forschung auf der ‹Genesis› erfolgreich sein wird, damit ich mich im hohen Alter nicht bloss von Brausetabletten ernähren muss.» Thomas war griechischstämmig und hatte über seine weit verzweigte Familie Anteile an einem europäischen Altersheim in der Saturnumlaufbahn erworben. Weder die technische Machbarkeit noch die lange Reisedistanz hielten ihn davon ab, Unsummen in seinen Traum zu investieren. Für ihn bildete die Astronautennahrung, die seit dem 20. Jahrhundert keine grossen Fortschritte mehr gemacht hatte, das Hauptproblem. Sollte er wider erwarten seinen Lebensabend auf der Erde verbringen, würde sein Platz im extraterrestrischen Altersheim auf eines seiner drei Kinder übergehen.
«Zuvor müssen wir uns aber noch durch ein Heer von Journalisten kämpfen und den busweise herangekarrten Behinderten und Schulklassen freundlich lächelnd Autogramme verteilen, ehe die Blutsauger der Space-Center-Ärzte uns wie Moskitos aussaugen werden…», seufzte Bartholomew.
«Auf diese Weise habe ich das noch nie betrachtet, Officer…», sinnierte Petrus.
«Wie denn, Sir?»
«Ihr Zynismus kann manchmal äusserst nervtötend sein, aber dieses Mal haben Sie den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, mit welchen Opfern Amerika wieder zum Mond fährt, und mit wessen Mitteln das mehrfach gestoppte Marsprogramm wieder aufgenommen werden konnte?»
«Das sind immense Opfer, Sir», antwortete Bartholomew. «Auch wenn sie im Vergleich zu unseren Kriegen bloss dem Preis einer Packung ‹Mother Mary’s Crisp & Chocolate Cookies› entsprechen.»
«Wieviele Leute können sich nicht einmal eine Packung Schokokekse kaufen? Meine Eltern hatten als Staatsangestellte in Griechenland während der Schuldenkrise Anfang des Jahrhunderts monatelang kein Gehalt mehr erhalten und wurden zu schlechter Letzt noch entlassen…», warf Thomas Dydimos ein.
«Ich fragte mich die ganze Zeit über, weshalb mich die Abflüge und Ankünfte auf der Erde dermassen nerven, während hier draussen alles seinen geordneten Gang in der kosmischen Ruhe nimmt.»
«Was stört Sie denn Sir? Zu viele Griechen?», fragte Bartholomew zynisch.
«Der ganze Zirkus, der um unsere Flüge veranstaltet wird. Vor Wochenfrist haben wir in Miami karitative Organisationen bei der Speisung von 5000 Obdachlosen fernsehgerecht unterstützt. Wenn wir landen, werden wir ebenso fernsehgerecht Kinder und Krüppel berühren und ihnen Autogramme geben, so als ob dieses infantile Theater ihre Situation verbessern würde.»
«Das ist Amerika, Sir, wenn ich mir diese europäisch gefärbte Bemerkung erlauben darf!», warf Thomas Dydimos, durch Bartholomews Bemerkung gekränkt, ein. Doch ehe Petrus antworten konnte, erklang eine Sirene und einige Warnlichter begannen zu blinken.
«Meteoritenwarnung!», rief Bartholomew alarmiert.
«Aber das Zeitfenster sollte doch ausreichen, um unbehelligt durch den Apophis’schen Trümmergürtel fliegen zu können?», bemerkte Petrus ärgerlich fragend.
«Heilige Mutter Gottes! Das ist ein Meteoritenschwarm…», rief Thomas Dydimos schockiert, als er auf dem Radarschirm den Grund für den Alarm entdeckte. Bartholomew drückte einen roten Knopf, eine Sirene erklang. Die restlichen vier Besatzungsmitglieder und die fünf Wissenschaftler des MIT kamen im Laufschritt auf die Brücke geeilt, setzten sich auf ihre Sitze und schnallten sich an.
«Danke, Officer. Sie waren schneller, als ich den Befehl geben konnte!», sagte Petrus leise zu Bartholomew.

Jedes Besatzungsmitglied sass auf seinem Posten und erfüllte mechanisch wie ein Roboter seine Aufgabe. Reger Funkverkehr zwischen der «Genezareth» und dem Kontrollzentrum in Houston herrschte. Niemand konnte sich das plötzliche Auftauchen des Meteoritenschwarmes erklären. Zu allem Elend verstärkte sich erneut der Sonnenwind und liess die Verbindung zwischen dem Raumschiff und der Erde mehrmals abbrechen.
«Wir nähern uns der Erdatmosphäre, Sir», meldete Bartholomew.
«Der Treibstoff reicht nicht aus, um dem Meteoritenschwarm auszuweichen», meldete Thomas Dydimos nach einer kurzen Überprüfung der Tanks.
«Schalten Sie den Autopiloten aus. Wir fliegen manuell», befahl Kommander Petrus.
«Auf Sicht fliegen ohne Funkverkehr?», fragte Thomas Dydimos zurück.
«Entweder prallen wir an der Atmosphäre ab, landen irgendwo in der sibirischen Steppe oder wir werden zusammen mit den Meteoriten verglühen!», rief Professor Andreas verängstigt.
«Wenigstens verglühen wir schöner als diese verdammten Meteoritentrümmer, da dies unsere Atmosphäre ist!», brummte Bartholomew genervt.
«Ich bitte alle, Ruhe zu bewahren! Unser Radar funktioniert einwandfrei, so dass wir durch den Meteoritenschauer navigieren können. Seit Apophis gehört dies weltweit zur Grundausbildung eines jeden Raumschiffpiloten. Auch ohne Sonnenwinde bricht beim Eintritt in die Erdatmosphäre der Funkkontakt wegen des heissen Plasmas, das unser Raumschiff umgibt, für einige Minuten ab. Wir machen es wie unsere Grossväter beim Apollo-Programm und halten stur einen Winkel von 6,5 Grad ein. Dann werden wir eine Punktlandung vom Feinsten hinlegen», sprach Kommander Petrus.

Jedes der Bestzungsmitglieder hatte seine Aufgaben verinnerlicht und konzentrierte sich auf die Abläufe. Professor Andreas, als Passagier zu untätigem Warten verurteilt, schwitzte ob des schaurig schönen Spektakels, das sich mit einem Blick aus dem Fenster und auf den Radarschirm bot, Blut. Der Anblick der immer grösser werdenden Erde mit ihren weissen Wolken, den braungrünen Landmassen Amerikas und dem azurblauen Meer wirkten beruhigend. Die leuchtenden Punkte auf dem Radarschirm, die alle einen Meteoriten auf möglichem Kollisionskurs mit der Raumfähre darstellten, wollte er nicht sehen. Sie waren durch ihr Blinken und dem piepsenden Summton auf der Brücke omnipräsent. Professor Andreas starrte aus dem Fenster und entdeckte das Licht als Erster. Es kam über den Erdhorizont von Hawaii her und schien Kurs auf die «Genezareth» zu nehmen. Auch die anderen Besatzungsmitglieder bemerkten das Licht, weil es die Brücke des Raumschiffs taghell zu erleuchten begann. Doch weder auf den Monitoren noch auf dem Radar war etwas zu sehen. Und auch Houston meldete nichts Aussergewöhnliches. Das Licht wurde immer grösser und als es die «Genezareth» erreicht hatte, flog es parallel neben ihr her.
«Da ist ein Mensch drin?!», stellte Professor Andreas erstaunt fest. Auch die übrige Besatzung konnte ihn sehen. Sie schrien vor Entsetzen, weil sie dachten, es wäre ein Gespenst oder ein Ausserirdischer.
«Ich bin es doch! Fürchtet euch nicht!», begann er sogleich mit ihnen zu reden. Verblüfft schwiegen die Zwölf auf der Brücke der «Genezareth». Die Gestalt hob ihre Hand winkte der Besatzung freundlich lächelnd zu. Wieder schrien die Zwölf und schwiegen danach verängstigt, während die Gestalt ihnen zulächelte und neben der «Genezareth» spazierte und ein Lied zu pfeifen schien. Schlussendlich brach Bartholomew das Schweigen: «Auf die Gefahr hin, für verrückt erklärt zu werden, aber das erinnert mich an Jesus’ Gang auf dem Wasser.»
«Wusste gar nicht, dass Jesus gepfiffen hat», sagte Philipps, einer der Studenten verdutzt.
«Was würde denn Jesus pfeifen?», fragte Mathew, ein zweiter Student.
«Vielleicht das ‹Halleluja›?», schlug Luke, Doktorand in spe, vor.
«Das aus Händels ‹Messias› oder jenes aus Mozarts ‹Exsultate Jubilate›?», überlegte sich Mathew.
«Vielleicht pfeift er auch nur ‹Ob-La-Di, Ob-La-Da› oder die Nationalhymne Israels», brummte Bartholomew.
Um dem Geschnatter seiner Passagiere Einhalt zu gebieten, rief Kommander Petrus nach einem prüfenden Blick aus dem Cockpitfenster mit autoritärer Stimme: «Wer bist du?»
«Ich bin es! Kennst du mich denn nicht mehr?», sprach die Gestalt beruhigend und lächelte.
«Wie kommt es, dass du ohne Raumanzug und Raketenrucksack durch den Weltraum schwebst?», fragte Petrus nun irritiert.
«Weil ich es bin, kann ich über Wasser wandeln oder einen Weltraumspaziergang unternehmen, wann immer ich möchte.»
«Fürwahr, das ist Jesus!», sagte der Navigator, Johannes, ergriffen. Die Gestalt lächelte gütig und winkte Johannes zu.
«Herr, wenn mein Navigator Recht hat und du wirklich Jesus bist, dann lass mich durch den Weltraum und den Meteoritenschwarm zu dir kommen!», rief Kommander Petrus.
«Komm her!» antwortete Jesus aufmunternd. Nach kurzem Zögern löste Petrus seinen Sicherheitsgurt und erhob sich mit einem mulmigen Gefühl.
«Brauche ich einen Raumanzug?», fragte Petrus und hielt inne.
«Vertraue mir. Ich bin es doch! Du brauchst keinen Raumanzug. Komm zu mir. Wir werden zusammen einen Weltraumspaziergang machen.» Petrus begab sich ins Materiallager und nahm eine Fernsprecheinheit. Er steckte sich einen Knopf ins Ohr und klemmte sich den Transmitter an den Gürtel. Danach begab er sich in die Schleusenkammer.
«Öffnen Sie die Schleuse, Officer Bartholomew!», befahl er. Dieser verfolgte ihn auf einem Monitor. In seinem Kopfhörer konnte er Petrus aufgeregt atmen hören.
«Yes, Sir!», sagte der Offizier und drückte zitternd einen Knopf. Die Schleusenkammer wurde automatisch verriegelt und eine Tür in der Ladeklappe öffnete sich. Während Bartholomew auf den Monitor starrte und das Schlimmste befürchtete, trat Petrus in die offene Luke. Vor sich sah er das Licht, dahinter die Erde und den Sternenhimmel. Mutig machte er einen Schritt in die unendliche Leere und dann noch einen. Er hatte die Raumfähre verlassen und schwebte durch den Orbit Jesus entgegen.

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Die Erde (Pfeil) als Stern aus der Saturnumlaufbahn gesehen im Sommer 2013.
Foto: nasa.gov.

Die Erde unter seinen Füssen war so wunderschön. So blau. So verletzlich. So klein. Das Licht vor ihm und all die weissen Punkte der Sterne, alles funkelte so unglaublich klar, als ob es kleine Edelsteine wären… Der Mond müsste sich in seinem Rücken befinden. Kommander Petrus drehte sich um. Hinter dem Seitenruder der «Genezareth» leuchtete er, direkt über Island, das von der Dämmerung erreicht wurde. Dahinter, anhand der unzähligen kleinen und grossen Lichtpunkte, konnte er die Umrisse Europas erkennen: die iberische Halbinsel, Frankreich, England. Die grossen Lichtkegel waren London, Paris und das Ruhrgebiet, wo es dunkel war, befand sich der Alpenkranz. Das war das schönste, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Er fühlte sich so frei und leicht wie ein Vogel. Wenn er diesen Augenblick nur mit seinen Lieben teilen könnte. An seine Familie denkend, jauchzte Kommander Petrus vor Glück und schlug einen Purzelbaum. Und dann schlug er noch einen und noch einen. Vergnügt lachte er auf. Er sah Jesus im Licht über den Apostle Islands im Lake Superior und war sich sicher, dass er sich mit ihm freute, da nahm er aus dem rechten Augenwinkel den drohenden Meteoritenschwarm wahr. Er erschrak heftig und begann im selben Augenblick von der «Genezareth» abzudriften und unkontrolliert zu trudeln. Er begann die Kälte des Weltraums zu spüren, die Luft wurde aus seinen Lungen gesogen.
«Was mache ich eigentlich hier draussen?», fragte er sich. «Ich werde an explosiver Dekompression sterben!», schoss es ihm durch den Kopf. Kaum hatte er es gedacht, begann er die unweigerlichen Anzeichen dafür zu spüren und er schloss vor Angst seine Augen. Während ihm das All die letzten Reste der Luft aus den Lungen saugte, begannen seine Augen und Haut zu gefrieren, derweil das Blut in seinen Adern zu kochen begann und schlussendlich verdampfen würde. Seine Arterien würden platzen. Durch das nachfolgende Entweichen von Gasen würde sein Körper wie bei einer Wasserleiche auf das doppelte seines Umfangs anschwellen, so dass er schlussendlich an einer Hypoxie sterben würde. Sollte er als Kämpfer aber noch immer am Leben sein, so würde schlussendlich sein Herz einer Supernova gleich explodieren. Kommander Petrus öffnete seine Augen und sah das Licht vor sich schweben.
«Herr, rette mich!», schrie er in Panik. Im Wissen darum, dass es im All keine Lufthülle gab, welche die Schallwellen seines Schreis weitertragen würde, und dass er mit dem Schrei seinen Lebensatem ausstiess. Sogleich streckte Jesus seine Hand aus und hielt ihn fest. Petrus schloss seine Augen, sonst würde er sterben, da war er er sicher. Doch sein Körper funktionierte wieder normal. Er konnte wieder atmen. Gemeinsam kehrten sie zur Raumfähre zurück. Als sie diese erreichten, wurde er ohnmächtig. Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er Jesus sagen:
«Du Kleingläubiger! Warum hast du gezweifelt?» Jesus trug ihn auf den Händen in die Krankenstation der «Genezareth», ehe er sich auf Petrus Platz auf der Brücke setzte. Nachdem Officer Bartholomew mit zittrigen Fingern die Luke in der Ladeklappe geschlossen hatte, legte sich der Sonnenwind und während die «Genezareth» in die Erdatmosphäre eintrat, verschwand der Meteoritenschwarm.

Als Kommander Petrus wieder zu sich kam, blickte er in eine weisse Umgebung mit grauen, technischen Apparaten. Eine afroamerikanische Krankenschwester lächelte ihn an.
«Willkommen zurück auf der Erde, Kommander Petrus.»
«Was ist geschehen?», fragte er verwirrt.
«Sie hatten Probleme während Ihres Weltraumspazierganges.»
«Weltraumspaziergang? Ich sollte doch die ‹Genezareth› zur Erde fliegen?»
«Ich weiss nur, dass es auf ihrem Flug Probleme gab, und Sie wollten diese selber beheben. Deswegen haben Sie das Raumschiff verlassen.»
«Ich beginne mich zu erinnern. Da war ein Licht…», sagte er schwach.
«Das ist nichts, Kommander. Es zeigt nur an, dass die Messgeräte für ihren Puls und Blutdruck richtig angeschlossen sind und funktioneren», sagte die Krankenschwester. «Darf ich Sie etwas fragen, Kommander?»
«Bitte sehr. Aber ich habe keine Schmerzen. Ich bin nur müde und etwas verwirrt.»
«Das freut mich zu hören, Kommander. Nach etwas Schlaf können Sie morgen wieder nach Hause gehen. Aber meine Frage haben Sie noch nicht beantwortet, weil ich sie noch gar nicht gestellt habe.»
«Haben Sie nicht?»
«Nein, wir haben vom Licht gesprochen», sagte sie lächelnd.
«Ach ja, das Licht, das meinen Puls anzeigt…»
«Wissen Sie, was ich glaube?»
«Nein, woher auch? Ich kenne Sie nicht.»
«Ich glaube, dass die Menschheit nur in den Weltraum fliegt, weil sie in unserer hoch technisierten Welt Gott vergessen hat. Sind Sie da draussen Gott begegnet, Kommander?» Nun erinnerte sich Kommander Petrus wieder: Das Licht, die Einladung zum Weltraumspaziergang, das irdische Paradies zu seinen Füssen und die funkelnden Sterne in der ewigen Weite des Himmels. Und wie er abgedriftet war und eigentlich an einer Apoxie gestorben sein müsste. Aber auf wundersame Weise gerettet worden war.
«Ja!», sagte er. «Ja, ich glaube, ich habe ihn gesehen.»
Die Krankenschwester strahlte ihn an und fragte:
«Was machen Sie nun mit Ihrem Leben?»

space shuttle STS114 Zürich
Das Space Shuttle vollzieht über Zürich eine Kehrtwendung. Foto der Mission STS 114 von 2005. – Foto: nasa.gov


 

 

Apophis – 2013  


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