dr Kuno Lauener un i
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«Ich gehe schnell mein Bein heben, reservier’ mir bitte den Platz», sagte ich zu Christoph und begann mir meinen Weg, den ich eben erst gekommen war, von der Bühne her durch die mir entgegenströmenden Leute hindurch zu bahnen. Dabei schaute ich, ob ich jemand kennen würde, der wie ich sein Wochenende mit einem Konzert von Züri West beendenden wollte. Da ich niemand traf, verliess ich kurz darauf den Saal des Kaufleuten, indem ich mich am Türsteher und den hereinströmenden Pärchen vorbeidrückte. Eiligen Schrittes lief ich die Treppen zu den Toiletten hinab. Dort angekommen stellte ich mich entgegen meiner Angewohnheit, jeweils die mittlere oder linke Schüssel zu nehmen, vor diejenige aussen rechts, gleich neben den Kabinen. Während ich mein Geschäft zu erledigen begann, hörte ich von hinten Schritte näher kommen. Der Neuankömmling liess eine Schüssel zwischen uns frei – ich hätte ihn ja als Schwulinsky betrachten können, wenn er direkt neben mir gepisst hätte… Da mich mein Nachbar nicht sonderlich bis überhaupt nicht interessierte, leerte ich meine Blase die Pissoirrituale einhaltend gedankenverloren zwischen Strahl, Siphon und Schnäbi blickend. Die Vorfreude auf den bevorstehenden Gig war zu gross, als dass mich mein Nachbar interessiert hätte. Bei Kuno Lauener, dem Sänger und Texter Züri Wests, hätte ich es mir vielleicht punkto Interesse nochmals überlegt. Wer ist schon nicht daran interessiert, ob man selber oder der Promi den grösseren hat? Aber Lauener hatte mit Sicherheit eine Toilette in der Garderobe. So standen wir bewusst nichts denkend vor unseren Schüsseln und ignorierten uns, als ich von neuem Schritte hörte. Da von den vier zur Verfügung stehenden Schüsseln zwei mit gebührendem Sicherheitsabstand besetzt waren, blieb dem Neuankömmling nichts anderes übrig, als sich entweder in die linke Ecke oder zwischen uns zu stellen. Unweigerlich drehte ich meinen Kopf nach ihm um, weil er sich so unauffällig auffällig in die Ecke zwängte. Ich bereute es gleich wieder. Der Typ stellte sich so verkrampft vor die Schüssel und drehte dabei seinen Körper noch halb gegen die Mauer, wie es nur ein äusserst verklemmter langhaariger Latino-Gigolo tun konnte. Es war die selbe alte Geschichte der Stammgäste des Kaufleuten: Im Saal blasierte Arschlöcher, im Klo verschüchterte Jungfrauen, die sich nicht mal bis zur Schüssel wagen…

Wohl schwirrte eine Melodie von Züri West in meinem Kopf herum, als ich nach erledigter Arbeit mein Utensil wieder versorgte. Nicht ganz regelkonform, denn es war auf der anderen Seite genügend Platz vorhanden, drehte ich mich in Schüsselreihenrichtung um. Das Lavabo im Kaufleutenklo war linkerhand montiert und ich wollte so schnell wie möglich in den Saal zu meinem Platz in der ersten Reihe zurück. Mitten in meiner Bewegung hielt ich inne und schaute den Typ neben mir genauer an, der so selbstverständlich als wäre es die natürlichste Sache der Welt, vor der übernächsten Schüssel stand.
«Ist er’s oder ist er’s nicht?», dachte ich. Und: «Wir haben ja den selben Kinnbart.»
Ich schaute wohl einen Moment zu lange, denn er drehte seinen Kopf in meine Richtung, zog seine Augenbrauen hoch und grüsste im breitesten Berndeutsch: «Tschou.»
Kein Zweifel, es war Kuno Lauener. Vor Verlegenheit halb murmelnd grüsste ich zurück. Manch eine würde nun gerne in meiner Haut stecken: Mit Kuno Lauener, für viele das Schweizer Sexsymbol schlechthin, in einer Toilette… Ich ging meine Hände waschen und überlegte mir, ob bei einem Clubgig der Rolling Stones nun Mick Jagger vor der anderen Schüssel gestanden hätte. Während ich meine Hände wusch, erinnerte ich mich an die Minox in der Hosentasche. Doch den verlockenden Gedanken eines Paparazzofotos von Lauener im Pissoir verwarf ich sofort wieder. Stattdessen verliess ich die Toiletten.

Wieder vor der Bühne angelangt, hatte ich noch immer niemand getroffen, den ich persönlich gekannt hätte. Bis zum Konzertbeginn dauerte es nur noch ein paar Minuten, doch diese schlichen im langsamst möglichen Tempo vorüber. Zum Zeitvertreib liess ich Christoph erraten, wen ich eben auf der Toilette getroffen hatte. Wir standen in der Mitte der Bühne, zwei Meter vor oder unter dem Mikrofon, das Lauener demnächst benützen würde. Ein Roadie betrat die Bühne. Einige Witzbolde aus dem Publikum applaudierten ihm. Er klebte Setlisten an die Monitore. Kaum war er hinter der Bühne verschwunden, krallten sich Christoph und ich eine. Nachdem wir von einem Teeny-Girl angekeift worden waren, dass man so etwas nicht mache, warfen wir einen Kennerblick auf die Liste. Wir stellten fest, dass sich das Programm nicht gross vom letzten Zürcher Konzert, das im April im Palais Xtra stattgefunden hatte, unterscheiden würde.
«Elvis steht schon wieder nicht darauf. Wollen wir ihn einfügen?» fragte ich. Wir schauten uns an und diskutierten kurz über meinen Vorschlag. «Elvis» war eine unserer Lieblingslivenummern. Die Chance, der Band im Restaurant oder Kuno auf dem Klo einen Wunsch zu übermitteln, hatten wir vorhin ebenso ungenutzt verstreichen lassen, wie wir es vor einem halben Jahr im Xtra verpasst hatten, als wir in derselben Bar wie die Band einen Drink zu uns genommen hatten. Wir verwarfen den Gedanken des getürkten Wunschkonzertes wieder, da «Elvis» nur auf Laueners Liste gestanden hätte und dadurch ein Missverständnis unter der Band vorprogrammiert gewesen wäre. Wir klebten die Liste an den Monitor zurück.

Endlich war es zwanzig Uhr geworden. Die Saalbeleuchtung ging aus und die Bühne wurde in blaues Licht getaucht. Doch anstelle von Züri West betraten Crank als deren Vorgruppe die Bühne. Obwohl es ihr erster Liveauftritt seit Jahren war, machte ich keine Fotos. Ich wollte nur Züri West fotografieren. Mit einer Taschenkamera ohne Blitz und einem einzigen 200er-Film ausgestattet, ist bei der Lomotechnik mit einer hohen Ausschussrate rechnen. Ob es an der Beliebtheit der Band, an ihrem Heimvorteil oder am neuen Material lag, dass die Zürcher Crank beinahe nicht vom Publikum gehen gelassen wurde, konnte ich nicht beurteilen. Stattdessen erinnerte ich mich daran, dass Sänger Adi Weyermann mir ab und zu als Aushilfe in einem Laden an der Josefstrasse Platten verkauft hatte. Nach Auftritt von Crank wurde die Bühne noch einmal umgebaut. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln, bis Züri West auf die Bühne kommen würden. Unterdessen hielt ich nach dem Roadie Ausschau, der ein gelbes Fussballshirt mit Citroën als Leibchensponsor trug. Seit meinem ersten Züri West Konzert anno 92 gehörte dieser Roadie zur Crew. Doch heute schien er zu fehlen oder trug endlich ein anderes T-Shirt.

Wie vor jedem Konzert begannen Ungeduldige nach Kuno zu rufen. So war es auch damals vor dem Konzert im Xtra gewesen. Die Kuno-Rufe waren noch stärker geworden, als die Bühne in blaues Scheinwerferlicht getaucht worden war, die Band aber auf sich warten liess. Als es für einen Moment still geworden war, rief ich mit Leibeskräften nach Sibi, dem Gitarristen, und erntete zumindest von der näheren Umgebung Applaus. Heute kam die Band ohne ihren Frontmann Lauener noch bei Saalbeleuchtung auf die Bühne. Gere Stäuble setzte sich hinters Schlagzug und kontrollierte, ob die Höhe richtig eingestellt worden war. Zu seiner Rechten platzierte sich Bassist Tinu Gerber. Vor ihm band sich Peter «Sibi» von Sibenthal seine alte Stratocaster um, von der bald einmal kein schwarzer Lack mehr würde absplittern können. Auf der anderen Seite nahm Küse Fehlmann hinter dem Keyboard Platz. Er würde zwischen ihm und der Gitarre abwechseln. Zwischen Küse im Vordergrund und Gere im Hintergrund standen zwei grosse Congas, eine akustische und eine Longhorn-Gitarre, die Tom Etter, der während dieser Tour die Band verstärkte, spielen sollte.

Gespannt warteten wir auf Lauener. Vereinzelt klangen nochmals Kuno-Rufe durch den Saal. Gere begann anzuzählen und die Band legte los. Doch Kuno kam nicht wie üblich während den ersten Takten eine Zigarette rauchend auf die Bühne. Unbeirrt spielte die Band das Intro des Songs «Blues» weiter. Noch vier Takte bis zu Kunos Einsatz. Noch drei, zwei, noch einer. Wo blieb Kuno? Ich hatte ihn doch vor einer knappen Stunde noch gesehen. Noch drei Taktschläge, noch zwei. Die Spannung stieg. Wollte nun Lauener singend auf die Bühne kommen? Das wäre ein neues Show-Element. Es war soweit, Kunos Einsatz war fällig. Doch anstelle seines Gesangs erklang eine Trompete. Sogleich betrat ein kraushaariger Trompeter, der ein schwarzweiss gestreiftes Fussballshirt trug, die Bühne. Glücklicherweise hatte ich nicht mit gezückter Kamera auf Kunos Erscheinen gewartet um den ersten Moment des Konzertes auf Zelluloid zu bannen. Als selbst ernannter Züri West Routinier bin kalt oder heiss erwischt worden. Sogleich begann ich zu hoffen, dass der Trompeter noch einmal einen Auftritt haben würde, damit ich das verpasste Foto nachholen konnte. Aber zuvor wollte ich Lauener und die «richtige» Band fotografieren.

züri west kaufleuten 1999 yves baer kuno lauener peter von siebenthal © vzfb

Musiker und Fotografen pflegen eine Hassliebe. Meistens dürfen die Pressefotografen zu Beginn eines Konzertes fotografieren. Am Ende einer halbjährigen Tour de Suisse von Züri West waren keine Pressefotografen mehr zu erwarten. Trotzdem tigerte eine Fotografin vor und manchmal hinter der Bühne herum. Sie gehörte wohl zur Ausstattung des Kaufleutens. Gleichzeitig stand neben mir ein fast zwei Meter grosser Typ mit einer Videokamera. Im Gegensatz zur Fotografin war er von der Band angestellt worden, sie und das Publikum zu filmen. Seine Bilder wurden zwischen vorgefertigten Videosequenzen auf eine Leinwand hinter der Band projiziert. Im Wissen darüber, dass fotografieren fürs Publikum etwa gleich erlaubt ist wie das Konzert mit einem Aufnahmegerät aufzuzeichnen, schaute ich mich gespannt im Saal um, ob ich der einzige wäre, der eine Kamera hinein geschmuggelt hätte. Von der Estrade her filmte jemand mit einer Handycam. Etwas später blitzte ein anderer von hinten durch den Saal hindurch. Gespannt wartete ich auf die Reaktion der Sicherheitsleute. Es geschah nichts, da keine Gorillas erkennbar im Saal anwesend waren. Obwohl ich nie nach einer Kamera gefilzt worden war und die anderen Video- und Fotografen ungestört ihrem Hobby nachgehen konnten, wartete ich ungefähr eine Viertelstunde, bis ich gehemmt die ersten zwei Bilder von Kuno schoss. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich bereits, den Film aus der Kamera nehmen. Vor ein paar Monaten musste dies mein Nachbar beim Konzert R.E.M. im Hallenstadion tun,. Nachdem er mit Blitz fotografiert hatte. Auch nach meinen ersten, verhaltenen Fotos geschah nichts. Ich begann selbstbewusster zu fotografieren. Kuno hinter dem Mikrofon, Küse hinter dem Keyboard, der Trompeter vom Anfang, alle brachte ich in den Kasten. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schultern. «Das war es dann», dachte ich und wartete auf die Aufforderung, den Film herauszurücken. Die Person drückte sich ohne ein Wort zu verlieren an mir vorbei. Erleichtert stellte ich fest, dass es der Tamile von der Bar war, der die Gläser am Bühnenrand zusammenramisierte. Sogleich knipste ich Kuno, der mich dabei bemerkte und ärgerlich anlinste.

Nach rund zwanzig Minuten mussten die Instrumente nachgestimmt werden. Während solchen Pausen kommen aus dem Publikum jeweils «7:7»- oder «Härz»-Rufe. Oft kontert Lauener solche Wünsche mit Ansagen oder ironischen Sprüchen. Damals im Xtra hatte Kuno während einer solchen Stimmpause einen nächsten Song angekündigt und legte, bevor er den Titel nannte, eine Kunstpause ein. Intuitiv hatte ich den Moment genutzt und «Elvis» gerufen.
«Geits no?» hatte er gefragt. «Mr hei es Programm», war er fortgefahren und hatte dabei die Setliste in die Höhe gehalten. Sollte ich heute wieder «Elvis» verlangen, rechnete ich mit einem Fotografenwitz. Die erste Stimmpause und die weiteren Songs gingen ereignislos vorüber. Plötzlich begann Kuno mit «dr nächschti Song isch…» und bückte sich, um auf der Setliste nach dem Titel zu suchen.
«Dr nächschti Song isch…» begann er erneut, fand ihn aber noch nicht.
«Elvis», half ich ihm nach.
«Nei, nit dr Elvis», sprach er und schaute mich an, während er aufstand und fortfuhr, dass der nächste Song auch eine komplizierte Liebesgeschichte wäre. Meine Fanbrust schwellte vor Stolz an. Zum zweiten Mal hatte Kuno auf einen Einwurf meinerseits reagiert. Momentan war es mir egal, ob die Fotos noch etwas würden, denn ich hatte das Konzert einen Bruchteil lang mitgestaltet.
Während den nächsten Minuten schwebte ich auf den Wolken sieben und neun gleichzeitig und badete in meinem Triumphgefühl.

Das Geschehen auf der Bühne bekam ich wie durch einen Schleier hindurch betrachtet mit. Erst das bekannteste Bassriff der Rockmusik liess mich ins Kaufleuten zurückkehren. Tinu Gerber stimmte «Lue zersch wohär de Wind wääit» an; Kuno Laueners berndeutsche Adaption von Lou Reeds «Walk On The Wild Side». Lauener gab den Transvestiten aus Andy Warhols Factory Berner Namen und setzte sie in die Agglomeration unserer Landeshauptstadt. Einer meiner Lieblingssongs von einer meiner Lieblingsband gespielt, dass war den reinen Hörgenuss wert. So steckte ich die Minox in die Hosentasche zurück.
Kuno trat ans Mikrofon und begann zu singen: «Dr Roger us Wettige het e settige» und zeigte mit Daumen und Zeigefinger etwa zwei Zentimeter an. Während er die erste Strophe auf Roger Schawinski umdichtete, schaute er mich an, ob ich die Minox hervorholen würde. Nach kurzem Nachdenken und in der Gewissheit, dass ich es für ewig bereuen würde, liess ich es bleiben. War ich doch in erster Linie zum Musikhören und nicht zum Fotografieren ans Konzert gekommen. Hatte sich Kuno auf ein Spiel mit mir eingelassen? Dem Spiel zwischen Jäger und Beute? Ich glaubte er hatte. Neidlos gestand ich ihm den Punkt zu. Den Refrain von «Lue zersch wohär dr Wind wääit» überliess Kuno dem Publikum. Wie üblich reklamierte er hernach, dass er nichts hören könne. Wir sangen lauter. Lauener war noch nicht zufrieden mit dem Publikum: «Chömid, es mues töne wie amene U2 Konzärt!» spornte er uns an. Wir sangen noch lauter, er begann «Sunday, Bloody Sunday» von U2 zu singen. Aus zweitausend Kehlen tönte es «Sunday, Bloody Sunday» zurück. Eine meiner Lieblingsbands spielte ein Stück einer anderen Lieblingsband von mir. Ich war mir sicher, dass es ein Konzert der Spitzenklasse war. Und Christoph war es auch. Er schwebte irgendwo im Nirwana, in das man als Konzertbesucher unweigerlich kommt, wenn alles stimmt.

Der Abend hatte sich besser entwickelt als ich es je zu hoffen gewagt hatte und er konnte eigentlich nur noch schwer zu steigern sein. Sowohl Lauener als auch ich wussten, worum es in unserem Spiel ging: den Konzerthöhepunkt während «Härz». Ungeduldige, die so viel von Dramaturgie verstehen wie ich von Mathematik, riefen immer wieder nach dem «Härz». Auch ihnen sollte der Triumph einer Reaktion Laueners gegönnt sein. Auf den zig und zigsten Härz-Ruf erkundigte er sich lakonisch, welches Herz gemeint wäre. Der erste Teil des Sets ging zu Ende, ohne dass Kuno sein Herz verschenkte. Gefühlsmässig hatte ich noch etwa zwei oder drei Fotos übrig. Ich nahm die Minox hervor und wollte es verifizieren, doch bereits kehrten Züri West für eine Zugabe auf die Bühne zurück. Kuno trat ans Mikro und kündete den Song «Mojito» als Mambo an. Er bat die mutigen Damen, die Mambo tanzen konnten, auf die Bühne. Ich freute mich auf die Videosequenzen der tanzenden Mallorcatouristen und versorgte die Kamera wieder. Im Xtra war keine Dame Kunos Ruf gefolgt. Warum also sollte es heute anders sein? Doch im Chauvi-Tempel Kaufleuten quetschten sich rund ein Duzend Damen durch die Masse und kletterten mehr oder wenig begabt auf die Bühne. Die Band legte los. Wusste gar nicht, dass zwölf Frauen weniger in einer Zuschauermenge ein solcher Luxus an Platzgewinn sein konnten, denn man rieb nicht mehr seinen Körper an seinem Nebenan. Und so klaubte ich wieder die Minox hervor, um Kuno mit der einen oder anderen Saalschönheit tanzend zu fotografierten. Nach «Mojito» verschwand die Band wieder hinter der Bühne und die Tänzerinnen kamen ins Publikum zurück.

Wir warteten und warteten und warteten. «Kuno»- und Zugaberufe wechselten sich ab. Die Band hatte ihre Zigaretten sicher schon geraucht. Das konnte noch nicht alles gewesen sein, die Bühne war noch in gelbes Scheinwerferlicht getaucht. Oder doch? Gaben Züri West heute Abend nur eine einzige Zugabe? Planten sie, ihren grössten Hit wegzulassen? Christoph und ich hatten doch die Setliste angeschaut: «Mojito» war nicht der letzte Song gewesen. Ich hatte noch wenige Fotos übrig. Und ich wusste, dass ich mich darüber geärgert hätte, Crank nicht fotografiert zu haben, wenn Kuno nicht nochmals auf die Bühne zurückkehren würde. Nach einer subjektiven halben Ewigkeit kehrte die Band wieder auf die Bühne zurück.
«Vor zäh Jahr hei mr zwöi abee hie im Chouflüte gschpiut. Das si no zite gsi… Isch no öpper hie wo üs damaus gseh het?», erkundigte sich Kuno. Während tatsächlich ein vereinzelte antworteten, überlegte ich mir, dass ich damals zu kapieren begann, dass es nach Mani Matters Tod nicht vorbei war mit der Schweizer Musikszene und sich in den vergangenen fast zwanzig Jahren viel Gutes getan hatte. Unterdessen zählte Gere Stäuble in aller Ruhe den nächsten Song ein indem er die Drumsticks zusammenschlug, danach schlug Sibi mit der akustischen Gitarre einen d-moll-Akkord an. Die im Publikum vorherrschende Spannung begann sich im Nu in Magie aufzulösen. Ein kollektives Entzücken ging durch den Saal: Die ersten Takte von «Härz» waren erklungen. Die einen jubelten, andere nahmen ihre Freundin in den Arm, dritte zündeten Wunderkerzen an, ich nahm die Minox hervor. Das Intro ging vorüber, es wurde Zeit, das Herz zu verschenken.
«I schänke dr mis Härz, meh han i nid, du chasch es ha wede wotsch, es isch e guets und es git no mängi wos würd nä, aber dir würd is gä», sang das Publikum die Worte, während Kuno gerührt zuhörte. Artig bedankte er sich für unsere Liebeserklärung und begann mit der ersten Strophe: «D’Szene isch e chlini Bar irgendwo i dere Stadt…»

Die Szene war nicht wie in Laueners Text eine Stripteasebar, sondern das Konzert im Xtra. Damals begann Kuno zu strippen und entledigte sich seines Hemdes. Er war seinem Image als Schweizer James Dean nachgekommen, indem er in einem weissen Unterhemd gesungen hatte. Irgendwann hatte er für einen Augenblick seinen Oberkörper entblösst. Auch heute pries er sein Herz als gut an. Auch seinen Händlertrick, dass es manch eine noch nehmen würde, er es aber nur der imaginären Adressatin gäbe, wandte er an. Er knöpfte sich dabei das Hemd auf, das schon bald in Richtung Schlagzeug flog. Eine Dame kreischte entzückt auf. Kuno trug wieder ein weisses James-Dean-Unterhemd. Doch würde er auch heute seinen Torso entblössen? Hatte er nicht vor wenigen Minuten verärgert auf einen Einwurf reagiert, sein Hemd auszuziehen? Zudem vermutete Kuno wohl, dass ich nur auf diesen einen Moment warten würde. Das war ein Teil unseres Spiels. Fotografiere ich ihn mit nacktem Oberkörper, habe ich gewonnen. Unbeirrt sang Kuno den Song und behielt sein Unterhemd an. Er turnte auf dem Monitor herum, ich fotografierte ihn. Hatte er für mich posiert? Danach tigerte er zu Sibi hinüber. Wieder kletterte er auf den Monitor und hielt nach der Dame Ausschau, die einen Striptease gewünscht hatte. Er schaute sie an und schenkte ihr gestenreich sein Herz, nicht aber seinen Körper. Er sprang auf die Bühne zurück. Das letzte Gitarrensolo begann, der letzte Refrain folgte. Noch einmal kletterte Kuno auf dem Monitor vor mir, doch auch jetzt behielt er sein Unterhemd an. Ich lenkte meinen Blick auf Küse an der Leadgitarre, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Lauener für einen Augenblick sein Unterhemd hob. Ich drehte den Kopf, hob die Minox, linste hindurch und drückte auf den Auslöser. Es klickte. Ich hörte Applaus – für Laueners nackten Bauch.
«Gewonnen!», dachte ich. Kuno sprang vom Monitor und bückte sich nach seinem Hemd. Als er mich erblickte, ballte er die Faust und schlug auf den Boden. Zufrieden zog ich die Kamera auf. Die Vorfreude auf die entwickelten Bilder begann beinahe ins unermessliche zu wachsen. Hoffentlich habe ich das Bild nicht verwackelt. Es war ein wunderbarer Augenblick während einem der unvergesslichsten Konzerte. Alles war gut gelaufen.

Noch während ich den Film aufzog, schluckte ich leer. Nach dem Abdrücken muss die Minox zweimal aufgezogen werden, damit der Film wieder belichtet werden kann. Wieviele Mal hatte ich gedreht? Ich war mir sicher, nur einmal gedreht zu haben. Das durfte nicht wahr sein! Ich liess mir «Härz» nochmals Revue passieren. In der Hitze des Gefechtes hatte ich, während Lauener auf dem Monitor herumturnte, nur einmal aufgezogen. Wie mancher Schnappschuss ist mir so schon durch die Lappen gegangen? Aber dieser eine schmerzte mich. Ein verwackeltes Bild wäre nur halb so schlimm gewesen. Ich fluchte ebenso leise wie vorhin Kuno auf der Bühne. Das Konzert begann nochmals neu. Das Publikum war zufrieden, das Herz war verschenkt worden. Züri West stimmten «Hanspeter» an, damit sich die Gastbläser vom Publikum verabschieden konnten. Als sich die Band wieder zurückzog, brachen auch schon die ersten Leute auf. «Das war es sicher noch nicht gewesen, im Xtra haben sie auch drei Zugabenblöcke gespielt», meinte ich zu Christoph. Und das Publikum verlangte frenetisch nach mehr.

In der Tat kehrten Züri West ein drittes Mal auf die Bühne zurück. Ich versuchte mich zu erinnern, welcher Song nun beim Konzert im Xtra gefolgt war. Ich tippte auf «Züri West», einen der ältesten Songs der Band. Kuno streckte zuerst seinen Kopf hinter Bühne hervor, danach kam er eine Ola-Welle beginnend herausgetreten. Er strahlte übers ganze Gesicht.
«Gëili Sieche!», rief er begeistert.
«Sälber geile Siech!», dachte ich und machte bei der Antwort-Ola-Welle mit. Die gute Stimmung der Band und die frohe Atmosphäre im Saal liessen mich meine Enttäuschung über das entgangene Foto vergessen. Kuno kündete einen der ältesten Songs der Band an: «Züri West». Ich begann mir die Enttäuschung über das entgangene Foto aus dem Leibe zu tanzen. Nach «Züri West» begann Küse mit dem Klavier-Intro von «7:7», jenem Song, worin es heisst: «Sisch 7:7, unentschide ischs nid, sisch 7:7 für mi.» Im Spiel zwischen Kuno und mir stand es 7:7, unentschieden war es nicht. Es stand wie im Song 7:7 für ihn. Nur wusste er es nicht.

Nach dem Konzert musste ich nur noch die Kamera aus dem Saal bringen, ohne den vollen Film noch abgeben zu müssen. Nun lief es wieder wie am Schnürchen: Wie die anderen, normalen Konzertbesucher, verliessen Christoph und ich das Kaufleuten. Begeistert schwärmten vom besten Züri West Konzert aller Zeiten. Das erste Mal haben wir die Band anno 1992 in Uster gesehen, sechs Jahre bevor wir uns kennengelernt hatten. Schon bald kamen wir auf meine Fotos zu sprechen.
«Ich bin froh, wenn die Hälfte der Bilder brauchbar sind», klagte ich, «die Scheinwerfer sind so ziemlich das schlechteste gewesen, was ich bis anhin erlebt hatte. In der Regel halte ich eine Dreissigstelsekunde ohne zu verwackeln, doch Kuno steht auf der Bühne nicht still.»
Christoph meinte, dass meine Fotos schon etwas geworden wären.
«Eben nicht», antwortete ich und erzählte ihm vom Härz.
«Dafür haben sie ‹7:7› gespielt», meinte er tröstend. Während Jahren war der Song aus dem Liveset verschwunden.
«Aber ‹Elvis› müssen wir beim nächsten Konzert wieder auf die Bühne rufen. Was wohl Kuno dann sagen wird?», entgegnete ich. Nach einer kurzen Pause fragte ich: «Was hältst du als grösster U2 Fan der Welt von Kunos ‹Sunday, Bloody Sunday›?»
«Nicht schlecht», entgegnete er.
«Mir gefiel es auch ganz gut.» Mein Blick fiel in ein Schaufenster, worin wir uns spiegelten. «Du, da fällt mir auf, dass ich ein U2 T-Shirt trage. Ob Kuno…», fragte ich.
«Ach, da merkst du erst jetzt?», staunte Christoph.

 

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züriwest 1999 kaufleuten Kuno Lauener Yves Baer © VzfB

 

dr Kuno Lauener un i – 2000  

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alle Fotos von Yves Baer aus oben beschriebenen Konzert. © 1999/2015 VzfB