Zürich, Hallenstadion
26. März 2012


Vor ein paar Minuten erst brachen mit einem Knall gut zehn rötliche Vulkane am Bühnenrand aus, unterstützt von gelblichen Brüdern vor der Videowand, «Live And Let Die» machte punkto Knalleffekte James Bond alle Ehre, ehe sich mein ehemaliger Facebook-Freund Paul an das bunte Klavier mit dem weissen Pfeil setzte und «Hey Jude» interpretierte. Der Rauch der Pyros verteilte sich in der Halle und reizt die Atemwege. Die Band hat sich zurückgezogen, Roadies schieben das bunte Klavier zurück an den Bühnenrand, während zwei weitere mit grossen Mobs die Bühne fegen. Neben verschwiegenen Banken, pünktlichen Zügen, guter Schokolade, hervorragendem Käse und präzisen Uhren ist vor allem die Reinlichkeit das Sinnbild der heilen Welt der Postkartenschweiz, das höchstens noch überboten wird von ideologisch malerischen Fotos mit leuchtenden Bergmatten, einem dunklen Stall in Blockhausform vor einem ebenfalls dunklem Bergwald, hinter dem sich ein Berggipfel mit schmutzfreiem ewig weissem Schnee in den wolkenlosen blauen Himmel erhebt. Damit alles auch seine Gott gegebene Richtigkeit hat, flattert neben dem Stall die rote Fahne mit dem weissen Kreuz. Schweizerfahne, Schnee, Alpenfirn und blauer Himmel, Schweizer Quartett mit Weltruhm, «Eleanor Rigby», «Let It Be» und «Hey Jude» bereits erklungene erratische Blöcke der Rockgeschichte, «Yesterday» wird mit der Bestimmtheit der nächsten Schweizer Volksabstimmung im ersten oder zweiten Zugabenblock folgen. Die Roadies haben die in zürcherisch blaues Licht getränkte Bühne schon fast fertig gewischt, das Publikum hat den Faden von «Hey Jude» längst aufgenommen und singt aus zehntausend Kehlen einstimmig a capella «Na na na nanananah, nanananah, hey jude», den Choral der Popkultur, der 23 Jahre nachdem Paul hier den Videoclip zu «Figure Of Eight» gedreht hat, erneut die heiligen Hallen in Oerlikon erfüllt, worin Hendrix, Madonna, Queen, Springsteen, die Generalversammlung der Credit Suisse, das Sechstagerennen, die Zeugen Jehovas, U2, der Dalai Lama und die Rolling Stones gastiert haben. Mit einer Standing Ovation rufen die Eidgenossen nach der Zugabe, die Roadies verschwinden samt Mob, das Licht wechselt auf weiss, der zweiten Zürcher Wappenfarbe, und Paul betritt die Bühne – die Schweizer Fahne schwenkend…

Nach dem heren Alpenkranz kann die Schweiz jeweils den Jet d’eau in Genf, den Flimser Bergsturz, die Engadiner Seen, die Kapellbrücke in Luzern oder die Zürcher Altstadt mit ihren Kirchen in die Waagschale legen, Paul greift sich den Höfner Bass, überrascht Krethi und Plethi mit einem oktavierten «The Word», geht nahtlos in «All You Need Is Love» und «She Loves You» über, bevor er mit «Day Tripper» und «Get Back» den ersten Zugabenblock mit einem Quintett von Beatles-Songs beendet. Erneut ist die Bühne in blaues Licht geteilt. Die Tribüne erzittert unter den stampfenden Füssen. Dennoch schauen die ersten Leute auf die Uhr, nach zweieinhalb Stunden scheinen sie zufrieden zu sein. Vor acht Jahren, als es während Pauls Konzert im Letzigrund in Strömen regnete, verliessen die Leute während «Yesterday» das Stadion, um während «Helter Skelter» wieder zurückzukehren. Heute scheinen sich die Zürcher daran erinnert zu haben, dass ein Konzert erst fertig ist, wenn die Saalbeleuchtung wieder angeht. Die Bühne ist bis auf einen einzelnen Roadie leer, der mit einem überdimensionierten Staubwischer – als wäre er in der Schweiz – den Flügel abstaubt…

Paul betritt die Bühne und zieht seine akkustische Martin Gitarre über. Im Halbdunkel folgt ihm Paul «Wix» (I know in German my name means something rude) Wickens die Bühne. Das Matterhorn möchte man auch ohne Zugemüse geniessen. Und genauso, wie der blaue Himmel zum helvetischen Wahrzeichen mit afrikanischem Gipfelgestein gehört, sind die Streicher, wenn auch aus Wixens Synthesizer statt als echtes Streichquartett, für das Gesamtbild des meist gecoverten Rocksongs unabdingbar. Während hernach der Rest der Band die Bühne betritt, fragt Paul rehäugig, ob wir noch Lust auf etwas Rock’n’Roll hätten, was das Publikum frenetisch bejaht.
«So we better rock you than you rock me», antwortet er und wechselt von der akkustischen auf die Gibson Les Paul und stimmt «Helter Skelter», die 68er-Initialzündung des Hardrocks und Charles Mansons Wahnideen an. Danach setzt sich Paul an den helvetisch gereinigten Flügel und sagt in breitestem Zürichdeutsch:
«Mir müönd heigah!». Ein halbes Jahrhundert nachdem die Beatles zur grössten Romanze des 20. Jahrhunderts geworden sind, ist es schlicht unmöglich, den Konzerthöhepunkt von Pauls Konzert zu bestimmen. War es das erratische Evergreen-Quartett? Oder «Maybe I’m Amazed», einer der fünf Songs von «Band On The Run», Pauls tanzender Drummer Abe während «Dance Tonight», die Totenmesse für John und George mit «Here Today» und «Something», der Singalong während «Give Peace A Chance» und «Ob La Di Ob La Da» oder gar Pauls Jamsession über Jimi Hendrix’ «Foxy Lady»?

Nein, der Höhepunkt bei einem Konzert von Paul McCartney, einer lebenden Legende des 20. Jahrhunderts, kann im 21. Jahrhundert nur der Moment sein, in welchem die Grenzen von Raum und Zeit sich miteinander vermischen und sie einem mit ihrer ungeschützten Privatheit für einen Moment den Hauch der Ewigkeit atmen lassen. Das Publikum protestiert, Paul antwortet auf englisch:
«No! We have to go home. And you, you have to go home too!» Nichts zu machen, die Zürcher reagieren auf die Ansage, doch Paul sitzt weiter hinter dem Flügel und schweigt für einen Moment. Nun stimmen auch die Zürcher in das Schweigen ein.
«Mir müönd heigah!» wiederholt Paul in Gedanken versunken andächtig, beinahe träumerisch. Noch einmal ist es der Zauber des Zürcher Dialekts, der sich über das Schweigen legt, ehe Paul in die Tasten greift und mit «Golden Slumbers» den Ausklang anstimmt.

let it be zh


fahne


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