Morgenfrische
3. April 2010


Hätte man mir vor zwanzig Jahren gesagt, ich würde Max Frischs Tagebuch am Erscheinungstag kaufen, hätte ich gehäuselt aus der Wäsche geschaut. Erstens war mir damals Max Frisch egal, zweitens war ich noch kein Sammler, der möglichst schon am Erscheinungstag die Neuerscheinung haben muss und drittens verstarb damals Frisch, zwei Tagebücher hatte er veröffentlicht, von einem dritten war nie die Rede gewesen. Den Grundstock für meine Frischothek legte ich mir 1998, als junger Erwachsener zu. Damals gehörten die beiden Tagebücher zwar dazu. Darin gelesen habe ich nicht, wohl auch, weil sie mein Vater beschrieben hat, dass er bei der Lektüre erstmals über das Altern nachgedacht hätte, etwas, was man anfangs Zwanzig kaum tut. – Der Streit um die Veröffentlichung des so genannten «Tagebuch 3» am Ostersamstag, weckte die Neugier auf Neues. Wer etwas in einem Feuilleton zu sagen hatte, äusserte sich darüber, ob es in dieser fragmentarischen Form hätte veröffentlicht werden dürfen oder nicht, oder empörte sich über die NZZ am Sonntag, die ihre Rezension mit der Frage «Ist uns schon einmal eine so geistverlassene Banausendebatte untergekommen wie dieses Herumnörgeln an der Publikation von Max Frischs Tagebuch 3?» eröffnet hatte.

Als kleiner Junge, der sich eben das Lesen selber beigebracht hatte, fand ich mich auf Augenhöhe von «Blaubart», «Gantenbein», «Stiller», «Tell für die Schule» und den beiden Tagebüchern in Vaters Büchergestell wieder. Seit zwei Jahren ist Frisch fast zu meinem täglichen Begleiter geworden, literarischer Lebenspartner durch den Burnout und darüber hinaus. Halte, mit ärgerlicher Verspätung von einer halben Stunde, da es Zürichs grösste Buchhandlung nicht fertig bringt, die Neuerscheinungen vor Ladenöffnung ins Regal zu stellen, «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch» in der Hand, druckfrisch, Erstauflage, am Erscheinungstag, in der ersten Stunde nach Ladenöffnung.

ch trete in die Morgenfrische vor dem Orell Füssli. Es ist Ostersamstag, kurz vor zehn Uhr vormittags, an der Zürcher Bahnhofstrasse. Der Blick fällt auf Max Bills Plastik, die man sich gewünscht hatte und dann nicht wollte, als sie da war. Und wo seine Verwandten Bills Asche nach der vermeintlichen Beisetzung auf einem Friedhof verstreut hatten.


frisch_tagebuch3


frühere Einträge
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Frühlingsmorgen auf einem Exoplaneten – 27. März
über das Erzählen – 25. März
Zwischenstationen auf der Reise Guantanamò–Jura – 24. März

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Phantomschmerzen – 3. April
Ostern – 4. April
Nachsatz zu Ostern – 4. April




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