der Kuss der Muse
18. Mai 2010


Die ganze Woche über schon beobachtete ich Morgen für Morgen den graumelierten Herrn im anthrazitfarbenen Veston aus feinem Manchesterstoff im Café Amiez, in das ich jeweils mit einer Zeitung unter dem Arm einkehrte und mir einen Cappuccino mit Croissant gönnte, bis dass ich sicher sein konnte, dass mein Hotelzimmer nach meiner Rückkehr gereinigt sein würde, bevor ich in der romantisch verwunschenen Bergsturzlandschaft von Flims neue Inspiration sammeln würde. Während nun jeden Morgen der graumelierte Herr seine Zeitung las und Kaffee trank, lag seine unbenutzte Pfeife neben der Tasse auf dem Tisch. Irgendwie faszinierte mich dieses Bild, doch auch mit jedem weiteren Tag, an dem ich es betrachtete, konnte ich es nicht richtig deuten: Vom einfachen Feriengast bis zum frisch Geschiedenen konnte ich mir jede Menge Geschichten vorstellen, die zu dem graumelierten Herrn passen würden.

Der heutige Tag schien sich nicht von seinen Vorgängern zu unterscheiden – ist es nicht gerade diese Regelmässigkeit, die man in den Ferien sucht, um entspannen zu können? Doch auf einmal betrat diese wunderschöne schwarzhaarige Frau das Café Amiez und ging zielstrebig auf den Herrn zu. Die anderen Gäste nahmen keine Notiz von ihr. Resolut trat sie zu ihm hin, reichte ihm einen Briefumschlag und gab ihm einen Kuss, danach verschwand sie wieder genau so wie sie erschienen war. Die Miene des Herrn hellte sich auf. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch, stand auf und verliess das Café. Er vergass sogar seine Pfeife anzuzünden. Normalerweise steckte er sich diese vor der Eingangstüre wieder an. Ich schaute ihm nach und wunderte mich über die sonderbare Schönheit und den geheimnisvollen, aber erfreulichen Inhalt des Couverts. Der Herr ging schnurstracks die Strasse entlang. Als er aus meinem Blickfeld verschwunden war, schaute ich gedankenverloren zu seinem Tisch hin-über worauf er den Umschlag hat liegen lassen. Sollte ich ihm nun nacheilen und ihn ihm bringen? Ich stand auf, ging zu seinem Tisch und nahm das Couvert. Die Neugier packte mich und ich schaute hinein: Es war leer. Seltsam – ich war überzeugt, dass er nichts daraus entnommen hatte.

Am anderen Tag erinnerte nichts an die bizarre Szene. Der graumelierte Herr sass wieder fast bewegungslos hinter seiner Zeitung beim Kaffee. Die unbekannte Schönheit tauchte nicht wieder auf. Und so bezahlte er nach der Lektüre und zündete sich vor dem Café Amiez seine Pfeife an, ehe er seines Weges ging. Dieselbe Szene wiederholte sich die folgenden Tage, bis ich am Ende meiner Ferien abreisen musste, und wohl noch darüber hinaus. Im Alltag habe ich den graumelierten Zeitungsleser und die schöne Unbekannte schnell wieder vergessen. Seither ist etwas mehr als ein Jahr vergangen. Ich verbringe meine Ferien wieder in Flims und sitze Morgen für Morgen im Café Amiez, trinke einen Kaffee, lese die Zeitung und beobachte die Leute. Am zweiten oder dritten Tag habe ich mich an die eigentümliche Szene aus dem Vorjahr erinnert, doch weder der graumelierte Herr noch die schöne Frau, die ihn geküsst hat, habe ich im Café wieder gesehen. Dafür hängt an der Eingangstüre ein Plakat, das den graumelierten Herrn zeigt. Es wirbt für eine Lesung heute Abend in der Aula Rudi Dadens, Petr Nagens stellt sein neues Buch «Der Kuss der Muse» vor. Ich beschliesse hinzugehen.

•••

Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setze, pflege ich ins Café Amiez zu spazieren um Zeitung zu lesen und in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Seit Wochen litt ich an einem Schreibstau. Die Ideen, die ich habe, reihten sich brav wie Dominosteine ein, doch wenn ich einen antippte, fiel er ohne die anderen zu berühren um. Die Kettenreaktion blieb nach wie vor aus, an guten Tagen kriegte ich bloss ein paar halbgare Sätze zustande. Wann mir der junge Herr das erste Mal aufgefallen war, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Morgen für Morgen betrat er etwa eine Viertelstunde nach mir das Café und setzte sich zwei Tische von mir entfernt hin. Meistens trug er ein modisches Hemd mit einem farblich dazu passenden Pullover. Immer brachte er eine Zeitung aus der Metropole mit und krallte sich beim Eintreten die Regionalzeitung. Obwohl ich ihn schon seit einigen Jahren im Coop, beim Caumasee oder bei den Bergbahnen gesehen habe, besuchte er erst seit kurzem das Café Amiez. Ich konnte ihn nicht richtig einordnen, er war etwa zwanzig Jahre jünger als ich. Vom einfachen Stammferiengast über den beurlaubten PR-Berater bis zum frisch Geschiedenen konnte ich mir viele Geschichten vorstellen, die zu ihm passten. Ich behaupte nicht, dass er mich faszinierte; solche Typen wie er waren mir schon genug untergekommen. Aber mein Interesse hat er dennoch geweckt. Er schien es nicht bemerkt zu haben, aber ich habe wahrgenommen, dass er mich beobachtete. Mittlerweile habe ich den Spiess umgedreht und beobachtete ihn ebenfalls über den Rand meiner Zeitung hinweg. Doch wenn mir das Spiel zu blöd wurde, legte ich wortlos das passende Münz für den Kaffee auf den Tisch. Das Rauchverbot war zwar meiner Gesundheit, nicht aber meiner Kreativität förderlich, und so nahm ich meine kalte Pfeife und verliess das Café Amiez. Vor der Türe zündete ich sie mir jeweils an und atmete begierig den bisher fehlenden Nikotinkick ein und ging danach meines Weges.

Nicht so heute: Der gestrige Tag war wieder einmal für die Füchse gewesen, gerade einen wiederverwertbaren Satz habe ich zu Blatt gebracht. Meine Laune war dem miesen Wetter entsprechend, für einen morgendlichen Zug an meiner Pfeife im Café Amiez würde ich ein Königreich geben! Irgendwann war er hereingekommen und hat sich an seinen Stammplatz gesetzt und beobachtete mich seither über seine Zeitung hinweg. Obwohl das zu unserem geheimen Ritual gehörte, habe ich mich heute beobachtet gefühlt. Dann, wie aus heiterem Himmel, ist diese junge Frau an meinen Tisch getreten und hat ein senffarbenes Couvert hingelegt. Gesehen habe ich sie hier noch nie zuvor. Sie war auch noch nicht im Café, als ich kurz vor neun gekommen bin, da haben nur wie jeden Morgen die drei alten tratschenden Frauen bei ihrem Tee gesessen. Erst als sie mir das Couvert hinlegte, habe ich sie wahrgenommen. Sie konnte die Jahrhunderte ihrer Familiengeschichte nicht leugnen, mit ihrer weissen Haut und dem schwarzen Haar war sie eine typische Walser Schönheit. Einzig ihre braun-grauen Augen erinnerten mehr an ein schottisches Hochmoor denn an den klaren blauen Himmel über den saftigen Alpweiden der Surselva. Nachdem sie das Couvert auf den Tisch gelegt hat, beugte sie sich über meine Zeitung, fasste mir an den Nacken und spitzte ihre Lippen. Ich habe keine Ahnung, wo das Mädchen Küssen gelernt hatte. Sicher aber nicht hier, denn so bin ich noch nie zuvor geküsst worden, obwohl Mädchen vom Land in der Regel etwas vom Küssen verstehen… Nach dem Kuss war mir, als ob sich weisser Nebel über meine Augen schieben würde. Verwundert fuhr ich mir mit der linken Hand übers Gesicht, die rechte hielt noch immer die Zeitung. Von der unbekannten Schönheit war nichts mehr zu sehen. Stattdessen sah ich den jüngeren Herrn mir gegenüber. Auch wenn ich nun versucht war, etwas Unfreundliches zu sagen, konnte ich es nicht, denn ich war mir sicher, dass er die Erscheinung auch gesehen hatte. Als einziger neben mir, der im Café Amiez Anwesenden. Die drei italienischen Bauarbeiter, die sonst jede Frau kilometerweit gegen den Wind bemerkten, stierten stumpf ihren Kaffee an und spielten hilflos mit dem Päckchen Zigaretten oder dem iPhone herum, weil sie nicht Rauchen durften. Sie hatten sich nichts weiteres zu sagen, als das, was sie sich schon auf der Baustelle gesagt haben.

Wo war sie hingegangen? Deutlich spürte ich noch ihre Lippen und ihre Zunge. Ich nahm das Couvert, das sie mir hingelegt hatte und blickte hinein. Mein Herz begann Freudensprünge zu machen, die Gedanken begannen zu kreisen. Ich nahm meine Pfeife und die Zeitung und verliess erregt das Café. Ich war mir nicht sicher, ob ich bezahlt habe, aber das konnte ich morgen noch nachholen. Ich atmete die Morgenfrische vor der Türe ein. Sie breitete sich in meinen Lungen aus und schien gleichzeitig die heisslaufenden Hirnzellen zu kühlen. Ich begann endlich klar zu sehen. Nicht was sich auf der Strasse abspielte, ob nun gerade ein Postauto oder ein blauer Renault vorbeifuhr, stattdessen sah ich, wie sich meine über Wochen aufgestauten Gedanken zu einer klar erkennbaren Landschaft mit Höhen und Tiefen, Weiten und Wäldern formierten. In Gedanken inspizierte ich die sich vor mir ausbreitende Geschichte. In Realität entfernte ich mich vom Café Amiez. Als ich um die Ecke bog, hielt ich für einen Moment inne. Eine Kehrtwendung auf den Absätzen ausführend ging ich zurück, so dass ich durch das grosse Fenster hineinsehen konnte. Ich sah den jungen Herrn, der an meinen Platz getreten war und das Couvert öffnete. Verwundert blickte er auf, faltete den Umschlag zusammen, steckte ihn ein und setzte sich wieder an seinen Platz. Zufrieden zündete ich mir auf dem Heimweg meine Pfeife an. Während ich in meinem Büro mit Blick auf den Flimserstein den iMac hochfuhr, versuchte ich nochmals ihren feurigen und intensiven Kuss zu spüren. Doch der war bereits zu einem ähnlich schönen Bildnis wie ihr strahlendes Walser Antlitz geworden. Ich öffnete eine neue Datei und setzte nach meinem Namen den Titel auf das sonst noch weisse Blatt: «Der Kuss der Muse».







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Sprachbetrachtung: ein bemerkenswerter Satz – 18. Mai
Schriftstellerleben – 17. Mai
Flims, Art Café: beim Lesen – 17. Mai

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zum Lachen – 20. Mai
Sprachbetrachtung: Fischeisch – 21. Mai
Prau Pulté – 21. Mai



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