unterwegs in Davos
13. August 2008


Unser Auto, die silberne Ana, haben Werner und ich beim Kirchgemeindehaus parkiert und fahren nun mit dem 4er die Promenade entlang. Bei der Schatzalpbahn steigen gut zwanzig orthodoxe Juden jeglichen Alters in den Bus. Sie bilden von einander unabhängige Zweier- und Dreiergruppen und unterhalten sich leise. Zwei Gruppen Jugendlicher necken sich lauthals in einer fremden Sprache. Am ernsthaftesten unterhalten sich die beiden jungen Männer, die vor uns stehen. Der eine hat einen Talmud in der Hand, offensichtlich diskutieren sie über einen darin enthaltenen Text. Neben ihrer Tracht mit Mantel und Hut haben alle ein gleich besticktes dunkles Kissen unter den Arm geklemmt. Ich beobachte sie eine oder zwei Stationen lang, nach dem Hallenbad sage ich zu Werner, dass ich sie wegen ihrer dunklen Mänteln und Hüte Geheimdienstjuden nennen würde. Eigentlich möchte ich eine Anekdote aus dem Coop in Wiedikon erzählen, wo ein junger orthodoxer Jude einen Betrag von wenigen Franken mit einem Tausender bezahlen wollte, doch Werner unterbricht mich: «Schau, die Frauen tragen alle eine Perücke.» Wir kreuzen zwei orthodoxe Familien auf dem Trottoir. Werner erzählt mir nun seinerseits von seinen Erlebnissen mit orthodoxen Juden. Bei der Dischmastrasse steigen die Jüngeren von der Gruppe aus. Der Bus setzt sich wieder in Bewegung. «Ausserdem gehen die Frauen immer anderthalb Schritte hinter ihren Männern… Bei uns in der DDR war so etwas unvorstellbar, da waren die Frauen gleichberechtigt», erinnert sich Werner. «Das gibt es sonst nur noch in England» entgegne ich unschuldig, während ich aufstehe, «Prinz Philipp geht auch immer anderthalb Schritte hinter Königin Elisabeth her.» Schweigend steigen wir und nach uns die älteren Juden bei der Parsennbahn aus.

Wir sind nicht die einzigen, die an diesem schönen Sommermorgen in die Höhe wollen, sämtliche Billettschalter haben geöffnet, dennoch stehen wir an, mit Glück in einer schnellen Schlange und wir würden noch die nächste Bahn erreichen. An unserem Schalter werden die Gästekarten ausgegeben. Werner hat seine schon, ich muss am Schalter mein Kurtaxenformular umtauschen. Unsere Schlange ist etwas langsamer als die neben uns, aber viel schneller als jene links aussen. Beobachte während des Wartens die Leute um mich herum, den meisten sieht man auf den ersten Blick an, woher sie kommen. Bloss dem ungefähr 50-jährigen Herrn in Anzughose und blauweisskariertem Businesshemd vor mir nicht, er spricht das harte Bündnerdeutsch, seine beiden Begleiterinnen in durchaus wandertauglichem Gerust Sanktgallerisch mit dem hellen, alles überstrahlenden A. Nach kurzer Wartzeit am Schalter.
«Sie wohnen in Monstein?», fragt mich die junge Frau, als sie mein Formular abtippt.
«Ja», antworte ich.
«Ambühl, Monstein, das ist bekannt», strahlt sie mich an. «Richten Sie bitte einen Gruss aus», sagt sie und reicht mir meine Gästekarte. Ich gelobe, Folge zu leisten und habe ihren beriets wieder vergessen, da das erste Klingelzeichen erklingt und Werner und ich noch immer die wartende Bahn erreichen können.

Bis wir abfahren, setzte ich meine völkerkundlichen Studien im Waggon fort. Die Seniorengruppe im Abteil unter uns ist unverkennbar deutsch. Alle sind ordentlich gekleidet, aber wie ihre Autos bieder, Hornbrillen oder silberne Krankenkassengestelle, sowie ein plumper Kleiderschnitt. Die französische Reisegruppe neben ihnen trägt ähnliche Kleidung, die grauen Farbtöne stimmen sogar mehr oder weniger überein. Doch der Schnitt ist insgesamt raffinierter und die Gesichter der Frauen strahlen trotz ihres Alters eine natürliche Eleganz aus, die durch das Makeup betont statt übertüncht wird. Den deutschen Mountainbikern sieht man die Nationalität nicht an, mit ihrer zweckmässigen Ausrüstung sind sie so anonym und untereinander austauschbar wie Sportler dies in der Regel sind.

Ein Vater eilt mit seinen Töchtern zur Bahn, nachdem bereits das erste Signal zur Abfahrt erklungen ist. Turnschuhe, Jeans und Markenpullover über einem hellblauen Hemd mit hochgekrempelten Armen. Der typische Seitenscheitel verrät den Amerikaner, bevor er seinen Mund öffnet. Die Töchter drücken sich in eines der Abteile, das noch Platz hat, der Vater verharrt auf dem Perron. Unterdessen erklingt das zweite Klingelzeichen. Ungeduldig weist der Vater die Mädchen an, zu warten und eilt in die Schalterhalle zurück. Für einen langen Moment geschieht nichts. Dann springen die Töchter «Daddy» rufend aus der Bahn und eilen treppab ihrem Vater nach.

Kaum sind die Mädchen aus dem Wagen gesprungen, schliessen sich dessen automatischen Türen. Die Mädchen erreichen den untersten Absatz, da schliesst sich auch die grüne Metalltüre zur Schalterhalle. Während sich unsere Bahn in Richtung Mittelstation in Fahrt setzt, hüpfen die Mädchen aufgeregt hoch und klopfen an die runde Glasscheibe, das jüngere beginnt gar zu weinen. Wie im Film fahren wir an der Szene vorüber, im linken Fenster sieht man die Mädchen die Treppe hinuntereilen, durch die Wagentür betrachtet klopfen sie ans Bullauge in der Trenntüre, dahinter tauchen die Gesichter ihrer Eltern auf: Der Vater verärgert, dass sie die Bahn noch verpasst haben, die Mutter entsetzt, dass sie von ihren Kindern getrennt ist. Im rechten Fenster sieht man die Kinder verzweifelt rufen und wild gestikulieren. Die Parsennbahn beschleunigt. Ein letzter Blick durch das Rückfenster zeigt, dass sich die Mädchen mit ihrer Situation abgefunden haben und neugierig den Raum zu inspiziren beginnen, den sie die nächsten Minuten für sich alleine haben werden, derweil hat die Bahn schon fast ihre Reisegeschwindigkeit aufgenommen und verschwindet im Tunnel, um die höher gelegenen Häuser von Davos zu unterqueren.



 

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vom Ausfüllen des Kurtaxenformumlars – 12. August
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Strelapass – 13. August
Davos Platz – 13. August
Seilbahn zum Himmel – 14. August


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