im Kantorat
19. November 2015


Immer wieder werde ich gefragt, was ich im Kantorat Grossmünster arbeite. Neben der Bearbeitung von Reiseabrechnungen scanne ich Noten, ganze Orchestersätze, beispielsweise das Weihnachtsoratorium «El Pessebre» von Pablo Casalls, das Kantor Daniel Schmid nächstes Jahr mit der Aargauer Kantorei aufführen möchte. Oder ich setze ihm nach dem Scannen der Noten im InDesign mehrstimmige Notensätze zu einzelnen Instrumental- oder Gesangsstimmen zusammen und drucke sie, damit er mit den Musikern und Sängern des Collegium Musicum und Collegium Vocales des Grossmünsters die Kantaten «Ein hoher Tag kömmt» und «Ergreifet die Psalter, ihr christlichen Chöre» von Gottfried August Homilius proben kann.

Die diesjährigen Adventskonzerte stehen bevor, das Oratorium «Judas Maccabäus» von Georg Friedrich Händel. Seit Tagen nun arbeite ich als Kopist übertrage aus Daniels Schmids Dirigentenpartitur, die er mit eigenen Dynamikzeichen versehen hat, die Bogenstriche, also Frosch und Spitze, und die Akzente, also die Marcati, Crescendi, Fortissimi und Pianissimi. Dies in den Stimmen der Streicher: Violinen, Violas, Celli und Bass. Mit etwas mehr Übung käme ich schneller voran, Daniel ist sicher drei mal so schnell wie ich – und er kennt das Werk. Auch hat er Kontrabass gespielt und weiss, wie sich Bogenstriche auf den Klang auswirken. Ich kann mir nichts darunter vorstellen und kann nur die Zeichen übertragen. Nach einer halben Stunde beginnt jeweils das Satzbild vor meinen Augen zu tanzen und ich muss pausieren. Bei den Angaben für der Kontrabass sehe ich klarer, der Bassist ist ein ausgebildeter Jazzmusiker und spielt nicht nach Noten, sondern Tabulatur, diese kenne ich von der Gitarre her und so verstehe ich, was ich ihm notiere. Bei einem Zweifelsfall kann ich in einer digitalisierten Originalpartitur von Händel nachschauen. In Händels handgeschriebenen Partitur zu blättern macht mir grosse Freude. Noch schöner wäre es, die Seiten statt mit einem Mausklick mit den Fingern zu wenden. Aber in Zeiten des Internets ist man mit wenig zufrieden.

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Kantor Daniel Schmid im Einsatz.

Kann ich Notenlesen? Im Prinzip ja, ich hatte lange genug Musikunterricht, obwohl ich nicht fähig bin, etwas ab Blatt zu spielen oder zu singen. Dennoch hilft mir der Musikunterricht mich zu orientieren, wenn ich mal in einer Zeile verrutsche und keine Taktzahlen in der Nähe stehen. In diesen paar Tagen als Kopist habe ich Radieren gelernt, nicht nur wegen meinen Fehlern oder weil ich einen Bogenstrich irrtümlich eine Viertelnote zu weit links oder rechts geschrieben habe, sondern weil ich die Noten zunächst von den Angaben der letzten Aufführungen zu reinigen habe.

Ausser Daniel, der grosse Freude an meiner Arbeit hat, und erwähnt, dass er diese Arbeit früher in Nachtschichten erledigt hätte, sagen mir alle Kollegen, dass sie meine Arbeit mangels musikalischen Kenntnissen niemals machen könnten, aber auch Vater. Ja, er kann keine Noten lesen. Aber, so sage ich ihm, als Grafiker und gelernter Schriftsetzer, der ein Typografie- und Schrift-Experte ist, könnte er meine Arbeit sicher auch machen, da es sich um das Übertragen von Zeichen in einer Art Zeichensprache bzw. Schriftsystem handelt. Mangels musikalischer Ausbildung würde er zwar nicht verstehen, was er tut, aber er käme durch seinen beruflichen Hintergrund möglicherweise gar schneller voran als ich mit meinen musikalischen Kenntnissen.

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