vielleicht bin ich unschuldig


Nenn mich bitte nicht oberflächlich.
Am Morgen schlafe ich lieber satt Zeitung zu lesen
und die Tagesschau interessiert mich nicht,
die Nachrichten sind eh immer dieselben.
Die Partynews sind viel interessanter,
da kann ich verfolgen, wer wo gewesen ist.
Nach jeder Party folgt der obligatorische Kick,
mit der Suche meines Fotos im Web.

Weisst du, es kommt nur darauf an,
dass man die richtige Marke kauft
und das teuerste Parfum trägt.
Ich muss das schmuckste Handy haben.
Madonna versetzte wieder einen modischen Schlag,
nun muss ich ihre Klamotten auch gleich haben.
Es ist mir egal, wie es den anderen geht,
solange ich meine Feier haben kann.

Vielleicht bin ich unschuldig,
denn ich möchte nur meinen Spass haben.
Das Leben ist viel zu kurz,
um sich mit der Welt auseinander zu setzen
oder sich fremd bestimmen zu lassen.
In meinem Leben sage ich, wo’s langgeht
und lass mich nicht manipulieren.
Vielleicht bin ich unschuldig.

Du siehst die grossen Zusammenhänge,
weisst, wer alles miteinander verbandelt ist.
Du weisst über die neusten Gefahren Bescheid
und wer gerade wen bedroht.
Doch erzähl mir nichts von Krieg
und von Seuchen und Hunger,
das Elend anderswo ist gewiss schlimm,
aber daran ändern kann ich doch nichts.

Weisst du, es kommt nur darauf an,
zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein
und einmal auch strategisch ja zu sagen.
Schliesslich geht es hier um mich.
Ich muss meinen Lifestyle bezahlen.
In einer Welt voller Schlangen und Skorpione
muss man giftiger sein als der Rest.
Die anderen haben halt Pech gehabt.

Vielleicht bin ich unschuldig,
denn ich möchte nur meinen Spass haben.
Das Leben ist viel zu kurz,
um sich mit der Welt auseinder zu setzen.
Wenn du sie nicht besiegen kannst,
arrangiere dich mit ihr so gut es geht.
Darum nehme ich mir, was ich möchte.
Vielleicht bin ich unschuldig.

Ich weiss auch nicht, weshalb mir so viel misslingt
und ich ausgenutzt werde.
Wirkliche Freunde habe ich auch keine,
die sind alle viel zu oberflächlich.
Sie alle leben in einer Schubidujawelt
von Sein und Schein und Glitzer und Glamour.
Mir rinnt mein Mascara in die Augen,
weil einen Moment lang nicht aufgepasst habe.

Weisst du, ich war in allen angesagten Clubs.
wo ich die richtigen Personen getroffen habe.
Ich glaubte, ich wüsste, worauf es ankommt.
Kleidete mich wie sie und sprach ihren Slang,
gab mich als eine der ihren aus.
Ich glaubte den Rest hinter mir gelassen zu haben
und endlich mich selbst verwirklicht zu haben.
Clubbing war mein zweiter Vorname.

Vielleicht bin ich unschuldig,
ganz sicher bin ich das.
Das Leben ist viel zu kurz
um nicht dazu zu gehören.
Wenn nicht, gibt es noch immer Mittel dagegen.
Und sollte ich eine flotte Bauchlandung hinlegen,
kann ich mich noch damit herauswinden,
dass ich vielleicht unschuldig bin.

Als Gott nun Adam und Eva zur Rede stellte und wissen wollte, weshalb sie von der Frucht des Baumes der Erkenntnis gegessen haben, obwohl Er ihnen das verboten hatte, winkte Adam ab und zeigte auf Eva, die ihm schliesslich die Frucht angeboten hatte. Worauf hin auch Eva bestritt, schuldig zu sein. Sie war ja durch die Schlange verführt worden und Adam habe die Frucht geschmeckt. Er solle jetzt nicht so tun, sagte sie und schaute Gott dabei treuherzig an. «Weisst du, vielleicht bin ich unschuldig!», sagte sie. Evas Worte erbosten Gott dermassen, dass Er die Menschen zornig aus dem Garten Eden verbannte. Und so leben sie noch heute auf der Erde und üben sich darin, ihre Hände in Unschuld zu waschen.

 

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vielleicht bin ich unschuldig – 2006  

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