beim Einkaufen
26. Januar 2013


Den 72er zum Bucheggplatz verpasse ich wegen des zu knappen Anschlusses. Ohne hinzuschauen und weiter zu überlegen, steige ich in den nächsten Bus ein. Erstaunt stelle ich fest, dass er die Abzweigung nimmt und die Nordstrasse in Richtung Bahnhof Wipkingen weiterfährt. Der Blick auf den Streckenplan bestätigt, dass der 33er gar nicht über den Bucheggplatz fährt. Im festen Glauben, dass dies allen anderen ausser mir passiert, fahre ich zum Schaffhauserplatz weiter. Dort verpasse ich selbstverständlich das Tram. Noch immer nehme ich die Ereignisse bloss zur Kenntnis und geniesse die Sonnenstrahlen, die den letzten Januarsamstag wärmen. Eine Viertelstunde später als geplant erreiche ich mein Ziel, eine christliche Buchhandlung in Oerlikon. Auf deren Parkplatz steht ein Streifenwagen. Als ich den Laden betrete, herrscht darin dieselbe unstimmige Atmosphäre wie auf der Anreise: Die Verkäuferin steht hinter dem Tresen und schaut in dieselbe Richtung wie eine dunkelhaarige ältere Dame. Vor dem Büchergestell mit den Lebenshilfen sitzt ein junger Mann aus dem nahen Osten. Ihm gegenüber sitzt ein Polizist. Der Schlagstock und die Pistole hängen am Gürtel.
«So ist das bei uns im Christentum, wir gehen aufeinander zu. Wir helfen einander. Die Nächstenliebe ist einer der ältesten christlichen Ideen», spricht der Polizist ruhig, aber bestimmt. Vieles stimmt an dieser Szene nicht, auch mein ursprüngliches Bild eines Islamisten, der im Christenladen randaliert hat, scheint nicht zu passen. Meine Neugier ist geweckt. Ich verziehe mich in den Nebenraum und höre dem Gespräch zu. Ich kann den Araber nicht verstehen. Die Verkäuferin legt Lobpreismusik auf, den Arbaber verstehe ich nun überhaupt nicht mehr. Den Polizisten nur noch bruchstückhaft, er erteilt dem Araber einen Schnellkurs im Christentum, der immer wieder von unpassenden Nebensätzen wie «nun gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus» oder «Sie haben doch Freunde, die kümmern sich um Sie. Ich habe Freunde, das sind aber Wenige, aber auf die kann ich mich verlassen», unterbrochen wird. Eine Dame betritt die Buchhandlung und tritt zum Araber hin. Sie spricht beruhigend auf ihn ein. Der Polizisit unterstützt sie und ermutigt ihn, mit der Frau mitzugehen. Er solle sich etwas ausruhen, weil er müde wäre, morgen würde die Welt schon wieder besser aussehen. Nach ein paar Minuten verlassen die Frau und der Araber den Laden.

Auf einmal sind noch ein weiterer Polizist und eine blonde Polizistin in der Buchhandlung. Zu dritt stehen sie am Tresen und sprechen mit der Verkäuferin. «Er war gar nicht erfreut, als plötzlich die Polizei erschienen ist. Doch Sie haben richtig gehandelt!», sagte der Polizist, der vorhin den Exkurs über das Christentum gehalten hatte. Die Verkäuferin erwiderte etwas. «Diese Nummer ist immer besetzt. Wenn irgendetwas ist, rufen Sie ungeniert an.» Der zweite Polizist fragte etwas, sein Kollege antwortete ihm: «Hinten, bei den Bibeln ist es gewesen.» Und zur Verkäuferin gewandt sagte er: «So wie er sich den Gürtel um den Hals gelegt hat, konnte gar nichts passieren.» Er zeigte ihr, wie es der Araber hätte tun sollen. «Rechnen Sie damit, dass er wieder kommt», sagte der Polizist und erkundigte sich, ob wirklich alles in Ordnung wäre. Die Verkäuferin bejahte, danach verabschiedeten sich die Polizisten von ihr. Auch die andere Kundin verlässt, offenbar schockiert, die Buchhandlung.

Die Verkäuferin bedient mich, als ob nichts gewesen wäre. Welches menschliche Drama sich eben abgespielt hat, kann ich nur erahnen: nach erfolgreicher Flucht vor der Gewalt in seiner Heimat , ist der junge Araber in der Schweiz psychisch kollabiert. Seine Geschichte geht mir nahe und verfolgt mich auf dem Nachhauseweg. Langsam dämmert mir, dass derselbe, der den jungen Moslem in die christliche Buchhandlung geführt hat, damit ihm geholfen werde, dafür sorgte, dass ich den Bus verpasste, und ich nicht miterleben musste, wie der Araber versuchte, sich das Leben zu nehmen. –




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