Erinnerungen an René Burri
20. Oktober 2014


Meine bleibende Erinnerung an René Burri ist vor dem Bürofenster auf den Boden tropfendes Wasser. Wie es dazu gekommen ist, später…

Im Film seines Lebens, den René Burri im Moment vor seinem Tod vor dem inneren Auge gesehen hat, werde ich kaum aufgetreten sein, obwohl er mich fotografiert hat. 1997/1998 leitete Vater die Kampagne für die Wiederwahl von Josef Estermann als Stadtpräsident. Im November oder Dezember 97 wurden die Fotos für die Inseratekampagne gemacht. Das von Hermann Strittmatter ausgearbeitete Konzept sah vor, dass Sepp und Magi Estermann vor dem Brunnen bei der Kantorei stehen würden. Im ersten Inserat alleine, im zweiten mit wenigen Leuten neben sich, im dritten mit vielen um sich herum und im vierten wäre der gesamte Neumarkt mit Menschen gefüllt.

Wir trafen schon nach halb sechs ein, um alles zu rekognoszieren. Um viertel vor sechs traf René Burri, mit Schal und Hut und weissem Mantel gekleidet, ein. Vater besprach mit ihm die letzte Details, danach mussten mein Bruder und ich als Sepp und Magi Komparsen vor dem Brunnen posieren, damit René Burri, auf dem Rahmen eines Fensters der Bilgeristube des Neumarkts sitzend, mit seiner Leica Mass nehmen konnte. Um sechs Uhr standen Sepp und Magi Estermann vor dem Brunnen vor einem fast menschenleeren Neumarkt. Neben ihnen Alain und ich, Mutter und Vater waren auch noch zugegen. Die Zeitpunkte mögen gegenüber der Erinnerung um maximal eine halbe Stunde nach vorne oder zurück verschoben gewesen sein. Als ich im Februar 1998 das Inserat sehen sollte, sagte ich spontan, dass es wirkte, als ob Alain und ich die Söhne von Sepp und Magi wären, da wir direkt neben ihnen standen und unsere Eltern etwas abseits davon. Für das zweite Foto hatte sich schon eine ordentliche Gruppe Leute versammelt, obwohl die Menschenmenge auf dem Inserat noch klein wirken sollte. Beim vierten aber, war der Neumarkt voller Menschen. Neben Estermanns nahmen nahmen mein Bruder und ich immer dieselbe Position rechts von ihnen ein, so dass wir uns auf den Inseraten immer gleich wiederfanden.

Im selben Jahr, 1997, als Vater mit der Kampagne für die Wiederwahl von Sepp Estermann betraut worden war, war er im Juni vom Balgrist in die Büroräumlichkeiten in Wipkingen gezogen, die fünf Jahre später meine eigenen sein sollten. Als ich im September 2002 bei Toolbox zu arbeiten begann, wohnte in der Etage über unserem Büro René Burris Tochter mit Mann und Tochter. Unser Atelier war ein 200 Quadratmeter grosser, quadratischer Raum mit grosser Fensterfront und Oberlicht im hinteren Teil. Ich hatte als einziger meinen Schreibtisch im Schaufenster.

Während den Wipkinger Tagen gab es zwei regelmässige Besucher, die bloss auf einen Schwatz in unser Büro vorbeikamen. Der erste war Peter, Abschlussredaktor bei der «SonntagsZeitung» und später beim «Sonntag», der jeweils die wichtigen politischen Ereignisse mit uns diskutierte. Peter roch immer frisch geduscht und fuhr einen Alfa Sud. Einmal spielten Vater und ich für ihn Chauffeur, als er in einer Garage in der Brunau eine neue Autobatterie abholen musste. Als 2004 Baby-Onyx zur Toolbox-Belegschaft gestossen war, wurde Peter zu seinem Guetzli-Onkel, der ihm jeweils Hundebisuqits brachte. Seine Tochter hatte ebenfalls einen Labradror.

Der andere regelmässige Besucher war René Burri. Meistens trug er seinen weissen Mantel, einen grünen Schal und den grauen Hut. Er war aber auch in schwarzen Hosen und schwarzem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln an meinem Bürofenster vorübergegangen. Manchmal sah ich ihn mit Gepäck die Treppe hinaufkommen oder hinab zu einem wartenden Taxi eilen. Meistens sah ich ihn aber mit Tochter und Enkelin, letztere oft auf ihrem Kindervelo, am Bürofenster vorübergehen. Hineingeschaut oder gar gewinkt hatte er nie. Im Gegensatz zu seiner Tochter, die meistens winkte, wenn sie daran vorüber ging oder Vater und mich sah, wenn sie die Blumen goss.

Wenn René Burri in unser Atelier kam, grüsste er kurz, und ging jeweils direkt weiter zu Vater, dieser offerierte ihm einen Kaffee und danach diskutierten die beiden gegen eine Stunde intensiv miteinander über Paris, die zürcherische und französische Politik und vor allem die Kunst. Am Ende gaben sie einander die Hand, wünschten sich alles Gute und Burri ging, wie er kam, zielstrebig schritt er durch das Atelier und wünschte einen schönen Tag und kehrte in die Wohnung seiner Tochter zurück. Meine Konversation mit ihm beschränkte sich tatsächlich nur auf Grüezi und uf Wiederluege.

Einmal trug Burri seinen weissen Mantel, den grünen Schal und den Hut, er war im Laufe des Nachmittages von Paris gekommen, und weder seine Tochter noch die Familie waren schon zuhause. An einem Morgen wollte Burri wollte zurück nach Paris fliegen, doch wegen eines Streiks in Frankreich war er in Zürich gestrandet und unverrichteter Dinge wieder nach Wipkingen zurückgekehrt. Da er uns nicht bei der Arbeit stören wollte, hatte er nach der Diskussion mit Vater entweder in einem von Vaters Kunstbüchern geblättert oder Fernsehen geschaut, bis seine Tochter nach Hause kam, um das Mittagessen zu kochen.

Meine bleibende Erinnerung an René Burri aber ist vor dem Bürofenster auf den Boden tropfendes Wasser. Ob er je die Blumen seiner Tochter gegossen hat, weiss ich nicht. Wenn er es tat, waren es vielleicht dies ja die wenigen Male, in denen nicht die tägliche halbe Sintflut vor dem Bürofenster heruntertropfte.


rené burri
René Burri, gesehen 2010 von Erling Mandelmann.
Bild: wikipedia
CC BY-SA 3.0)

 

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