Strelapass
13. August 2008


Gipfeltreffen des Tethys-Mélange: Anthrazit farbener Bündner Schiefer, vulkanisch grüner Serpentinit und weisser Dolomit. Werner und ich packen je einen Erinnerungsstein in den Rucksack, er einen Dolomit, ich einen Serpentinit. Aufstieg unter glühender Augustsonne Richtung Weissfluh über Dolomitgeröll. Werner, doppelt so alt und ebenso schnell, mindestens dreissig Meter voraus. Auf dem Gipfel angekommen, weise ich Werner darauf hin, dass er als Deutscher – und folglich Ausländer – den Bunker unter der drehenden Radaranlage auf dem Nachbargipfel auf 2600 M.ü.M gefliessentlich zu ignorieren habe, obwohl eine Seilbahn dahin führt und sich eine unbemannte Gondel in Richtung der getarnten Metalltüre – die sich nie öffnen wird – in Bewegung setzt… Während Werner fasziniert die sinnlose Fahrt der roten Kabine verfolgt, frage ich mich, was eben beschriebene Szene vor einer durch die Armee ausgehölten Bergkulisse über den mentalen Gesundheitszustand eines Volkes aussagt. –

Der Wintertourismus subventioniert die Sommergäste: das Bergrestaurant ist in der Hauptreisezeit eine Bauruine, dafür ermöglicht die Kurtaxe ab der zweiten Nacht gratis Bergfahrten in die ruinierten Pistengebiete. Der Himmel verdüstert sich zusehends, dennoch ist die Aussicht grandios: die Täler der Davoser Landschaft, dahinter die grauen Bergketten, welche die Nordschweiz vom Süden trennen, etwas weiter entfernt sind die bläulichen Vorarlberger Alpen zum Greifen nah, die Sonne strahlt den Piz Bernina an. Kurze Drehung, der Blick schweift über die benachbarten Davoser Gipfel und taucht in den Talkessel von Arosa hinab. Werner sucht mit seinem Okular die Kirche, wo er vor Jahresfrist ein Orgelkonzert gegeben hat. Gemäss Karte würde man irgendwo im Westen das Lukmaniergebiet und etwas daneben das Finsteraarhorn im Berner Oberland sehen, doch gierige dunkle Wolken verschlingen das hehre Alpenpanorama bis weit in die Surselva hinab. Im Nebel noch schwach erkennbar sind der Calanda, Pizol und die Flumserberge, die Churfirsten und der Alpstein sind bereits wieder von den Wolken verschluckt. Über den Vilan schweifend endet der Rundblick auf der militärischen Radaranlage auf der Weissfluh. Bei deren Anblick läuft mir plötzlich «High Voltage Rock’n’Roll» von AC/DC nach, allerdings in der plüschigen Version der Eagles of Death Metal.

Die rote Gondel löst sich ohne erkennbare Last und Passagier von der Bunkertür uns vis-à-vis…

Das Picknick trotz des rasend aufziehenden Unwetters genossen, nach einer halben Stunde setzt Regen ein. Vor einer Stunde im Sonnenschein schweissgebadet aufsteigend, kämpfen wir uns nun über den nassen Geröllpfad, mit Händen an den Felsen Halt suchend und auf die Wanderstöcke gestützt, hinab. Vor uns ein Herr in meinem Alter in Regenschutz, Trainingshose und Wanderschuhen. «Er ist Jude», sagt Werner, «schau dir die Quasten an seiner Jacke an.» Hätte sie Werner nicht angesprochen, hätte ich geglaubt, dass die Jacke ausfransen würde. «Er hat Angst, lass uns mit ihm hinuntergehen», denke ich und Werner spricht es aus. Nach ein paar Schritten hält der Wanderer an, wir warten mit ihm und machen uns bekannt. Die Bergkameradschaft tut ihm sichtbar gut. «Sie sind Jude, wir sind Christen…», sagt Werner und lächelt den Herrn gewinnend an, «… wir beten zum selben Gott.» Der Wanderer lächelt verlegen, im strömenden Regen mitten in einer rutschigen Geröllhalde stehend. «I am English. My wife and my little son live in London», antwortet er leicht gequält. Ich gehe weiter, doch Werner ruft mir nach, ob ich nicht übersetzen könne. Eine hochalpine glitschignasse und um einen jüdisch-christlichen Austausch reichere halbe Stunde später verabschieden wir uns beim Weissfluhjoch wieder. Werner schwärmt vom guten Gespräch, Nebel umfliesst uns. Der Londoner zückt sein iPhone und ruft zuhause an. Während wir getrennt und doch noch ein Stück gemeinsam über die Skipiste dem Schiahorn entlang das Haupter Tälli in Richtung Strelapass absteigen, höre ich den Engländer seiner Frau erzählen, dass er wohlbehalten seine schlimmste Stunde im Leben überstanden habe.

Skipiste im Sommer über der Waldgrenze: braungraues Gestein neben braunem Gras, der Himmel wolkenverhangen; was im Winter trostlos weiss wäre, ist im Sommerregen öde trüb. Mitten im alpinen Nirgendwo ein Skiliftmast, bei dem eine jüdisch orthodoxe Familie Rast macht. Der Londoner Jude holt Werner und mich ein, noch immer sein iPhone am Ohr, eine heftige Diskussion führend. Wir verlassen die Skipiste nach Arosa und nehmen den Weg Richtung Strelapass, vor uns liegen Geröllhalden, Wiesen und enge alpine Pfade, es hat aufgehört zu regnen. Vom Weissfluhjoch her folgen uns zwei jüdisch orthodoxe Jugendliche. Auf halbem Weg zum Pass haben sie uns eingeholt, milchgesichtig und mit Bartflaum, bis vor kurzem waren sie mit ihrem dunklen Regenmantel und Hut der Witterung angepasst gewesen. Laufend, springend und hüpfend überholen sie uns, grüssen freundlich lächelnd und bringen in ihrem Schlepptau die Sonne zurück. Während ich auf einmal Mutter verstehe, die Angst kriegte, als Alain als Bub in den Bergen herumtollte, und über die hüpfenden Jugendlichen denke, dass es unverantwortlich ist, sich in den Bergen derart unangepasst zu bewegen, sagt Werner: «Schön, Abrahams Kinder so fröhlich zu sehen.» So schnell wie das Unwetter gekommen ist, strahlt nun wieder die Sonne. Ehe Werner und ich das Geröllfeld, die Galerien und Felsen zum Strelapass überquert haben, fotografiere ich das Panorama.

Über Schotter und durch zwei Galerien überqueren wir den Pass. Auf Davoser Seite gehen wir über Gras, die Sonne brennt bereits wieder in ihrer vollen Stärke. Die Terasse beim Restaurant Strelapass ist trocken, doch das mittägliche Unwetter hat die Gäste vertrieben, der Wirt räumt bereits eine Stunde vor Feierabend auf. Werner und ich bestellen Bratwurst. Während der kurzen Wartezeit kaufe ich Postkarten und eine Tube Sonnencreme, ob der Sonne juckt die Haut um die Lippen bedenklich. Meinen Gipfelzigarillo, ein Calandabräu und Werner ein Rivella geniessend, betrachten wir das Davoser Panorama. Auf dem Weg uns gegenüber liegt ein Schneefeld, zwei jüdisch orthodoxe Familien wandern darüber, die Kinder Berg gerecht gekleidet, halten für eine Schneeballschlacht inne, die Mütter im traditionellen Habitus zwei Schritte hinter ihren Männern gehend, immerhin noch Wanderschuhe tragend; die Väter im Regenmantel, als maximaler Tribut an die Berge in Turnschuhen, auf Gottes Schutz trauend gefährlich über Schotter und Schneefeld wankend und die Kinder wegen ihrer Schneeballschlacht zurechtweisend.

Kurz danach herzhaft in die Bratwurst beissend:Jeder Bissen eine Wonne, die Wurst à point gebraten, richtige Temperatur und Bissfestigkeit, man schmeckt den Holzkohlengrill, die Haut in Brauntönen, aber nicht verkohlt, dazu ein frisches Bürli und Senf. Blicke Werner an, beide Bratwurst erfahren, sind wir uns einig, dass diejenige vom Strelapass eine der besten ist, die wir je in unserem Leben gegessen haben.

davos strelapass 2008


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Seilbahn zum Himmel – 14. August
Ischalp, Davos – 14. August


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