über das Erzählen
25. März 2010


Ein kluger Kopf hat mal geschrieben, dass ein guter Song wie ein guter Freund wäre, ein schlechter Song aber nur nerven würde. Wie aber verhält es sich mit Songs, die wie für einen geschrieben worden sind? Momentan ist es «(I want to) Come Home», die aktuelle Single von Paul McCartney. Der Song läuft im Abspann des Filmes «Everybody’s Fine» mit Drew Barrymore, Kate Beckinsale und Robert de Niro, der einen verwitweten Grossvater spielt, der an Weihnachten seine Familie zu vereinen versucht. De Niro erinnert mich dabei an meinen alten Freund Werner, denn er trägt eine hellgraue Jacke und eine altmodische Brille, zeigt den Leuten ein Foto seiner Familie und erzählt ihnen ungefragt aus ihrem Leben. Fast wie Werner, der als Witwer jede Gelegenheit nützt, um den Leuten ungefragt aus seinem Leben zu erzählen.

McCartney ist in der Regel mehr Musiker denn Texter, dennoch wirkt «(I want to) Come Home» besonders auf textlicher Ebene sehr stark. Der Song beginnt mit der Zeile «For so long I was out in the cold, and I taught myself to believe every story I told.» Es ist weniger die Aussage, dass der Erzähler das Gefühl hat, zu lange in der Kälte draussen gewesen zu sein; ein Gefühl, das jeder wohl ab und zu hat, sondern die Passage ich lernte, jede Geschichte zu glauben, die ich erzählte, die aufhorchen lässt und haften bleibt. Das ist exakt der passende Song zum Motto dieses Blogs, das aus Max Frischs «Mein Name sei Gantenbein» stammt und eigentlich widerlegt werden möchte: Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, so Frisch. McCartney beschreibt einen Witwer, der seine Geschichten für wahr hält, der sich quasi sein Leben erzählend erfindet. Das klingt schon stark nach Lebenslüge. Sollte Frisch also Recht haben, so baut sich jeder eine Lebenslüge auf.

Bevor Frisch zu diesem Schluss kommt, schreibt er aber auch: «Zwei oder drei Erfahrungen, wenn’s hoch kommt, das ist’s was einer hat, wenn er von sich erzählt, überhaupt, wenn er erzählt: Erlebnismuster – aber keine Geschichte». Hier analysiert Frisch quasi McCartneys Protagonisten: Ich lernte, jeder Geschichte, die ich erzählte zu glauben, ist aber auch ein Erlebnis- bzw. ein Verhaltensmuster. Dass Frisch mit dieser Aussage irrt, haben wir weiter oben in diesem Blog schon bedacht. Zumindest in Bezug auf Leute, die ihr Leben mit einer Lebenslüge leben und diese auch glauben, ist zu konstatieren, dass Frisch recht hat.

Weshalb aber erzählen Menschen? Der Mensch ist ein Herdentier, das nicht gerne alleine ist, deshalb erzählt er in Gesellschaft Geschichten. Werner sagt selber, dass er als Witwer zuhause schweigt, deshalb erzähle er so viel, wenn er einen Gesprächspartner hat. Menschen erzählen auch, weil es ihnen schnell langweilig wird und sie Abwechslung, vielleicht aber auch Zerstreuung vom Alltag, suchen. Traumatisierte Menschen führt man in der Therapie zum Gespräch, damit sie ihre Traumata erzählerisch verarbeiten können. Erzählen dient also als Medizin. Menschen erzählen aber auch, weil sie Spass dran haben, weil sie mit einer blühenden Phantasie gesegnet sind. Erzählt wird, wenn man den Leuten etwas auf spielerische Weise beibringen möchte, Jesus mit seinen Gleichnissen beispielsweise. Für alle Arten des Erzählens gibt es literarische Beispiele, weshalb Max Frisch sich irrt, dass sich jeder über kurz oder lang eine Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält, wenn er erzählt. Die Aussage stimmt nicht einmal auf sein Leben bezogen. Frisch hat sich sein Leben nicht erfunden, in seinem ganzem Werk stösst man auf die Grundfrage, wer bin ich? Vielleicht ist die Passage über das Erlebnismuster für ihn eine Art Selbsterkenntnis gewesen.



macca come home


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Zwischenstationen auf der Reise Guantanamò–Jura – 24. März
Frühling – 16. März
Drôle de Guerre – 27. Februar

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Frühlingsmorgen auf einem Exoplaneten – 27. März
Morgenfrische – 3. April
Phantomschmerzen – 3. April





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