von der Bedrohung durch ein Gebet
1. Oktober 2009


Welchem Gott huldigen Sie in Zeiten der Krise lieber, dem jüdisch-christlichen oder dem Profitstreben des Shareholder values? Im Herbst 2009 stecken beide Weltbilder in der Krise der säkularisierten neoliberalen Weltanschauung fest. World Vision, mein neuer Arbeitgeber startet als «faith based organisation» das neue Geschäftsjahr, das Anfang Oktober beginnt, der benediktinischen Regel ora et labora folgend mit einem Gebetstag. Trotz Kollaps des Finanzsystems konnte das vergangene Jahr mit einem ordentlichen Plus und mehr Investitionen in Entwicklungsprojekte abgeschlossen werden.

Feierabend, Vater ruft an, den ganzen Tag über wurde das «Höngg 1934-2009» Gut zum Druck gelesen, man wäre noch nicht fertig, ob ich nicht noch ins Büro kommen könne, ich müsse noch ein paar Quellenangaben überprüfen. Es ist mein erster Gebetstag, und obwohl ich müde bin, fühle ich mich gestärkt, in der Seele herrscht Frieden, der je länger der Tag dauerte desto grösser wurde. Bei Sonnenuntergang scheint meine innere Sonne. An der Saumackerstrasse gibt mir ein Inder über die Strasse hinweg Zeichen. Hilfe benötigt er offensichtlich keine, aber er verwickelt mich geschickt in ein Gespräch, ich wäre zufrieden und würde wie eine kleine Sonne strahlen. Er fragt, ob ich fünf Minuten Zeit hätte. Habe ich nicht, dennoch bin ich gespannt, was er möchte, er wird wohl ein Wahrsager oder Guru sein, der einem vor allem Geld abknöpft. Und so stellt er die üblichen Fragen nach Alter, Geburtsdatum, Zivilstand und Arbeit. Erstaunlich, was er mit diesen nichtsagenden Angaben über mein Leben im Allgemeinen und meine aktuelle Situation ableiten kann. Woher weiss er, dass ich eine schwierige Zeit hinter mir habe?

Zum Abschied drückt er mir eine billige Plastikkette in die Hand und zeigt mir ein Foto, das ihn vor einem Schrein in einem Hindutempel zeigt. Dort werde er für mich beten, damit ich meine Ziele erreichen würde. Ich wäre ein sympathischer Mann. Er benötige aber 100 Franken. Vor fünf Minuten wollte er auf entsprechende Rückfrage noch kein Geld… Mehr als eine Zehnernote habe ich nicht und drücke sie ihm die Hand. Etwas verwirrt fragt er nach, was das solle. Schlussendlich glaubt er mir, dass ich wegen der eben erst beendeten Arbeitslosigkeit kein Geld übrig hätte. Grosszügig gibt er sich mit dem offerierten Le Corbusier zufrieden und verzichtet auf den verlangten Giaccometti, nachdem ich ihm versprochen habe, ihm den Rest in einem Jahr zu bezahlen, wenn er nach eigenen Angaben wieder in Zürich sein würde. Einen Termin brauche er nicht abzumachen, überzeuge ich ihn, schliesslich habe er mich heute auch an der Saumackerstrasse aufgegabelt, ich sähe keinen Grund, weshalb er mich nicht wieder würde ausfindig machen. Er drückt mir nochmals herzlich die Hand, wünscht mir alles Gute und verspricht mir ein wunderbares Leben. Er werde für mich beten, ruft er mir nach. Ich drehe mich um, bedanke mich und füge an, dass auch ich für ihn beten würde.

Erschrocken schaut er mich an und nimmt reissaus. –




 

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