Sprachebtrachtung: Schöllenen
11. Oktober 2008


Unterwegs für den grossen Roman. Trotz andauernden Schlafproblemen, diese Nacht habe ich knapp vier Stunden im Bett gelegen, machte ich mich eine Stunde früher als im Alltag auf den Weg, um den Zug um halb Acht nach Flüelen zu erwischen. Dort möchte ich vor Ort recherchieren. Ein Spaziergang von Flüelen über Altdorf nach Bürgeln ins Tell Museum sowie der Aufstieg die Schöllenenschlucht hoch stehen auf dem Programm. Der Morgennebel, der Zürich fest im Griff hat, ist auch entlang des Zugersees hartnäckig. Und so studiere ich anstelle des Graus vor dem Fenster mein Billett und entdecke, dass es zehn Tage lang gültig ist. Kurz blitzt ein Gedanke auf: Ich könnte ja verschwinden, spontan in Andermatt ein Zimmer nehmen, sämtliche Anruf und SMS ignorieren und erst in zehn Tagen wieder auftauchen. Da niemand weiss, dass ich Uri bin, wäre es noch interessant herauszufinden, ob ich gefunden würde. Die Chancen, als verschollen zu gelten, sind in meinem Fall gross.

flüelen 2008


Kaum habe ich das Szenario durchgespielt und verworfen, bleibe ich am Wort verschollen hängen. Ich finde die Idee irgendwie noch passend, steht doch die Schöllenen auf dem Programm. Ich werde am Nachmittag verschöllenen. Gut, aber wie heisst das Verb zum Adjektiv korrekt? Ich verscholle? Ich bin verschollen, er war verschollen, das Flugzeug verschwand vom Radarschirm und war während drei Wochen verschollen. Gibt es denn tatsächlich kein Verb dazu, wie beispielsweise von hübsch? Man ist hübsch, und man ist verschollen, vielleicht sogar beides. Aber man kann hübschen, indem man zum Coiffeur oder der Kosmetikerin geht. Kann man denn die Tätigkeit des verschollen seins nicht auch aktiv ausführen? So wie ich es oben ausgeführt habe? Dann müsste die Konjugation wohl folgerichtig ich verscholle, du verschollst, er verschollt heissen. Oder eher du verschillst? Wohl kaum, korrekt wäre in diesem Fall ich verschillere, denn ich bin ja unterwegs nach Uri zu Wilhelm Tell.

Des Rätsels Lösung bringen die etymologischen Wörterbücher des Dudens und von Wolfgang Peifer. Mein Sprachsinn täuschte mich nicht, zu verschollen gehört ein Verb. Mehr noch, es ist sogar ein Verb, ein Synonym zu verschwinden. Verschollen ist das Partizip 2 des wenig gebräuchlichen starken Verbes verschallen und hat – wie es impliziert – tatsächlich mit Schall zu tun. Denn Schall und schellen bzw. Schelle haben die althochdeutschen Ausdrücke scal bzw. scelal zur Grundlage, deren Verwandte das skandinavische skal ist. Mit verschallen meinte man, dass der laute Ton verklungen, also verschollen, ist. Laut Duden gilt verschollen seit dem 18. Jahrhundert als juristischer Ausdruck für verschwundene Personen. Pfeifer setzt diesen Zeitpunkt ins 19. Jahrhundert und ergänzt, dass verschollen sein im 18. Jahrhundert die Bedeutung von längst vergangen sein hatte.

Worauf aber der Namen der Schöllenenschlucht zurückzuführen ist, konnte ich nicht ermitteln. Vorstellbar ist, dass der Schöllenen ebenfalls scal zu Grunde liegt. Schliesslich war die Schlucht bis ins Hochmittelalter unpassierbar. Und ebenda rauscht das Wasser. Dieses Rauschen ist heutzutage verschwunden, steht oberhalb der Schöllenen eine Staumauer welche die Reuss zu einem meist kläglichen Rinnsal werden lässt. Womit das Schallen der Reuss bis ans Ende unserer Zivlisation in der Schöllenen verschollen ist.

schöllenen 2008



 

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