Titeuf
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Seine Schwester drückte ihm ein Fotoalbum in die Hand und sagte, er solle sich die Fotos unbedingt ansehen. Welche unbeabsichtigten Folgen diese alltägliche Handlung haben würde, war sich die arme Cécile in dem Moment, als sie Titeuf das Album gab, nicht bewusst.

Titeuf glaubte nur, was er sah. Schon sein ganzes Leben lang. Das hatte ihn bei seinen Schulkollegen nicht unbedingt beliebt gemacht, aber er war damit zu Gang gekommen. Er war nie in den April geschickt worden, aber das hatte ihn nicht weiter gestört. Dass eins und eins zwei ergibt, hatte er schon als kleiner Junge mit Kuchenstücken gelernt. Und dass drei und eins vier sind, war für ihn an dem Tag, an dem seine Schwester Cécile geboren wurde, bewiesen. Von da an hatte klein Titeuf mit der Mathematik keine Probleme mehr, weil die Beweise mit Kuchenstücken und einem Schwesterchen erbracht worden waren. Dennoch hatten sich seine schulischen Leistungen nach und nach verschlechtert, da mit jedem Schuljahr neue Fächer hinzugekommen waren, bei denen sich die Tatsachen nicht mehr so leicht mit Kuchen und kleinen Schwestern hatten beweisen lassen. Am besten war Titeuf in der Geometrie, denn hier konnte man rechnen und durfte zeichnen. Titeuf zeichnete für sein Leben gerne. Und da er die Bilder in seinem Kopf sah, bevor er sie zu Blatt brachte, hielt er die von ihm gezeichneten Objekte für real existierend.

Doch zurück zur Geometrie, denn bei ihr waren auch die ersten alarmierenden Zeichen für ein mögliches schulisches Desaster aufgetreten. Dass ein gleichseitiges Dreieck aus drei je gleich langen Seiten besteht, hatte Titeuf nach der ersten Zeichnung begriffen. Ausserdem empfand er die Form als ebenso perfekt wie die eines Quadrates oder eines Kreises. Doch schon den simplen Satz des Pythagoras hatte er zunächst angezweifelt. Und während die Lehrerin weiter mit dem Unterricht fortgefahren war, hatte Titeuf wie wild begonnen, Quadrate zu zeichnen, diese auszuschneiden und sie über die Hypothenusen zu legen, bis er sich schlussendlich von der Richtigkeit des Py-thagoras’schen Satz überzeugt hatte. Dummerweise war nun die Geometriestunde vorbei gewesen und vom restlichen Stoff hatte er nichts mehr mitbekommen, weshalb er seine Hausaufgaben nicht hatte lösen können. Das hatte ihm zusätzlich eine Strafaufgabe eingebrockt, die ihm zwar den verpassten Stoff vermittelt, aber dennoch nichts genützt hatte, da sich dieselbe Szene noch unzählige Male wiederholen sollte.

Je älter und reifer Titeuf wurde, desto schlechter wurden seine Leistungen. Weshalb sollte das Foto im Geschichtsbuch die Büste von Kaiser Friedrich Barbarossa darstellen? Weder hatte Titeuf den Kaiser mit eigenen Augen gesehen noch hatte er die Büste hergestellt. Gerade so gut hätte es ein Abbild seines Urgrossvaters sein können. Diesen hatte er auch nie kennengelernt. Ähnlich erging es ihm in der Geografie: Warum sollte es in der Antarktis kalt sein, wenn sie sich doch im warmen Süden befindet? Und liegt Amerika tatsächlich auf der anderen Seite des Atlantiks, wie das der Globus behauptet? Amerika könnte genauso gut einer der dunkleren Flecken auf dem Mond sein oder gar nicht existieren, wie Peter Bichsel in einer Kurzgeschichte suggeriert. Titeuf war weder in der Antarktis noch in Amerika gewesen, um die gelehrten Tatsachen überprüfen zu können. Physik wollte ihm auch partout nicht in den Kopf. Weshalb sollte eine Kraft wirken, wenn er gegen die Wand lief? Die Mauer war bloss ein Hindernis und er wäre schön blöd gewesen, sich eine Beule zu holen, um es selber nachzuvollziehen. Und dass es der Luftwiderstand war, der jede Bewegung verlangsamte, konnte Titeuf auch nicht akzeptieren. Denn im Selbstversuch, den er auf dem Pausenplatz angestellt hatte, war ihm die Puste ausgegangen, ehe er die Reibung, welche angeblich die Meteoriten zum Glühen brachte, gespürt hatte. Und so waren Titeufs Schulnoten in den meisten Fächern einem bedenklich tiefen Niveau entgegen gesunken. Einzig die Chemie war so problemlos wie die Mathematik gewesen. Schliesslich musste man für eine Menthe à l’eau Pfefferminzsirup und Wasser mischen. Und beim Malen mischte Titeuf blau mit gelb, damit er grün erhielt. Deshalb akzeptierte er, dass man halt für kompliziertere Gebilde ordentlich viele Substanzen zusammenmischen musste.

Hoffnungsvoll hatte es in der Biologie begonnen. Fasziniert hatte Titeuf von der Fotosynthese, bei der sich Licht in Traubenzucker und Sauerstoff verwandelt, gehört. Doch schon bald begannen ihn erste Zweifel zu beschleichen, zu fantastisch klang das in seinen Ohren. Bisher hatte er noch nie auf dem Waldboden Traubenzucker gefunden. Vielleicht waren ihm andere zuvorgekommen und hatten ihn aufgesammelt, sodass er den Traubenzucker jeweils am Kiosk kaufen musste? Da wäre es doch eigentlich ganz sinnvoll, wenn er künftig sein Taschengeld sparen indem er den Traubenzucker würde selbst herstellen können. Gleich am nächsten Samstag wollte er mit der Produktion loslegen. Titeuf hatte sich noch gewundert, dass niemand vor ihm auf diese Idee gekommen war. Und so hatte er am Samstagvormittag mit seiner Taschenlampe auf ein grosses Blatt der Palme, die in der elterlichen Stube stand, geleuchtet und sein Gesicht dicht daran gehalten, um den feinen Luftzug, der zweifellos durch die Fotosynthese entstehen würde, auch wirklich zu spüren. Als er nach einer Weile nichts gespürt hatte, wechselte er von der Taschenlampe zum Scheinwerfer seines Vaters. Doch schon bald taten ihm wegen des Gewichts seine Arme weh, weshalb er den Scheinwerfer schlussendlich auf dem Fotostativ seines Vaters montiert hatte. Und so leuchtete er erneut das Palmblatt an, während er auf dessen Licht abgewandten Seite verharrte und hoffnungsvoll auf einen kurzen, aber spürbaren Luftzug wartete, der nach dem darin enthaltenen Traubenzucker schmecken sollte. Und so waren die samstäglichen Stunden ins Land gezogen, bis Titeuf der Rücken derart geschmerzt hatte, dass er enttäuscht seinen Versuch abgebrochen und zwei Aspirin geschluckt hatte. Dieser Fehlschlag drohte das Ende seiner schulischen Laufbahn zu werden, denn seine Noten waren danach ins Bodenlose gesunken.

Seine Eltern hatten alle erdenklichen Schritte unternommen, um ihren Sohn zu unterstützen. Er war ja nicht dumm. Bloss vernünftig. Und so hatte er sich mit seiner Haltung selbst im Weg gestanden. Alles Zureden der Lehrer und der Eltern war erfolglos geblieben. Nicht einmal die Tränen der Mutter oder die Strafen des Vaters nach weiteren schlechten Noten, noch weniger die Begutachtung durch unzählige Psychologen, Psychiater und des Gemeindepfarrers hatten Titeuf von seiner Überzeugung abzubringen vermocht. Er hatte immer mehr in Richtung eines Lebens zu schlittern begonnen, das in der Leistungsgesellschaft nichts Wert sein würde. Wie hätte er eine Lehrstelle finden sollen, wenn er wegen ungenügenden Schulleistungen keinen vorzeigbaren Abschluss vorweisen konnte?

Sein Leben schien damals unaufhaltsam in einer grossen Katastrophe zu münden, in die er sehenden Auges rutschte. Da hatte seine Grossmutter die rettende Idee gehabt: Sie hatte ihren Enkel zu einem Coupe Dänemark mit einer Extraportion heisser Schokolade eingeladen und ihm geraten, alles so zu lernen wie es in den Schulbüchern stand, jedoch am Ende der Examen die Bemerkung «In den Büchern stehen diese Dinge, aber ob sie Tatsachen sind, kann ich nicht sagen, da ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, dass dem so ist» zu schreiben. Dies wäre auf jeden Fall intelligenter, als leere Blätter abzugeben. Titeuf war zuerst skeptisch, doch ein zweiter Dänemark und das darauf folgende Bauchweh bedingte Nachdenken hatten ihn Omas Rat als praktikabel erscheinen lassen. Und so hatte er fortan auf jede Prüfung Grosis Satz geschrieben. Zwar waren die Lehrer darüber nicht sehr erfreut gewesen, doch seine Noten haben seinem Intellekt zu entsprechen begonnen und quasi über Nacht war aus Titeuf ein brillanter Schüler geworden, der nach dem Gymnasium Chemie studierte.

Mit seinem Leben hatte sich Titeuf arrangiert. Er las weder Zeitungen noch hörte er Radio und sah kein Fernsehen. Nur schon um die Schlagzeilen auf der Frontseite der Tageszeitung zu überprüfen, fehlte ihm die Zeit. Freunde hatte Titeuf nicht viele. Doch das war ihm egal, lieber forschte er im Reich der Chemie, berechnete komplizierte Formeln und mischte neue Substanzen. Bloss mit der Religion hatte er Mühe. Nicht mit Gott, Gott bewahre: Er hatte ihn bloss noch nie gesehen und bis er ihn am durchaus hypotetischen Tag des jüngsten Gerichts mit eigenen Augen sehen würde, glaubte er nicht an ihn. Danach wäre der Fall ja klar und er würde an Gott glauben und folglich auch gerettet werden. Titeuf störte sich aber daran, dass die Mehrheit seiner Landsleute in Bezug auf Gott gleich dachte wie er, ihn aber, der alle Fragen des Lebens derart konsequent und logisch beantwortete, für einen verschrobenen Professor hielt.

Vor drei Wochen nun war seine Mutter gestorben. Da sie die letzten Jahre ihres Lebens als Witwe verbracht hatte, mussten nun Titeuf und seine Schwester Cécile den Haushalt auflösen. Und so kam es zu dem verhängnisvollen Ereignis. Seine Schwester drückte ihm ein Fotoalbum in die Hand und sagte, er solle sich die Fotos unbedingt ansehen. Er legte es auf den Stubentisch und setzte sich auf einen Stuhl. Cécile weiss noch zu berichten, dass sie sich neben ihren Bruder gesetzt hatte. Er blätterte das Album durch und schaute mehr oder weniger unbeteiligt die vergilbten schwarzweiss Fotos an. Auf einem Bild war ein Säugling in einem dämlichen Matrosenanzug zu sehen.
«Siehst du, das war Mama, als sie drei Monate alt war. Für mich ist das irgendwie unvorstellbar, dass sie auch einmal ein Baby gewesen ist. Schliesslich habe ich sie nur als erwachsene Frau gekannt. Ist das nicht toll?», fragte Cécile enthusiastisch.
«Ich glaube nicht, dass das Mama auf dem Foto ist», sagte Titeuf. «Ich habe sie als Baby nicht gekannt. Und das Foto habe ich auch nicht gemacht.»
Bevor Cécile entrüstet seinen Namen rufen konnte, gab es einen Knall, der sie zusammenzucken liess. Und dann war Titeuf verschwunden. Ungläubig und mit pochendem Herzen starrte Cécile auf den leeren Stuhl neben sich. Sie sagte seinen Namen und wartete einen Moment. Doch nichts geschah. Sie rief erneut nach ihrem Bruder. Doch sein Stuhl blieb leer. Mit Tränen erstickter Stimme rief sie nochmals seinen Namen.

Titeuf blieb verschwunden.

 

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Titeuf – 2008  

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