Stadtraum Visionen
3. März 2011


Seit Jahren lautet der Hauptvorwurf an die städtische SP, sie wäre nach über zwei Jahrzehnten an der Macht langweilig und ideenlos geworden, um nicht zu sagen verbraucht. Würde der Vorwurf stimmen, hätten die Bürgerlichen wie in jeder weniger konkordanten Demokratie denn auch die Macht erhalten, doch trotz Unzufriedenheit mit der Stadtpräsidentin fand sich in kein bürgerlicher Gegenkandidat bei den Wahlen im letzten Frühjahr. – Nach ebendiesen lancierte die Geschäftsleitung eine parteiinterne Diskussion zum Thema Stadtentwicklung, nun liegen die Resultate im Visionspapier «Zürich 2050» an der Delegiertenversammlung vor. In seiner Würdigung der Visionsentwicklung erinnert Stadtrat André Odermatt, dass zu einer Stadt immer Veränderung gehört, die auch schmerzlich empfundene Umbrüche beinhaltet. Unweigerlich denkt man an die Schleifung der Stadtmauern im 19. Jahrhundert, den Austausch des engen mittelalterlichen Kratz Quartiers mit dem grossstädtischen Fraumünsterquartier in den 1880er-Jahren oder den befürchteten Abriss von 19 Häusern entlang der Neufrankengasse für den Bau der wiederauferstehenden Tramlinie 1.

Interessant an der erarbeiteten Vision ist die Einsicht der Partei, dass Zürich nicht an der Stadtgrenze mit seinen aktuell 385 000 Einwohnern endet, sondern dass die in den 90er-Jahren propagierte Greater Zurich Area mit ihren 1,4 Millionen Menschen und eigentlich sogar die ausserkantonalen Vororte Schaffhausen, Baden, Zug, Luzern, Glarus und in Pendlermassstäben auch Bern , Chur und Basel in den Metropolitanraum Zürich miteinzubeziehen sind. Fünfzehn Jahre nach dem sterbenden Freisinn, der gerne seine Hochburgen an der Goldküste eingemeinden möchte, wagt die SP wie vor hundert Jahren, die soziodemografischen Aspekte der Entwicklung Zürichs, damals von der Klein- zur Grossstadt und heute von dieser zu einer internationalen Metropole wahrzunehmen, zu erkennen und daraus politische Visionen für die kommenden Jahre und Jahrzehnte abzuleiten.

Glücklicherweise dient die heute Delegiertenversammlung dem Einholen der Parteimeinung, denn erschreckenderweise gingen die Gesundheits- und Kulturpolitik im Papier vergessen. Die erschreckende Meinungstendenz, dass das international renommierte, aber elitäre Opernhaus generell zu viel staatliche Gelder erhält oder der unsäglichen Stadiondiskussion gehorchend, dass man bei der Oper für den Fussball sparen soll, schlägt sich auch hier nieder. Wer ausser der SP steht denn noch für Kulturpolitik ein? Dass Zürich eine europäische Kulturmetropoleist, ist nicht zuletzt ein Verdienst der SP, welche die Forderungen der revoltierenden Jugend während der Opernhauskrawalle 1980 mit dem Schiffbau, dem Neumarkttheater, dem Filmfestival oder der Streetparade in den Alltag und das Stadtverständnis der Bevölkerung ummünzen konnte. Es ist der Partei hoch anzurechnen, dass sie die Kultur in der überarbeitetenden definitiven Fassung des Papieres miteinbeziehen wird, denn eine Vision für die städtische Zukunft ohne Kultur trägt weder der aktuellen Kulturstadt, in der Paul McCartney und U2 Songpremieren uraufführen noch der historischen, in der der Dadaismus entstand, die deutschsprachige Theaterelite am Schaupielhaus ein Exil fand und Zürichs Namen untrennbar mit den Biographien von Goethe, Mozart, Picasso, Joyce, Brecht, Frisch und Dürrenmatt verbunden ist, gerecht wird.





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Abreise – 28. Februar
Stadtrivalen – 27. Februar

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Sprachbetrachtung: Baumdiagnose – 7. März
Medienkonferenzen – 14. März


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