Sprachbetrachtung: Nach dem Leben folgt...
4. August 2009


Dienstagmorgen in dieser Pension in La Punt Chamues-ch mit den Namen Haus des Friedens in meiner Ecke sitzend und mein aus Protest gegen den dünnen Kaffee reichlich gestrichenes Confibrot essend und danach genussvoll meine Finger ableckend. Der Hausvater setzt sich zum deutschen Ehepaar am Nebentisch und klärt dieses über die religiösen Verhältnisse des Oberengadins auf:
«Meine Frau und ich gehören der Freien Evangelischen Gemeinde an.»
«Mit solchen Geschwistern habe ich vier leidvolle Jahre verbracht, bis sie in heiliger Inbrunst gegen mich intrigiert haben», denke ich.
«Wir sind hier die lebendige Gemeinde», fährt der Hausvater fort.
«Der typische Freikirchlersatz. Abgrenzung um der Abgrenzung willen», schiesst es mir in den Kopf. «Von der Landeskirche kommt nichts.»
«Alles schon mal gehört. Dennoch, ganz unrecht hat er leider nicht. Mal hören, was er als nächstes erzählen wird», führe ich kauend das inexistente Gespräch fort.
«Die Landeskirche ist so…»
«… tot. Na los, sag es doch einfach», denke ich.
«Sie ist so traditionell», schliesst der Hausvater seine Beschreibung. Nun bin ich zwar wach, aber streiten möchte ich mich dennoch nicht, weshalb ich mich nicht einmische und verstimmt schweige. Fühle ich mich als Reformierter angegriffen oder ist es das falsche Sprachbild, das mich als Autor ärgert? Oder ist es nicht doch eher die gelebte Pseudofrömmigkeit der Hauseltern, die dünnen Kaffee und wässerige Suppe servieren und für jedes Extra abkassieren, die mich zur Weissglut treibt?

Lebendig bedeutet lebend, am leben oder lebhaft, munter, voller leben sein, nicht tot; dynamisch, lebhaft, rege, temparentvoll oder quirlig sind einige Synonyme. Schon im Althochdeutschen hiess es lebendig, mit der Zeit kam es zu einer Lautverschiebung, heute wird die zweite Silbe betont. Ausser man spricht Schweizerdeutsch.

Traditionell bedeutet, einer Tradition entsprechen, auf ihr beruhen oder hermkömmlich. Synonyme gibt es gut zwei Dutzed, darunter alltäglich, anerkannt, bewährt, althergebracht, erprobt, gebräuchlich, gewöhnlich, klassisch, konservativ, normal, regulär, tradiert oder konventionell. Die Herkunft ist französisch.

Betrachten wir noch das korrekte Antonym zu lebendig, tot, erfahren wir, dass es mittel- und althochdeutsch tôt hiess und von einem germanischen Partizip zu sterben (= gestorben) stammt. Tot bedeutet in einem Zustand zu sein, in dem Lebensfunktionen erloschen sind, Lebewesen nicht mehr existieren, Körper sich nicht mehr weiterentwickeln können; aber auch keine Frische und Lebendigkeit aufweisen, Objekte nicht nutzbar sind oder ausgedient haben. Die Synomyme belegen die Wortbedeutung, und würden so manche Kirche treffend beschreiben. Aber eben, die Engadiner Landeskirche ist gemäss dem Hausvater nicht tot, nur traditionell.

Freikirchen definieren sich oft über das Argument der so genannt lebendigen Gemeinde. Die katholische Kirche ist des Teufels, bei den Reformierten ging das Erbe der grossen Reformatoren über die Jahrhunderte verloren, weshalb sich die evangelischen Freikirchen quasi als die Reformierten der Reformierten betrachten. In Tat und Wahrheit ist ihnen der Katholizismus mit seiner Heiligenverehrung ein Aberglaube und ein ebensolcher Gräuel wie die liberale evangelische Landeskirche, die Frauen predigen lässt und unter gewissen medizinischen Umständen Abtreibung sowie Sex vor der Ehe befürwortet und homosexuelle Paar segnet. Kurz, die Landeskirchen sind schlicht zu unbiblisch.

Diese Selbstbeweihräucherung als wahrer biblischer Hort gehört ebenso zu Spiel wie der reformierte Standpunkt der Toleranz und die katholische Überzeugung, den einzig selig machenden Weg ins Himmelreich zu kennen. Theologisch lässt sich nicht begründen, weshalb sich christliche Geschwisterkonfessionen – die per Definiton dasselbe glauben, nämlich dass Jesus der Weinstock ist und sie die einzelnen Traubenbeeren – sich untereinander als grössere Falschgläubige betrachten als die Taliban; und oft die Oekumene – wenn verschiedene christliche Denominationen miteinander Gottesdienst feiern (und nicht etwa der interreligiöse Dialog zwischen Juden, Christen, Moslems und Buddhisten) – als grössere Sünde betrachten, als wenn sich ein Taliban mit einer erklärten Atheistin fortpflanzt. Und dennoch verdammen sich die Vertreter der einzelnen christlichen Kirchen gegenseitig mit einer heiligen Inburnst, die ihresgleichen sucht.

Nimmt man also den Hausvater beim Wort, ist seine Freikirche lebendig, und die Landeskriche eben nicht tot, aber traditionell. Ich weiss nun nicht, ob ich es gemäss dieser Auffassung als tröstlich empfinden soll, dass nach dem Leben die Tradition folgt.
«Nein, das Engadin ist reformiert», klärt der Hausvater die überraschte Deutsche auf. «Vor hundert Jahren, da war es noch anders. Da sind Missionare von Dorf zu Dorf und Hof zu Hof gezogen und haben das Evangelium gepredigt», fuhr der Hausvater wehmütig fort.
«Ja, das waren noch Zeiten», spricht die Deutsche ehrfürchtig.
«Heute reicht es den Berlusconis und Armanis dieser Welt nicht mehr, ihre Ferien in St. Moritz zu verbringen», ärgert sich der Hausvater, «sie müssen ihre überdimensionierten Villen bis hier nach La Punt hinab bauen und so unsere malerischen Dörfer in den Agglomerationsgürtel von St. Moritz zwingen.»
«Heute braucht es wieder eine Erweckung…», meint die Deutsche.

«Erweckung ist ein gutes Stichwort», denke ich. Für dass es frühmorgens ist, habe ich bereits zu viel gehört. Bis zum Aufbruch bleibt noch etwas über eine halbe Stunde Zeit. Ich verabschiede mich von Werner und begebe mich zum nahen Bahnhof hinab, wo ich einen Kaffee trinke, der diesen Namen auch verdient.




 

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