Strandkorbgeschichte
PDF Download


Das war wohl der berüchtigte Schritt zu viel gewesen, denn auf einmal ging es abwärts. Rasant abwärts. Ehe sichs Bagaluten Sibo versah, fand er sich kopfüber im freien Fall wieder. Um nicht ungespitzt in den Boden zu rammen, begann er mit den Armen zu rudern. Bedrohlich schnell näherte er sich dem Grund. Um sich noch drehen zu können, musste er die Harfe und die Flasche loslassen. Konnte er die Harfe noch verschmerzen, schmerzte ihn der Verlust der Flasche umso mehr. Langsam, viel zu langsam, veränderte sich seine Position. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, schon hatte er die letzten Wolken hinter sich, als er sich erst in der Horizontalen befand. Wild um sich tretend und mit den Armen rudernd, drehte sich Bagaluten Sibo langsam in Position, während er auf den Erdboden zuraste. Er schlang seine Arme um die Knie und schloss die Augen in Erwartungen des unvermeidlichen Schlages, der so sicher wie das Amen in der Kirche folgen würde. Und er kam, der Schlag. Heftig, sehr heftig sogar. Doch der Aufprall, Gott sei Dank auf dem Gesäss, raubte ihm nicht nur die Luft, sondern liess ihm auch die Sinne schwinden. Wäre er noch bei Bewusstsein gewesen, Bagaluten Sibo hätte sich gewundert, dass Schwarz so schwarz und so bunt zugleich sein konnte.

Anneke hielt Baas Aap das Kookje hin, ehe sie herzhaft in das Plätzchen biss. Während sie kaute, blickte sie über die bunten, auf dem Havelaarder Strand verteilten Strandkörbe und die gekräuselten Wellen der Nordsee, da sah sie etwas am Himmel aufleuchten.
«Siehst du das, Baas Aap?», fragte sie und drückte den von ihrer Mutter gestrickten Affen, den sie ihr zu ihrem ersten Geburtstag geschenkt hatte, fest an sich. Das Licht wurde immer heller, je näher es der Erde kam. Dann verschwand es hinter einem grünen Strandkorb mit einer blauen Nummer. Eine Staubwolke stieg über den Strandkorb auf und legte sich wieder.
«Mama, ich hab’ einen Engel vom Himmel fallen sehen», sagte Anneke.
«Alles fein in de Reech, mien Leev», antwortete ihre Mutter ohne den Blick von ihrem iPhone zu nehmen, worauf sie den neuesten Klatsch auf Facebook mit einem Gefällt mir likte.
«Aber ich habe wirklich einen Engel vom Himmel fallen sehen!», protestierte Anneke.
«Ja, ja», entgegnete ihre Mutter abwesend. Mit einem empörten Schrei warf Anneke eine Hampfel Sand nach ihrer Mutter.
«Wullt du wat up de Juken hebben?», fragte sie düll und stammelte nach Annekes «Nie hast du Zeit für mich!» bloss noch verwirrt: «Wat?»
Schmollend drehte ihr ihre Tochter den Rücken zu und gab sich demonstrativ mit dem Affen ab. Hilflos verwarf die Mutter die Hände, dabei war sie extra mit Anneke zum Havelaarder Strand gekommen, damit die Kleine im Sand spielen konnte… Vergebens wartete sie auf eine Erleuchtung und auch auf Facebook tat sich verdächtig wenig.

«Zum Glück kümmert sich der Chef persönlich um die Lebenden. Die Toten machen uns Mühe genug…», sprach der Erzengel Gabriel halb tadelnd, halb vorwurfsvoll. «Nachdem man mir mitgeteilt hat, dass du von deiner Wolke gefallen bist, bin ich umgehend zum Havelaarder Strand geflogen, um dich wieder zurück in den Himmel zu bringen.
«Ohne eine Flasche Klaren?», fragte Bagaluten Sibo schelmisch.
«Wenn du weiterhin im Himmel so weitersäufst wie auf Erden, wirst du durch das jüngste Gericht fallen», entgegnete Gabriel ärgerlich.
«Wegen einer himmlischen Flasche Klaren bin ich auch wie ein dicker Tuffeltiek auf die Erde geplumpst», bekannte Bagaluten Sibo kleinlaut.

«Mama, kiek ins, dat mooi Jüffel!», rief Anneke begeistert. Der Golden Retriever blickte in Richtung des Rufes und glaubte, Baas Baar in den Händen des kleinen Mädchens zu sehen. Kinder können leicht erschrecken, das hatte er schmerzvoll gelernt. So gab er sich Mühe, sich nicht allzusehr zu beeilen und ging wedelnd auf Anneke zu.
«Jiffer!», rief ihm Tommeke nach.
«Alles fein in de Reech!», schien der Jüffel zurück zu wedeln und drückte kurz danach seine feuchte Nase auf Baas Aap.
«Wuff», blaffte Jiffer enttäuscht.
«Lorbass, dat is nixnich!», sagte Tommeke und schaute entschuldigend zu Annekes Mutter.

«Wo zum Harfen-Stimmer hast du bloss gesteckt?», fragte Gabriel genervt.
«Na hier, auf dem Havelaarder Strand. Wie du weisst, bin ich in Fiskerstedt aufgewachsen.»
«Hier hab’ ich dich auch gesucht. Doch als ich meinen Fuss auf die Erde gesetzt habe, sah ich mich umzingelt von einer Legion Strandkrabben, die mit ihren Scheren geklappert haben.»
«Das tun Krabben in der Regel, wenn man sie erschreckt…», bemerkte Sibo spitz.
«Erst als ich mein Schwert gezogen habe, stoben sie gesenkten Hauptes auseinander», entgegnete Gabriel.

«Alles fein in de Reech!», lächelte Annekes Mutter. «Ik bün Mareike un dat is Anneke.»

«Ich habe dich überall gesucht. Wo bist du gewesen?», fragte Gabriel erneut. «Als ich nach dem Absturz zu mir gekommen bin, war es bereits Nacht. Ich habe mich in einen Strandkorb gesetzt und habe eine Runde geschlafen. Als ich am Morgen erwachte, erkannte ich, dass ich auf dem Havelaarder Strand gelandet bin. Auf diesen Schreck hin brauchte ich etwas zu trinken. Und so bin ich nach Fiskerstedt gegangen, wo man früher den besten Klaren und die leichtesten Mädchen gefunden hat. Doch wie hat sich seit meinem Tod die Welt verändert? Die meisten Mädchen baden oben ohne, dafür gibt’s in Fiskerstedt nichts mehr zu trinken. Wo bleibt da der ganze Spass?», jammerte Sibo.
«Maak, dat du de Dreih kriggst», sagte Gabriel, «sonst kriegst du Probleme mit dem Chef.»
«Ich glaube, der ist anderweitig beschäftigt. Wir könnten noch im ‹Aule Admirol› einen Klaren heben gehen. Der ist zwar etwas wässrig, dafür können wir einem Happy End beiwohnen», entgegnete Bagaluten Sibo.

«Tommeke», lächelte Tommeke und zeigte auf Jiffer: «Jiffer, mien Jüffel.» Vergnügt quietschte Anneke, als ihr Jiffer mit seiner schlabbrig feuchten Zunge übers Gesicht fuhr.
«Jüffel schullt man sien», sagte Mareike.
«Jüffel schullt man sien», antwortete Tommeke. Lächelnd schaute er zunächst Jiffer und Anneke an, danach Mareike. Hier kreuzten sich ihre Blicke…

 

zurück zur Story-Sélection
zurück zur Belletristik
VzfB-Home



Glossar:

Baas Aap/Baas Baar
platt: Meister Affe/Meister Bär

Bagaluten
platt: Schlawiener (meistens bei Kindern verwendet)

Alles fein in de Reech, mien leev.
platt: Alles in Ordnung, mein Liebes.

Hampfel
zürichdeutsch: eine Hand voll

Wullt du wat up de Juken hebben?
platt: Wotsch Tätsch?

düll
platt:
zornig, wütend, erbost

Wat?
platt: Was?

Tuffeltiek
platt: Kartoffelkäfer

Mama, kiek ins, dat mooi Jüffel!
platt: Mama, schau Mal, der schöne Hund.

Lorbass, dat is nixnich.
platt: Lümmel, das ist nichts.

Ick bün Mareike un dat is Anneke.
platt: Ich bin Mareike und das ist Anneke.

Maak, dat du de Dreih kriggst
platt: Mach, dass du wegkommst.

Jüffel schullt man sien.
platt: Hund sollte man sein.

 

Strandkorbgeschichte – 2015  

© 2015 by VzfB. All Rights reserved.