von Menschen und Kühnen: Savognin oder die beiden Mütter
11. Oktober 2014


In Savognin ist das Wochenende der Tierschau. Nichts grosses, wie die Ortschaft als Kreishauptort der Talschaft Surses sich grösser gibt, als sie ist klingt Tierschau grösser als sie ist. Gehen die Veia Sulada und danach die Veia Naloz, die schon nach wenigen Häusern zur Veia Grava wird, zur Julia hinab, die wir über die steinerne Brücke von 1682, die Sot Curt überqueren. Danach säumen beidseitig Stände die Strasse, Magenbrot, Süssigkeiten, Chilbikram eben, das lokale Gewerbe präsentiert sich. Ausgerechnet die lokale Drogerie bietet Edelweissschnaps feil. Kosten einen Schluck, schmeckt nicht wirklich.

Vieh hat es auch, der grosse Stier, der in Xavier Kollers neuem Film «Schellenursli» verwendet wird, stammt offenbar von einem hiesigen Bauern. Imposant ist der Filmstar alleweil, dennoch habe ich mein erstes Treffen mit einem solchen doch etwas anders, um nicht zu sagen glamuröser vorgestellt. Doch ob Stier oder Mensch, Filmstar ist Filmstar und sonnt sich auch bei trübem Himmel im Ruhm und lässt sich huldigen. Gwundrig streckt er mir seine Nase hin, die ich ihm streichele, während ich ihm zuraune, dass ich auf einmal Appetit auf ein Beefsteak habe, ob er hier ein gutes Restaurant wisse.

savognin 2014
Savognin mit dem milchig braunem Wasser der Julia und den Gewerbezelten an der Viehschau im Vodergrund, im Hintergrund der vulkanähnliche Piz Toissa.

Wir gehen weiter, in einem Gehege hat es eine handvoll Langhaar Schafe. Keine Stars, und da gerade keine Kinder da sind, die sie streicheln können, sind es bloss Schafe, die lieber auf der Weide als in einem behelfsmässigen Pferch auf Asphaplt wären. In Kürze hat sich einem das Angebot des Marktes erschlossen. Nur gut, sind wir zu Gast hier, als Einheimischer müsste man sich wohl auch heute noch gezeigt haben, damit niemand zu tratschen beginnt.

Viel mehr von Interesse, gerade auch als Höngger, wo es eine Segantinistrasse gibt, ist der Segantini-Pfad durch das Dorf, dessen Stationen wir nun auf der rechten Dorfsteite folgen. Giovanni Segantini lebte von 1886-1894 mit seiner Familie im Haus Peterelli in Savognin. Das war zu der Zeit, als das Bergdorf für Jahrzehnte den Anschluss an die Moderne verlor, weil nach der Eröffnung der Gotthard-Eisenbahn 1882 der Güterverkehr nicht mehr über die seit römischer Zeit wichtigen Nord-Süd-Alpenpässe Julier und Septimer führte. Hier in Savognin hatte Segantini seinen Malstil entwickelt, seine Landschaftsbilder mit den Savogniner Piz Curvér und den vulkanähnlichen Piz Toissa wurden berühmt. Obwohl klar erkennbar, komponierte Segantini seine Berglandschaften. Er malte oft mit der Staffelei im Freien. Unter eine Kopie von Segantinis «Mittag in den Alpen» habe ich in meinem Davoser Feriendomizil mehrere Nächte verbracht.

savognin beide mütter
In diesem Stall schuf Segantini 1889 «Le due madri».

Am meisten fasziniert mich ein Stall neben dem Regionalmuseum von Savognin. In diesem Stall hat Segantini 1889 «die beiden Mütter» gemalt. Viel mehr besagt die bescheidene Tafel vor dem Stall nicht. Eine spätere Recherche bringt immerhin zu Tage, dass das Bild 1891 bei der Trienale di Brera ausgestellt wurde und sich die Kritkiker aufs Beschreiben von Motiv und Technik beschränkt hatten. Erst später wurde dem symbolischen Aspekten grössere Bedeutung beigemessen und das Bild zur Allegorie der Mutterschaft schlechthin erklärt.

Die Komposition zentriert sich um den Lichtschein der Lampe, die von der Decke hängt und zeigt, so nun meine eigene Beschreibung: eine schlafende Mutter mit ihrem schlafenden Baby, ganz klar als Maria mit dem Christkind im Stall erkennbar. Sie sitzt auf einem Stuhl neben einer Kuh, vor der ein Kalb im Heu liegt. Der Deutungen gibt es durch das Motiv weitere, hier nun als Fragen ausformuliert. Segantinis Mutter Margherita Girardi starb, als er siebenjährig war. Symbolisieren Kuh und Kalb Segantinis Empfinden zu seiner Mutter, die er dem Alter wegen als säugende Mutterkuh erlebt hatte? Übersteigert er hier die Mutterliebe, einerseits selber Vater und andererseits durch den frühen Verlust seiner leiblichen Mutter und der hasserfüllten, kurzen Beziehung zu seiner Stiefmutter, die ihm die österreicheichische Staatsbürgerschaft aberkennen liess? Schuf er hier eine Ikone des Landlebens? Und wie wirkt sich die katholische Frömmigkeit auf das Motiv aus?

segantini die beiden mütter 1889 savognin
Giovanni Segantini (1858-1899); Le due madri, Savognin 1889, 157x280, Öl auf Leinwand, Galleria d'Arte Moderna, Milano.
Bild: gemeinfei


savognin

 

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