Dusty – eine wahre Geschichte
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Ob er ihr helfen könne, den Kinderwagen ins Tram zu heben? Er hatte langes schwarzes Haar, seine weisse Haut glänzte seltsam im Licht. Seine Nasenflügel waren vom vielen Kokain angefressen, seine Hände waren knochig, einige Einstichstellen waren darauf zu sehen. Sein Körper war ausgemergelt, doch seine Jeansjacke und sein Hemd waren relativ sauber. Eine lebendige Leiche lachte sie an, doch sie lehnte seine Hilfe nicht ab. Gemeinsam hievten sie den Kinderwagen ins Tram. Sie hielt vorne, er hinten und stieg mit ein. Sie wollte sich gerade bedanken, da geschah das Unglück: die Türen schlossen sich hinter ihnen, bevor er wieder hätte aussteigen können und das Tram fuhr ab. Ungläubig blickte sein Hund dem davonfahrenden Gefährt nach. Normalerweise springt er immer zuerst hinein.
«Dusty!», schrie er und begann daraufhin zu fluchen. An der nächsten Station, der Quellenstrasse, stieg er wieder aus, wechselte auf die andere Traminsel, um das nächste Tram zurück in Richtung Limmatplatz zu nehmen. Fünf Minuten später war er wieder dort. Doch von Dusty keine Spur mehr. Er suchte ihn rund um das Tramcafé auf der Traminsels. Erfolglos. Wütend und niedergeschlagen machte er sich auf den Weg, die Langstrasse hinauf.

Es wurde eine schlimme Nacht, während der er wenig schlief. Es regnete andauernd.
«Hoffentlich wurde Dusty nicht von einem Auto überfahren», dachte er immerfort, und dass er den Weg nach Hause schon finden würde. War hier nicht ein Geräusch? Er stand auf und schaute vor der Haustüre nach. Fehlanzeige. Sicher zehnmal wiederholte er die Prozedur, die immer das selbe Ergebnis einbrachte. Am Morgen stand er auf und ging auf die Limmattalstrasse hinaus. Ein wenig Geld hatte er noch, so beschloss er, im Tierspital anzurufen, um abzuklären, ob ein mittelgrosser, hellbrauner Hund eingeliefert worden war. Erleichtert hängte er wieder auf, kein Hund war während den letzten vierundzwanzig Stunden abgegeben worden. Dusty konnte allerdings noch immer nirgendwo und überall zugleich sein. Er ging beim Arzt seine tägliche Ration Methadon abholen. Zwei Stunden später war er zurück auf der Langstrasse, wo ihn vor dem Sexkino ein anderer Fixer ansprach:
«Das war also doch dein Hund, den sie gestern abgeholt haben.»
«Wann?», wollte er wissen.
«Wo?»
«Beim Migros hat er gesessen und auf dich gewartet. Dann sind die Bullen gekommen und haben ihn mitgenommen, obwohl der Securitas ihnen gesagt hat, du wärst im Laden und würdest gleich wieder kommen.»
«Diese Schweine, mein Dusty!» Er klaubte etwas Münz zusammen und rief die Kreiswache 5 an. Nein, einen Hund hätten sie nicht aufgegabelt, hiess es dort, sie hätten besseres zu tun. Auf einer Hausmauer beim Limmatplatz las er später am Tag: «Diese Stadt gibt dir alles, was du nicht brauchen kannst.» «Und nimmt dir das, was du brauchst», kommentierte er bitter. Niedergeschlagen schritt er die Langstrasse hinauf, um seinen Kollegen wiederzufinden, nachdem ihm der Securitas die Geschichte bestätigt hatte. Irgendwo gegen Helvetiaplatz fand er seinen Kollegen auch.
«Natürlich haben Sie ihn. Ins Tierheim haben sie ihn gebracht», empörte sich dieser. «Womöglich wird er dort weiterverkauft.» Er wollte das ihm genannte Tierheim anrufen, musste aber erfahren, dass dieses gar nicht existierte. Es blieb ihm nur noch eine Hoffnung: Frau Oliver, sein Beistand. Sie würde ihm bestimmt aus der Klemme helfen. Er stieg in den Zweiunddreissiger, fuhr die Langstrasse hinab, über den Limmatplatz die Kornhausbrücke hoch, nach der griechischorthodoxen Kirche Agios Dimitros stieg er aus und ging zu ihrem Treuhandbüro.

Sie öffnete die Türe und fragte als erstes, wo der Hund wäre. Der sei fort, antwortete er. Ja, was denn das heisse, fort, wollte sie wissen. Worauf er seine Geschichte erzählte. Frau Oliver, eine resolute Frau Mitte vierzig, griff zum Telefonbuch und suchte die Nummer der Kreiswache 5 heraus. Jupp, die Ferienaushilfe, legte seine Arbeit nieder und bot ihm etwas zu trinken an. Er lehnte ab, erzählte ihm nochmals die Geschichte, während er mit einem Ohr Frau Oliver zuhörte. Diese insistierte und wurde zweimal weiterverbunden, bis sie eine Auskunft erhielt: in das Tierheim an der Zürichbergstrasse hatten sie Dusty gebracht. Wo denn dies wäre, fragte er Jupp. Auf dem an der Wand hängenden Stadtplan zeigte er ihm die Zürichbergstrasse. Sie telefonierte mit dem Heim. Endlich: So ein Hund war gestern von der Polizei abgegeben worden, ein Wildfang sei er überhaupt nicht, im Gegenteil, ganz still und traurig. Erleichterung war in seinem zerstörten Gesicht zu sehen. Ganz gewiss werde er ihn verwöhnen, sagte er mit sehnsüchtig liebevoller Stimme. Frau Oliver gab ihm einen Hundekuchen und die Gebühren für das Heim mit. Nun musste er sich nur noch beeilen, damit er vor fünf Uhr beim Zoo sein würde.

• • •

Keine fünf Minuten waren vergangen, da klingelte es erneut bei Frau Oliver: Vor der Türe stand sein Bruder. Genauso drogenkrank wie er, zusätzlich aber HIV positiv und obdachlos, von Notschlafstelle zu Tagesraum ziehend. Er kam in sauberen Kleidern vorbei, da er sich am frühen Nachmittag hatte wegen Drogenbesitzes vor dem Bezirksgericht verantworten müssen.
«Natürlich hat die Bezirksanwaltschaft wegen Drogenkonsums gegen ihn ermittelt – die Dealer gehen ja in der Regel straffrei aus…», klagte er. «Vier Gramm Coci, ab achtzehn ein schweres Delikt!», spottete er.
«Acht Gramm Heroin», las Frau Oliver.
«Ab zwölfen ein schweres Delikt», fügte er an. Sie lachte laut heraus: «Sie behalten es?»
«Ja, sie behalten es», grinste er.
«Warten wohl auf die staatlich kontrollierte Abgabe, so wird der Staat keinen Stoff mehr beschaffen müssen», sagte Jupp.
Ob er tagsüber noch im begleiteten Wohnen bleiben könne, fragte Frau Oliver.
Tagsüber schon, antwortete er.
«Und nachts gehst du an die Rieterstrasse?», fragte sie.
«Ja, das Methadon kriegen wir jetzt beim Verbinden», sagte er auf seine lädierten Füsse anspielend. Früher, da sei es nach dem Frühstück ausgeteilt worden, doch weil einige danach wieder für den Rest des Tages ins Nest gegangen wären, hätten sie es nun geändert.
«Soll ich auch noch das letzte Guezli nehmen, oder soll ich einen Anstandsrest übrig lassen?» fragte er.
«Nimm es doch», meinte Jupp.
Er könne wieder grinsen, also ginge es ihm besser, stellte Frau Oliver fest, als er amüsiert zur Kenntnis nahm, das sein Taggeld bedenklich nahe gegen die zehn Franken abgenommen hatte. Dies hätte er eben auch festgestellt, lachte er. Glücklich darüber, dass es ihm besser ging. Dustys Geschichte wollte er aber nicht hören, da er und sein Bruder sich gegenseitig wegen Nötigung verzeigt hatten und der Prozess noch ausstand. Mit den Worten «Offiziell bin ich noch beim Bezirksanwalt», verabschiedete er sich und ging wieder auf die Strasse hinaus.

 

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Dusty –1996  

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