Sprachebtrachtung: vier Bilder
29. April 2009


Die heutige Sprachbetrachtung wendet sich wieder einmal dem Bild zu, das unweigerlich durch das Gesprochene entsteht. Bekanntlicherweise kann man nicht nichtkommunizieren. Dafür gibt es gleich vier Arten, wie das Gesagte beim Empfänger der Nachricht ankommen kann. Was dann darüber hinaus unbeteiligte Zuhörer aus dem Gehörten machen, wollen wir hier verfolgen. Zu ihrem Hochzeitstag wünschte sich heute beim klassichen Wunschkonzert am Radio eine Dame den Gefangenenchor «Va pensiero sull’ali dorate» (steig Gedanke auf goldenen Flügeln) aus Giuseppe Verdis Oper «Nabucco». Und so entstehen vor des unbeteiligten Schriftstellers geistigem Auge vier Bilder.

Beim ersten Bild sind wir sind Romantiker und denken nichts böses. Das künftige Ehepaar hat sich bei einer Aufführung von «Nabucco» kennengelernt. Um dem ganzen einen fast schon kitschigen rosaroten Touch zu geben, können wir uns vorstellen, dass dieses erste Treffen in der Mailänder Scala stattgefunden hat. An Ort und Stelle, wo die Oper 1842 uraufgeführt worden war.

Beim zweiten Bild konsumiert unser Ehepaar in spe nicht nur die Musik, sie machen sie auch selber. Hier kann man schon mit dem munteren Kombinieren beginnen: Sie haben beide im selben Chor gesungen, als es gefunkt hat. Oder sie spielte die erste Geige im Orchester, er liess seinen wunderbaren Bariton im Chor erklingen. Vielleicht waren sie auch beide Schauspieler und Sänger.

Es kann sich beim dritten Bild auch um Verdifans handeln. Zumindest bei einem der beiden muss es so sein. Wenn beide Fans sind, kommen wir schon bald wieder zum ersten Bild mit dem Treffen in einer Oper zurück. Darum lassen wir es zwischen den beiden Verdi Liebhabern in der Klassikabteilung des Plattenladens funken. Oder aber, immer noch im dritten Bild mit den Verdifans verweilend, könnte an der Hochzeit unseres Paares der Gefangenenchor gesungen worden sein.

Wurde also schon damals am schönsten Tag im Leben der Gefangenenchor, den man durchaus als Ohrwurm bezeichnen kann, gesungen, dann evoziert dies dieselben vier Bilder wie die Ausgangssituation unserer Sprachbetrachtung. Und führt uns unweigerlich zum jeweils letzten Bild hin: Gefangenenchor und Hochzeit sind nun nicht gerade das Traumpaar. Und auch der Titel des Chorals «steig Gedanke auf goldenen Flügeln» mag nicht recht ins Bild passen. Welcher Gedanke soll denn da in den Himmel steigen? Gefangene denken an die Freiheit. Wir streiten nicht ab, dass eine Ehe Freiheit bedeuten kann, aber aber wie wahrscheinlich ist dies? Beim vierten Bild haben wir eine mathematische Formel vor Augen:

Ehe + Freiheit = Hochzeit + Gefangenenchor.

Dem geneigten Schriftsteller eröffnen sich bei diesem Bild unzählige Geschichten mit den süssen Ingredienzen der Rache, des Hilferufs oder des Dramas. Mais honni soit qui mal y pense.

 



 

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