Loane
PDF Download


«Le Petit Môle» war ein gemütliches Restaurant beim Hafen in Kergulec. Sowohl das Restaurant als auch das Dorf hatten ihre besten Zeiten hinter sich. Nur noch wenige Touristen verirrten sich in das malerische, aber etwas angejahrte Fischerdorf an der südbretonischen Atlantikküste. Der rundliche Yoric war der sympathische Wirt des «Petit Môle». Stets herzlich bewirtete er seine Gäste, die zumeist aus älteren Männern aus dem Dorf bestand, ausser dienstagabends, da spielte ein Damenkränzchen bei einem Glas Chouchen Bridge. Yorics Cotriade, die bretonische Schwester der Bouillabaise aus Marseille, war sensationell, er kann aber auch Steak-frites ganz ordentlich, vor allem seine hausgemachte Kräuterbutter sei jedem Gourmand empfohlen. Jedes Mal, wenn ich in der Bretagne bin und es mir die Zeit erlaubt, schaue bei Yoric vorbei. Heute war ich auf der Durchreise von Rennes über Saint Nazaire nach Nantes. Der Vorteil einer Reisekolumne ist, dass man auf einer Reise genug Geschichten für ein halbes Jahr sammeln kann. Aus meiner auf ein Jahr befristeten monatlichen Kolumne von der Riviera für ein deutsches Reisemagazin war eine regelmässige Reisekolumne geworden. Die Redaktion in Hamburg gab mir volle inhaltliche Freiheit. Ein Jahr, ein Thema, so haben wir das per Handschlag abgemacht. Nach einer Serie über die Provence, die Toskana, die berühmten Seebäder und die grossen Frachthäfen, ist nun die Bretagne mit ihrem reichen kulturellen Erbe an der Reihe.

Ich konnte nicht gleich beim Restaurant parken, sondern fand etwas abseits in einer Seitenstrasse einen Parkplatz. So beschloss ich, einen kleinen Umweg über den Hafen zu nehmen. Am Pier ankerten zwei oder drei Trawler, eine Hand voll Möwen drehte schwebend und kreischend ihre Kreise über der Mole. Es roch nach Meer, aber nicht nach mehr. Der Westwind hatte über dem Atlantik Wolken eingesammelt und trieb sie nun vor sich her in das Landesinnere hinein. Die Luft war feucht und jodhaltig. Aus einer Seitenstrasse klang noch das Brummen eines Motorrollers. Es war ein sehr beschaulicher Mittag im betulichen Kergulec. Ich blickte ein letztes Mal auf das Meer hinaus und drehte mich um, da kam sie mir entgegen: Sie war eine kleingewachsene Frau Ende zwanzig und trug ein unspektakuläres schwarzes Kleid, das sowohl Alltagskluft als auch Teil einer Sonntagstracht hätte sein können. Wir wären beinahe zusammengestossen. Während ich auf Züridütsch irgend etwas Entschuldigendes murmelte, ging sie weiter als ob nichts gewesen wäre. Und obwohl sie beinahe durch mich hindurch gegangen war, hatte sie mich keines Blickes gewürdigt.
«Je vous souhaite une bonne journée!», rief ich ihr nach. Doch sie ging unbeirrt bis zur Spitze des Piers weiter.

Ich betrat das «Petit Môle», sagte «Grüezi mitenand» und setzte mich an meinen Stammplatz im hinteren Teil des Gastraumes, von wo aus ich das ganze Restaurant überblicken konnte. Yoric begrüsste mich wie immer sehr herzlich und machte mit der Hand ein Zeichen über den Tresen, als ob er per Fernbedienung sein Auto entriegeln würde. Ich nickte und kurz darauf brachte er mir eine Pression. Wenn ich weiterfahren musste, trank ich der Promillegrenze wegen ein Bier, übernachtete ich im Dorf, orderte ich wie die Einheimischen Wein. Heute bestellte ich Krampouezhenn mit Crevetten, Coquillages und Crème fraîche. Bei uns sind die Buchweizenpfannkuchen als Gallettes bekannt. Yoric verschwand in der Küche und brachte mir nach etwa zehn Minuten mein Omelett. Während des Essens dachte ich über das Zusammentreffen mit der jungen Frau nach. Ich habe sie bereits die letzten zwei oder drei Mal gesehen, als ich in Kergulec Halt gemacht hatte. Meistens war sie vorne an der Mole gestanden und hatte auf das Meer gestrarrt.

«Du hast die Loane gesehen», sagte Yoric und lachte: «Herzlich willkommen bei den Einheimischen. Das kostet dich mindestens eine Lokalrunde!» Ich schaute ihn verdutzt an, während er zu den drei alten Männern, die am Stammtisch bei einem Glas Wein sassen, etwas auf Bretonisch zurief, was wohl bedeuten sollte, dass ich Loane gesehen hätte und bezahlen würde. Die drei Senioren schauten mich alle an, dann begannen sie zu lachen, erhoben ihre Weingläser und prosteten mir zu. Keine Ahnung, was sie an meinem Zusammentreffen mit dieser jungen Frau derart amüsierte. Sie lachten und klatschten begeistert in die Hände und riefen einander immer wieder etwas auf Bretonisch zu. Ich konnte daraus einzig wiederholt den Namen Loane verstehen. Meine Verwunderung mit einem Schluck Bier hinunterspülend, zitierte ich in Gedanken frei nach Obelix: «Die spinnen, die Bretonen.»

«Was hat es mit dieser Loane auf sich, dass es hier drin ob der simplen Tatsache, dass ich sie ein oder zwei Mal gesehen habe, schlimmer zu und her geht als an der Zürcher Street Parade?», fragte ich Yoric, als er sich mit einem Glas Chouchen neben mich setzte.
«Du hast einen Geist gesehen», sagte er nicht ohne den nötigen Ernst in seiner Stimme.
«Einen Geist?», fragte ich ungläubig.
Yoric nickte.
«Du nimmst mich auf den Arm», sagte ich. Doch der Wirt schüttelte den Kopf.
«Komm schon, das 21. Jahrhundert hat doch mittlerweile auch in der Bretagne begonnen?»
«Das hat es», sagte Yoric traurig, «du brauchst bloss den Wirtschaftsteil der Zeitung zu lesen, da wimmelt es nur so von Geistern.»
«Hör mal, dein Spass in Ehren. Wer war die junge Frau?»
«Wie ich dir gesagt habe, war das die Loane. Sie ist das Gespenst von Kergulec.»
Ich glaube nicht an Geister. Weder an solche in englischen Schlössern – das wäre übrigens ein gutes Thema für meine Kolumne im nächsten Jahr – noch an lokale bretonische Gespenster. Und als aufgeklärter Schweizer fiel es mir auch schwer, Wilhelm Tell für bare Münze zu nehmen, den mir die rechtsnationale Propaganda in schöner Regelmässigkeit patriotisch trunken in voller Inbrunst als helvetischen Nationalheiligen um die Ohren haute. Doch war ich Journalist genug, um hier die Geschichte für meine nächste Kolumne zu wittern. Und so bat ich Yoric, mir zu erzählen, was es mit Loane auf sich habe.
«Aber bitte nicht ohne», sagte der Wirt und stand auf. Nach einem Moment kehrte er mit zwei Gläsern Chouchen an den Tisch zurück.
«Ich muss noch fahren», wehrte ich ab.
«Das wirst du. Falls es dir zu viel wird, lege einfach die Musik auf, die du gespielt hast, als du mich damals nach Haus gefahren hast, die beruhigt.» Ich überlegte scharf, welche Musik er meinen könnte. Vor ein paar Jahren hatte ich in Kergulec übernachtet und Yoric nach Hause gefahren. Er war beim Baden von einer Welle umgerissen worden und hatte sich dabei das Bein gebrochen. Da er an jenem weit entfernten Abend noch immer an Krücken gegangen war, hatte ich einen auf Privatchauffeur gemacht. Ich studierte, was ich wohl für eine CD im Autoradio gespielt hatte, da meinte Yoric, dass sie von einem weltbekannten Sänger aus dem grösseren Teil von König Artus Königreich stammte.
«Comme d’habitude McCartney», dachte ich. Seither habe ich einen iPod gekauft und diesen am Autoradio angeschlossen und fuhr somit das gesamte Werk Paul McCartneys und noch fast 1000 andere Alben der Musikgeschichte, von Johann Sebastian Bach bis zu den Berner Mundartrockern von Züri West, mit mir spazieren. Yoric zündete sich eine Gitane an:
«Wir sind unter uns und Paris ist weit entfernt», sagte er beiläufig. Ich schaute mich um, auch die drei Senioren am Stammtisch rauchten und unterhielten sich auf Bretonisch. Also griff ich mir in die Tasche meines Jackets und holte mir einen Zino Brasil hervor.
«Ca va, Paris ist etwa auf halbem Weg von hier nach Zürich», wiegelte ich ab, während mir Yoric Feuer gab. Ich nahm einen tiefen Zug von meinem Zigarillo und lauschte der Erzählung des Bretonen:
«Es war im Herbst 1827, Ende Oktober oder Anfang November. Es war noch dunkel, als die Fischerboote aus Kergulec abgelegt hatten. Der Atlantik war ruhig, vielleicht beinahe zu ruhig. Was weiss ich? Ich bin ja nicht dabeigewesen. Der Morgen kam und auch der Mittag, ihnen folgten der Wind, die Wellen, die Wolken und der Regen. Es wurde Nacht, ein neuer Tag brach an, dem ein weiterer folgte, an dem man dann die Kirchenglocken läutete. Doch die Schiffe blieben draussen. Bis heute.»
«Was ist passiert?», fragte ich.
«Sturm», antwortete Yoric, «bis auf ein arg zerzaustes Boot war keines zurückgekehrt.»
«Das muss eine Tragödie für das Dorf gewesen sein», sagte ich.
«Ach was, der Atlantik gibt und der Atlantik nimmt. So halten wir das hier», entgegnete Yoric.
«Und Loane?», fragte ich rauchend.
«Sie gehörte zu den Witwen im Dorf, hatte im Sommer ihr drittes Kind geboren. Sie konnte den Tod ihres Mannes nicht akzeptieren. Den ganzen Herbst über war sie jeden Tag zur Mole hinaus gegangen und hatte bis zum Sonnenuntergang auf die Rückkehr der Schiffe gewartet.»
Das unförmige Kleid der Frau von vorhin war ein Trauerkleid gewesen…Ob so viel Trauer und Liebe berührt, oder ob des Rauches im Restaurant, wischte ich mir eine Träne ab.
«‹Ihr werdet sehen, sie kommen eines Tages zurück. Bis dahin gehe ich jeden Mittag an die Mole hinaus›, soll Loane jeweils gesagt haben. Doch die Einheimischen hatten sie nicht ernst genommen. Zunächst haben sie hinter vorgehaltener Hand getuschelt, ehe die Leute Loane auf dem Kirchplatz für verrückt erklärt hatten. Denn unterdessen war es Winter geworden. Loane aber, die seit dem Unglück keine Messe verpasst und täglich für die Bootsbesatzungen eine neue Kerze angezündet hatte, fehlte ausgerechnet in der Christmette. Es war eine klare Nacht gewesen, so sagt man, die Sterne hatten weiss gefunkelt, die Wellen des Atlantiks ebenso geschimmert, so als ob Schimmel auf den Wogen des Ozeans vor dem kalten Nordwestwind geflohen wären. Nach der Messe waren der Priester, der Dorfarzt und der Lehrer zu Loanes Haus gegangen. Gott erbarme sich ihren armen Seelen, denn was sie dort vorgefunden haben, hat sie ihr restliches, armseliges Leben nicht mehr losgelassen.»
Yoric trank einen Schluck Chouchen und meinte danach beinahe entschuldigend: «Ich bin damals nicht dabeigewesen. Aber man sagt, dass Loane zuerst die Kinder mit dem Scheuerhaken erschlagen hat, ehe sie sich in ein Messer stürtze. Sie wollte verhindern, dass man ihr die Kinder wegnähme und sie in ein Refuge in Quimper oder Vannes steckte.»
«Und ihr Landeier spottet immer über die kriminellen Städte, wenn ihr solche Horrorgeschichten in eurer Dorfhistorie habt?», frotzelte ich. «Die arme Frau. Was hatte sie durchmachen müssen?», fragte ich rauchend und schaute meinem Rauch nach. Schlussendlich entgegnete ich: «Das kann nicht sein, heute Morgen waren Loanes Kleider intakt. Weshalb sollte sich ein verzweifelter Geist die Mühe machen, nach seinem Tod die Kleider zu tauschen, wenn er zu spuken gedenkt? Da wäre er mit seinen Wundmalen und blutigen Kleiderfetzen doch viel gruseliger. Nein, Loane und die Kinder wurden ermordert. Nur deshalb erscheint sie in ganzen Kleidern, um noch immer auf das ungesühnte Verbrechen hinzuweisen.»
«Eh ben alors», meinte Yoric und kratzte sich am Hinterkopf, «toi, tu es le gribouilleur.»

Er rief den drei Alten etwas auf Bretonisch zu. Ungläubig setzten sie sich an meinen Tisch und ich musste ihnen nochmals meine These erläutern. Danach diskutierten sie angereget, offenbar war in den bald zweihundert Jahren noch nie jemand auf die Idee gekommen, dass die arme Loane überfallen und ermordert worden sein könnte. Beasty me lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Chouchen. Woher ich kommen würde, fragte mich auf einmal der älteste.
«Zürich», antwortete ich.
«Ah, la Suisse», lächelte er.
«C’est du chocolat», sagte der zweite.
«Pünktliche Züge und Ricola», ergänzte der dritte, griff in seine Tasche und holte ein Pack besagter Kräuterbonbons aus seiner Tasche.
«La Suisse c’est du chocolat et des Ricola», entgegnete ich stirnrunzelnd. Doch der brave Yoric rettete mich:
«Du weisst, dass die katholische Kirche Selbstmördern ein ordentliches Begräbnis verwehrt. Und dann einer verzweifelten Witwe erst, die zuvor noch ihre Kinder getötet hat. Ich glaube, das jüngste war noch nicht einmal getauft… Allein dies war ein himmlisches Desaster. Und nun kommst du aus dem fernen Zürich und belegst schlüssig, dass die armen Seelen, Gott habe sie selig, ermordet worden sind.»
«Ihr glaubt mir?», fragte ich erstaunt. Die vier Bretonen schauten mich ernst an und nickten.
«Weshalb sollte die arme Loane seither jeden Tag zur Mole laufen, und dies seit zweihundert Jahren, wenn man sie nicht der Chance beraubt hätte, die Rückkehr der Schiffe zu erleben?», fragte Yoric rethorisch.
«Selbstmörder haben die Welt satt. Weshalb sollten sie nach ihrem Tod noch auf Erden spuken?», fragte der älteste.
«Was waren unsere Vorfahren doch dumm!», schüttelte der mit den pünktlichen Zügen den Kopf und nahm ein weiteres Ricola.
«Voilà», entgegnete Yoric.
«Du musst mit ihr sprechen», sagte Chocolat. «Du bist Journalist, du stellst die richtigen Fragen. Wir müssen wissen, ob sie umgebracht worden ist, und von wem.»
«Und weshalb sollte Loane mit mir sprechen? Heute Mittag ist sie beinahe durch mich hindurch gegangen.»
«Du bist jung», antwortete Ricola.
«Danke, aber Loane ist fast zehn Jahre jünger als ich…»
«Aber du bist hübsch…», sagte der älteste.
«Und wenn du uns gefällst, wirst du ihr auch gefallen», flachste Ricola.
«Chabis, verzellet das am Fährimaa, Buebe!», zischte ich.
«Ich ginge ja schon an deiner Stelle», sagte Yoric und legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm. «Du weisst, du bist Schreiberling und ich Gastwirt. Wir beide erzählen Geschichten, das gehört zu unserem Metier. Aber ich bin der Diskretion verpflichtet und sollte eigentlich nur zuhören. Du als Journalist stellst Fragen, davon lebst du.»
«Also gut, dann bin ich der erste Journalist, der ein Interview mit einem Geist führt», fügte ich an. Der Chouchen hinterliess seine Spuren.
«A la tienne!», rief der älteste und prostete mir zusammen mit Chocolat und Ricola zu. «Wenn sie mit dir spricht, dann bezahlen wir selbst», feixte der alte. «Und sonst bist du dran. Jeder, der die Loane sieht, muss eine Lokalrunde bezahlen.»

Eine halbe Stunde später ging ich langsam auf den Pier zu. Ich sah niemanden. Schon gar keine trauernde Witwe in einer bretonischen Tracht von vor zweihundert Jahren. Wenn ich mich schon zum Gespött der Einheimischen machte, dann doch wenigstes mit Stil, dachte ich und schritt lässig, einen weiteren Zino Brasil rauchend, hinaus auf den Pier, an dem die zwei oder drei müden Trawler vertäut waren. Noch immer sah ich niemand vor mir, da tauchte sie unvermittelt vor mir auf. Sie schritt auf mich zu und ging an mir vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Nein, das durfte nicht wahr sein, ich lief ihr hinterher und rief ihren Namen. In dem Moment als ich mir bewusst wurde, dass ihr nicht mehr folgte, hörte ich ihre Schritte hinter mir. Ich drehte mich auf den Absätzen um und stand beinahe Gesicht an Gesicht mit Loane.
«Hören Sie… Ich bin Journalist… Ich schreibe für ein Reisemagazin aus Hamburg… Ich komme aus Zürich… 1827… Was ist damals geschehen?», stammelte ich unbeholfen in besserem Français fédérale. Mein Herz schlug mir bis zum Halszäpfchen hoch.
«Ich habe Sie noch nie hier gesehen, Monsieur», sagte Loane in stark bretonisch gefärbtem Französisch. Für einen Moment hatten wir Blickkontakt. Loane hatte grüngraue Augen. «Bitte sagen Sie den Leuten vom Dorf, dass die Schiffe heute heimkommen», fuhr sie mit ihrer sanften Stimme fort. Hatte ich vorhin im «Petit Môle» bloss vor mich hin schwadroniert, so konnte ich mir allein wegen ihrer zarten Stimme kaum vorstellen, vor einer Kindsmörderin zu stehen.
«Wurden Sie und ihre Kinder ermordet, oder…», hakte ich nach.
«Oder was, jeune homme? Woher kommen Sie?»
«Je viens de Zurich.»
«Kenn’ ich nicht. C’est où?»
«Das ist etwa zwei Mal von hier nach Paris»
«So weit entfernt? Paris ist eine Weltreise von hier. Und die Welt ist rund. Dann sind sie mit dem Schiff aus dem Westen gekommen?» Ich musste wohl ziemlich verdattert diesen bretonischen Geist angeschaut haben. Auf jeden Fall griff Loane sanft nach meinem Arm.
«Ich habe weder meine Kinder noch mich getötet. 1827 war ein böses Jahr für Loane.»
«Aber wer war es dann?»
«Der Dorfkrämer, er hatte schon vor dem Sturm mit meinem Mann Streit, weil er unser Land erwerben wollte. Er war vor der Christmette in mein Haus eingedrungen und hat mich gedrängt. Als ich mich gewehrt habe, ist er wahnsinnig geworden.»
«Loane…», sagte ich verwirrt.
«Sie sind der letzte, der mich hier sehen wird, Süric. Wie ist ihr Name?»
Stammelnd nannte ich meinen Namen.
«Sie heissen wirklich Yves, Süric? Das ist ein bretonischer Name. St Yves ist der Schutzpatron der Richter und Verteidiger. Sein Grab ist in der Kirche von Tréguier. Also können Sie doch nicht von so weit herkommen, wie sie mich glauben machen wollten. Ich werde dennoch beim heiligen Petrus ein gutes Wort für Sie einlegen, damit er Sie in sein nächstes Gebet einschliesst. Sie sind der erste, der sich für die Wahrheit interessiert hat. Adieu!», sagte sie und lächelte mich an. Von meinem heiligen Namensvetter hatte ich schon gehört und sogar einmal einen Kaffee im Restaurant neben seiner Grabeskirche getrunken. Doch habe ich nicht eben mit einem Geist gesprochen, der bei Petrus ein Wort für mich einlegen wird, obwohl ich als Protestant direkten Zugang zum Herrgott habe?

«Merde alors, foutez-moi la paix!», schimpfte ich, als ich das «Petit Môle» betrat und die drei Alten noch immer feixten, dass sie mich mit Loane gesehen hätten. Es gab offenbar nur jemand, der seit 1827 mit ihr gesprochen hat. Ausgerechnet ich, der Journalist aus dem fernen Zürich. Loane wusste nicht wo Zürich lag. Sie ignorierte mich zunächst, so wie ich das auch getan hätte, wenn ich mich mir als Journalist vorgestellt hätte. Journalist, was ist das schon? Und dann noch Reisejournalist? Je vous en prie Mesdames et Messieurs…
«Sie hat mir etwas mitgeteilt», sagte ich und muss dabei so überzeugend geklungen haben, dass die drei Alten ihren Spott umgehend einstellten.
«Aber nicht ohne», sagte ich und Yoric verstand. Er kehrte mit einem Tablett Gläsern und einer Flasche Chouchen zurück. Wir setzten uns an den Stammtisch.
«Ecoute», sagte der Wirt, «die Geschichte mit dem Sturm stimmt wirklich. Und seither haben auch immer wieder Fremde Loane gesehen. Aber noch nie hat jemand mit ihr sprechen können, weder Einheimische noch Fremde.»
«Sie geht auf die Leute zu, und manchmal mitten durch sie hindurch», sagte der Älteste.
«So wie bei mir heute Mittag», sagte ich. «Bevor ich ins ‹Petit Môle› gekommen bin, habe ich auf der Mole aufs Meer geschaut, da war sie plötzlich aufgetaucht und ist beinahe durch mich hindurchgegangen, als ob ich der personifizierte St. Gotthard Tunnel wäre.»
«Was hat dir Loane vorhin gesagt», fragte Yoric eindringlich.
«Dass sie ist ermordet worden ist», antwortete ich und wartete auf die Reaktion der vier.
«Das ist unmöglich!», sagte Yoric bestimmt. Die drei Senioren nickten gewichtig.
«Wer ist ihr Mörder?», fragte schlussendlich Chocolat.
«Der Krämer. Loane erwähnte, dass er schon zu Lebzeiten ihres Mannes das Land ihres Hauses gewollt hatte. Er versuchte sie zu vergewaltigen, und als sie sich wehrte, brachte er sie und die Kinder ohne mit der Wimper zu zucken um.»
«1828 hatte der Krämer das Haus und Land von Loanes Familie gekauft», sagte der älteste.
«In seiner Familie stellen die Söhne bis heute den jungen Frauen des Dorfes nach», zischte Ricola verächtlich. Ehe Yoric noch etwas sagen konnte, knallte die Türe des «Petit Môle» auf und ein achtjähriger Knabe betrat ausser Atem das Restaurant.
«Die Schiffe…», keuchte er, «wie Loane immer sagt… der Atlantik hat sie freigegeben… Eines liegt kurz vor dem Hafen und ist von der Mole aus zu sehen.»

Yoric und ich sassen drei Wochen nach der ganzen Aufregung bei einer überdurchschnittlich guten und entsprechend teuren Flasche Bordeaux im «Petit Môle», wo ich im Gästezimmer übernachtete. Das plötzliche Auftauchen der Schiffswracks vor der Küste hatte sämtliche Medien in Kergulec angeschwemmt. Ich habe es vorgezogen, mit Rückendeckung der Redaktion in Hamburg, mich gegenüber meinen Standesgenossen als ahnungsloser Tourist auf die Seite der schweigenden Einheimischen zu schlagen. Meine Kolumne hat sich seither von selbst geschrieben und sie war vier Mal so lange geworden, als ich Platz zur Verfügung gehabt hätte. Da man aber Loane seit dem Auftauchen der Schiffe nicht mehr gesichtet hatte, würde mein bescheidener Bericht in seiner vollen Pracht Titelthema der nächsten Ausgabe werden, die den Schwerpunkt Hafenlegenden haben wird. Mit Yoric vereinbarte ich, dass aus dem zusätzlichen Honorar eine ordentliche Abschiedsfeier für Loane und die Kinder bezahlt würde.

Als ich am Abend nach der Gedenkfeier auf die Strasse vor das «Petit Môle» hinaustrat, ich kann es beschwören, hat mir Loane mit den Kindern vom Pier aus zugewinkt. Nur leider gibt es für diese Begegnung keine Zeugen.


 

zurück zur Story-Sélection
zurück zur Belletristik
VzfB-Home

 

Loane – 2015  

© 2015 by VzfB. All Rights reserved.